Hamburg. Das Abendblatt hat über viele Monate hinweg Schüler begleitet, die sich auf den Unterricht in einer Regelschule vorbereiten.

Sie haben einen großen Schritt geschafft. Neun Schüler haben ihren ersten Schulabschluss gemacht, obwohl die Bedingungen für sie alles andere als einfach waren. Die Mädchen tragen bei der Abschlussfeier festliche Kleider, die Jungs Anzug oder Hemd mit Krawatte. Und unterscheiden sich damit so sehr von ihrem lässigen Alltagslook, dass man zweimal hingucken muss.

Simone Schachtschneider (47) und Barbara Dorow (39) sind stolz auf ihre Schülerinnen und Schüler aus der Internationalen Vorbereitungsklasse (IVK), die sie bis zu zwei Jahre lang unterrichtet haben. Und auch ein wenig traurig, dass sie diese jungen Leute jetzt ziehen lassen müssen. Aber ihr Auftrag ist erledigt. Die weiteren Schritte machen diese jungen Leute ohne sie. Im Sommer übernehmen die beiden Lehrerinnen der Stadtteilschule am Hafen eine neue IVK. Sie sind geübt darin, Kinder mit nicht deutscher Herkunft zu unterrichten.

Aus aller Herren Länder

Im August 2015 übernahmen Schachtschneider und Dorow die Klasse. Mit Schülern aus vieler Herren Länder, keineswegs nur Flüchtlinge: Iran, Griechenland, Polen, Eritrea, Albanien, Somalia, Afghanistan, Korea, Brasilien, Ghana. Von den 16 Jugendlichen, die damals anfingen, sind nur wenige noch dabei, dafür kamen viele andere dazu.

Lehrer müssen flexibel bleiben, wenn alle paar Wochen ein Neuzugang kommt. Wieder jemand, der am Anfang im Unterricht kein einziges Wort versteht. „Es kann nicht für alle das gleiche Lernziel geben“, sagt Simone Schachtschneider.

Manche Schüler wurden zwischenzeitig abgeschoben, andere haben die Schule gewechselt oder nur die Klasse, manche waren nur ganz kurz da. Erfolge werden da nicht so schnell sichtbar. „Unsere Aufgabe ist es, den Zeitraum, den sie haben, so gut zu füllen wie möglich“, sagt Schulleiterin Birgit Singh-Heinike. „Wir tun alles, um die Schüler zu unterstützen.“

Mützen oder Basecaps müssen abgelegt werden

Nicht jeder Jugendliche ist freiwillig in Deutschland. Meist war es die Entscheidung der Eltern, die vor Kriegen oder politischen Krisen fliehen mussten. „Die Kinder müssen sich mit der Situation dann abfinden“, sagt Klassenlehrerin Simone Schachtschneider. Nicht jeder Schüler begreife seine Chance zu lernen: „Bildung ist immer ein Angebot. Man muss es annehmen wollen. Als Lehrer darf man nicht persönlich nehmen, wenn es einer nicht annimmt.“

Aber die allgemeinen Spielregeln machen sie in der Klasse immer wieder klar: Mützen müssen während des Unterrichts runter vom Kopf. „Kapuze ist okay“, sagt Schachtschneider, Basecap oder Mütze nicht. Die Lehrer wollen den Kindern in die Augen gucken können.

Ihre Kollegin Barbara Dorow stammt aus der Slowakei und lebt seit 2004 in Deutschland, seit 2011 in Hamburg. Sie hat Germanistik und Philosophie studiert und war vorher Erzieherin. „Ich würde gern Vorbild sein, ich weiß, was es heißt, die deutsche Sprache zu erlernen“, sagt die Deutschlehrerin.

Wörter zum Vergleich

Was deutsche Schüler aus dem Fremdsprachenunterricht kennen, läuft hier andersrum. Die Lehrerin schreibt einige neue Wörter an die Tafel: die Sprache/die Sprachen, vergleichen, der Text/die Texte, bekannt, suchen, das Wort/die Wörter.

Als Mohammed (*) aus Afghanistan noch neu ist in der Klasse, hat er ein Wörterbuch vor sich liegen: Deutsch– Dari (Persisch-Paschtu). Er blättert darin und übersetzt die Wörter von der Tafel auf Dari. Und dann heißt es Vokabeln büffeln. In der Klasse herrscht meist eine ruhige, konzentrierte Arbeitsat­mosphäre. Jannis, der griechische Schüler, darf sein Smartphone als Lexikon benutzen. Ein anderes Mal verteilt Barbara Dorow Arbeitszettel. Wörter, die die Schüler nicht kennen, sollen sie im Wörterbuch nachschlagen und in ihr Vokabelheft eintragen. Doch für Abush aus Eritrea gibt es kein Wörterbuch. Tigrinya, seine Muttersprache, ist keine besonders gängige Sprache. Das macht das Lernen für ihn schwierig.

Wie unterschiedlich ihr Vorwissen ist, zeigt sich auch bei der Arbeit mit dem Atlas. „Ihre Erfahrung damit ist unterschiedlich“, sagt Schachtschneider. Manche haben früher gute Schulen besucht, hatten gute Zensuren, andere nicht. Die Heterogenität in Bezug auf die Lernkenntnisse, die unterschiedlichen Lernniveaus gehörten zu den größten Herausforderungen beim Unterricht, sagen die Lehrerinnen übereinstimmend. Teilweise hätten die Jugendlichen beim Lernen auch lange Unterbrechungen durch Flucht erlebt.

