Zwölf Jahre lang war er Weltmeister im Schwergewicht, mehr als elf Jahre blieb er unbesiegt. Nun hat der Ukrainer, der zuletzt zweimal verlor, den Rücktritt vom Profiboxen bekannt gegeben. Portrait eines Menschen, der schon während seiner Karriere viel mehr war als ein Leistungssportler

Wer am Ring saß oder vor dem Fernseher, wenn Wladimir Klitschko boxte, der wird sie nicht vergessen, diese markanten Gitarrenriffs der kalifornischen Alternative-Rockband Red Hot Chili Peppers, die durch die Arenen dieser Welt donnerten, wenn sich der König des Schwergewichts auf den Weg ins Seilgeviert machte. „Can’t stop“, diesen Song seiner Lieblingsband hatte der Ukrainer für seinen Walk-in gewählt. Am Donnerstag um 10.16 Uhr hat er aufgehört, dem Refrain Folge zu leisten. Mit einer kurzen Pressemitteilung gab der 41 Jahre alte Wahl-Hamburger das Ende seiner professionellen Boxkarriere bekannt, das er am späten Mittwochabend im Kreis seiner engsten Vertrauten und Mitarbeiter der Klitschko Management Group (KMG) endgültig beschlossen hatte.

„Ich habe mir bewusst genügend Zeit zur Entscheidungsfindung genommen. Ich habe als Amateur und Profi alles erreicht und kann jetzt gesund und zufrieden die spannende Karriere nach der Karriere angehen. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich eine so lange und erfolgreiche sportliche Laufbahn haben würde. Ich danke allen von Herzen, die mich dabei immer unterstützt haben. Vor allem meiner Familie, meinem Team und meinen vielen Fans“, hieß es in der verbreiteten Erklärung.

Tatsächlich hatte Klitschko nach seiner K.-o.-Niederlage gegen den Briten Anthony Joshua (27) am 29. April vor 90.000 Fans im Londoner Wembleystadion bis zuletzt die Optionen für einen vertraglich zugesicherten Rückkampf abgewogen. Die T-Mobile-Arena in Las Vegas war für den 11. November bereits geblockt worden. Mindestens 25 Millionen Euro Kampfbörse hätte der 1,98-Meter-Hüne verdienen können. Letztlich jedoch war es die fehlende Motivation, sich noch einmal zwölf Wochen in die nötige sportliche Höchstform zu quälen, die Klitschkos Entscheidung herbeiführte.

Karriere begann im November 1996 beim Hamburger Universum-Stall

„Wladimir hat immer gesagt, dass er aufhören würde, wenn die Motivation nicht mehr da ist. Deshalb ist das jetzt definitiv der richtige Entschluss. Er darf auf eine einzigartige Karriere zurückblicken“, sagte Klitschkos Manager Bernd Bönte, der die Karriere des früheren Dreifachweltmeisters seit der Jahrtausendwende begleitet und vor allem die Phase der Selbstständigkeit nach der Loslösung vom Hamburger Universum-Stall im Jahr 2004 maßgeblich mitgestaltet hatte.

Bei Universum hatte an einem nasskalten Novemberabend im Jahr 1996 die Profilaufbahn des Ausnahmetalents begonnen, das kurz zuvor in Atlanta olympisches Gold gewonnen hatte. Gemeinsam mit seinem fünf Jahre älteren Bruder Vitali war Klitschko von Universum-Chef Klaus-Peter Kohl verpflichtet worden, der schon damals überzeugt davon war, die beiden zu Weltmeisterehren führen zu können. Der 73-Jährige reagierte am Donnerstag mit Hochachtung. „Ich habe immer gesagt, dass die Brüder kluge Boxer sind. Die Entscheidung für die Karriere nach der Karriere halte ich für absolut richtig, auch wenn ich Wladimir einen Sieg im Rückkampf zugetraut hätte. Er hat aber alles erreicht und muss niemandem mehr etwas beweisen“, sagte Kohl.

Das stimmt zweifelsohne, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Karriere des in 69 Profikämpfen 64-mal siegreichen Sohns eines hochrangigen Sowjetoffiziers schon viel früher hätte beendet sein können. Im April 2004 lag Klitschko nach seiner K.-o.-Niederlage gegen den US-Amerikaner Lamon Brewster in Las Vegas im doppelten Wortsinn am Boden. Ein Jahr zuvor hatte er in einer Mischung aus Überheblichkeit und Unreife seinen im Oktober 2000 gewonnenen WBO-WM-Titel an den Südafrikaner Corrie Sanders verloren. „Damals dachte er, er wäre unbesiegbar, keiner könnte ihn stoppen“, erinnert sich Vitali.

Es war in jenen Monaten vor dem Sanders-Kampf, in denen Klitschko begann, sich von der maschinenhaften Fokussierung auf den Sport, die seinen Bruder antrieb, abzulösen und anderen schönen Dingen des Lebens zuzuwenden. Er begann mit Wind- und Kitesurfen und entdeckte sein Interesse für die Schauspielerei. Er spielte Schlagzeug, parlierte flüssiges Englisch mit amerikanischem und perfektes Deutsch fast ohne Akzent und fand Gefallen daran, sich mit den Schönen und Mächtigen zu umgeben. Heute zählt er Menschen wie den Hollywood- und Politik-Star Arnold Schwarzenegger, McFit-Gründer Rainer Schaller oder Telekom-Geschäftsführer Hagen Rickmann zu seinen Freunden. Anders als sein Bruder, der sich während der Orangen Revolution 2004 in der Ukraine bereits stark politisch engagierte und heute Bürgermeister von Kiew ist, hatte der Jüngere nie gesteigertes Interesse an einem politischen Amt, sondern war eher von Wirtschaftsthemen fasziniert. Aber als Unesco-Botschafter Schul- und Bildungsprojekte für Kinder in Afrika, Asien und Südamerika zu unterstützen, das lag ihm schon immer am Herzen.

Dennoch war es der Sport, der ihn weltweit bekannt machte und seinem Leben über viele Jahre Struktur gab. Vitali, selbst jahrelang Schwergewichtsweltmeister, galt als der Härtere der Brüder, Wladimir dagegen als der Talentiertere. Nach der Brewster-Niederlage riet der Ältere zum Karriereende, der Konflikt wird eindrucksvoll in der Dokumentation „Klitschko“ beschrieben, die 2011 in die Kinos kam. Wladimir, der sich nach der Pleite gegen Sanders von seinem 2014 verstorbenen Cheftrainer Fritz Sdunek und kurz nach dem Brewster-Debakel auch von Universum getrennt hatte, stand allein da, weil sich auch Sdunek-Nachfolger Emanuel Steward abwandte. In dieser Phase jedoch fand er seinen Kampfgeist und die Willenskraft, es allen Kritikern zeigen zu wollen.

Der 24. September 2005 steht deshalb für den Wendepunkt in der Karriere des promovierten Sportwissenschaftlers. An jenem Abend stellte er sich in Atlantic City (USA) dem als neuer K.-o.-König gepriesenen Nigerianer Samuel Peter in einem WM-Ausscheidungskampf. Viermal musste Klitschko zu Boden, gewann aber dennoch nach Punkten. Mit dem Sieg räumte er zugleich auch mit einem Vorurteil auf, das sich bis heute hält, aber schon damals Unsinn war: Dass er ein „Glaskinn“ habe und keine Nehmerfähigkeiten. Was stimmt, ist dies: Klitschko war im Rückwärtsgang verwundbar, weshalb er in der Folge auch seinen auf Vermeidung von Risiko angelegten Kampfstil perfektionierte, mit dem er zwar viele nach blutiger Action geifernde Boxfans langweilte, sich selbst aber vor schweren Treffern mit möglichen Langzeitschäden schützte.

Er scheute vielleicht das Risiko, nie jedoch einen Gegner. 2006 wurde er wieder Weltmeister, vereinigte im Juli 2011 in Hamburg auf der Höhe seines Schaffens gegen den Briten David Haye drei WM-Titel, obwohl sein Vater im Sterben lag. Im Oktober 2012 steckte er mit dem Tod seines Trainers Steward einen weiteren Schicksalsschlag weg. Klitschko bescherte seinem TV-Exklusivpartner RTL zweistellige Millionenquoten, mit seinem Bruder wurde er zum Liebling einer Nation, die die Ukrainer emotional adoptiert hatte. „Die Liebe, die uns die Fans in Deutschland gegeben haben, bedeutet mir sehr viel“, sagte er einmal, „wir sind mit offenen Armen empfangen worden. Das Boxen hat uns das ermöglicht.“

Achtmal füllte Klitschko mit seinen Kämpfen Fußballstadien in Deutschland, England und der Schweiz, und er blieb auf dem Thron sitzen, bis er im November 2015, nach mehr als elf Jahren ohne Niederlage, vom Briten Tyson Fury entzaubert wurde. Diese Schmach tilgte er jedoch mit dem couragierten Auftritt gegen Joshua – in einem Kampf, den viele Begleiter neben der Schlacht mit Peter 2005 als „karriere-definierend“ betrachten.

Stellvertretend für die weltweite Boxszene reagierten Joshua und sein Promoter Eddie Hearn mit einer Mischung aus Enttäuschung und großem Respekt für die Entscheidung. „Ich hätte sehr gern den Rückkampf gemacht, aber ich kann Wladimirs Entscheidung verstehen und ziehe den Hut vor dem, was er für das Boxen getan hat“, sagte der WBA- und IBF-Champion. Hearn hob Klitschkos Bedeutung für den Sport hervor. „Er war über viele Jahre ein Vorbild an Disziplin, sportlicher Klasse und guten Manieren, und er verlässt das Boxen als Held“, sagte er.

Joshua wird zugetraut, die große Lücke im Schwergewicht zu schließen

Für den Vater einer zweieinhalbjährigen Tochter, der sich als Weltbürger versteht und noch mehr Zeit in den USA, der Heimat seiner Partnerin, der Schauspielerin Hayden Panettiere, verbringen wird, verschiebt sich der Fokus nun auf seine nächste Karriere. Als Unternehmer will Klitschko mit seiner KMG die Digitalisierung des Mittelstands vorantreiben, aber auch andere Sportler und Künstler in ihren Karrieren unterstützen. Zudem wird er als Dozent im 2016 von ihm initiierten Studiengang „Change and Challenge Management“ an der Schweizer Eliteuniversität St. Gallen andere Menschen auf ihrem Weg zwischen zwei Karrieren begleiten. Ein weiterer Lieblingssong wird ihn dabei leiten. „Just can’t get enough“ von Depeche Mode ist auf dem Anrufbeantworter seines Mobiltelefons zu hören. Er kann nicht genug bekommen. Vom Leben, nicht vom Boxen.