Und für alle stand Deutschland zuvor nicht im Zentrum. Aufgabe an einem Tag: Die Schüler sollen lernen, welche Informationen sie aus dem Atlas beziehen können. Woran man erkennt, welche deutschen Städte Großstädte sind, wie die Bundesländer und deren Hauptstädte sowie die großen Flüsse heißen, welche Meere an Deutschland angrenzen, welche Inseln zum Land gehören. Woher sollen sie es auch wissen? Mohammed zum Beispiel, der zu dem Zeitpunkt erst eineinhalb Wochen da ist, wirkt recht ratlos. Bislang war Deutschland eben nicht sein Zentrum.

Oder eine Unterrichtseinheit zu den Uhrzeiten: „Ich habe hier fünf verschiedene Differenzierungen, deshalb müssen viele oft Einzelarbeit leisten“, sagt Dorow. Sie müsse in ihrer Freizeit sehr viel Zeit für die Vorbereitung der individuellen Arbeitsblätter investieren, sagt sie.

Gemeinsames Eislaufen

Einmal steht gemeinsames Eislaufen auf dem Plan: Die Klasse will auf die Schlittschuhbahn in Planten un Blomen. Eislaufen mit Jugendlichen, von denen etliche noch nie Schnee gesehen hatten, ehe sie nach Deutschland kamen? Es sind vorsichtige Schritte auf das Eis. Mohammed hat zum ersten Mal Schlittschuhe an den Füßen. Amissah aus Ghana traut dem Frieden nicht und hangelt sich lieber nur am Geländer entlang. Die Mädchen drehen schneller ihre Runden. Nur eines hält sich krampfhaft am Geländer fest und guckt lieber doch nur zu. Andrzej aus Polen und Carlos aus Portugal scheinen Naturtalente zu sein, sie haben den Dreh schnell raus und flitzen übers Eis.

Manchmal sind nicht nur die Schüler neu, sondern auch Lehrer. Wolfgang Kastens beispielsweise unterrichtet Arbeit und Beruf. Der 65-Jährige zeichnet einen Kasten auf die Tafel und erklärt dann seinen Namen: „Kasten mit -s hintendran.“ Auch Branko ist neu in der Klasse. Es ist sein zweiter Tag an der Schule. Der junge Serbe war vorher in einer Unterkunft in Wilhelmsburg unterrichtet worden, jetzt besucht er die IVK und lebt auf St. Pauli.

Wolfgang Kastens bittet die Schüler, sich ein Namensschild zu basteln – zum gegenseitigen Kennenlernen. Es gehen Minuten ins Land, bis alle so ein Schild vor sich auf dem Tisch haben. Mal steht es nicht, mal ist die Schrift zu unleserlich, und sie machen ein neues. „Ein Name allein ist nicht viel“, sagt Kastens, „Namen sind Schall und Rauch.“ Er überreicht den Schülern zwei Zettel mit Fragen, die sie zu einem Steckbrief ausarbeiten sollen. Für den Ordner gebe es eine Note, kündigt er an. Es klingt freundlich, aber auch ein bisschen drohend. Zwei der Fragen im Steckbrief lauten: Worauf bin ich stolz? Wofür werde ich häufig gelobt? „Das ist nicht so einfach zu beantworten für die Schüler“, sagt Kastens. „Auch für mich nicht. Gelobt werde man als Lehrer nicht viel.“

Von wem auch? Letztens sei er in Wilhelmsburg, wo er lebt, auf dem Markt gewesen, um Fisch zu kaufen. „Der beste Lehrer in Hamburg“, habe der Verkäufer plötzlich gerufen, erzählt Kastens. „Ja, da muss ich mir mein Lob abholen“, sagt der Lehrer, der schon pensioniert ist, aber noch freiwillig unterrichtet, einfach weil es ihm Spaß mache.

Branko sorgt sich um seine Jogginghose

„Lob, was ist Lob?“, fragt er in die Klasse. Keiner kann die Frage beantworten. Kastens klopft Amissah auf den Rücken. Carlos hat die Geste falsch verstanden. „Amissah ist ein Lob?“, fragt er. „Nein, er ist nicht das Lob, sondern so kann man Lob auch ausdrücken“, sagt der Lehrer.

Abush hat Schwierigkeiten, den Steckbrief auszufüllen, oder vielleicht auch einfach keine große Lust und fragt, „Kann ich das zu Hause machen?“ Kastens ist gnädig: „Es strengt euch an, weil es so viel Deutsch ist, oder?“, fragt er und ist einverstanden. Abush und Branko bekommen eine schlichtere Aufgabe, aber auch den Auftrag, die Zettel wirklich nachzuarbeiten und in der neuen Mappe einzuheften.

Die übrigen Schüler blättern in Lexika oder scrollen sich durch ihre Handys, um Wörter zu übersetzen, die sie nicht verstehen. „Was heißt BISHER?“, fragt Amissah. „Bis-her“, korrigiert Kastens. Es ist ein mühevolles Lernen.

Kastens gibt auch Werkunterricht. In der Holzwerkstatt steht eine Laubsägearbeit auf dem Stundenplan. Der Lehrer macht vor, wie man die Sägeblätter einspannt. Branko sitzt weit ab vom Tisch. Er möchte nicht, dass seine schwarze Jogginghose Sägestaub abbekommt, aber so lässt es sich nicht gut arbeiten. Unter Protest und nach mehrmaliger Aufforderung nimmt er immerhin seine Basecap ab. Nicht ohne auf dem Bildschirm seines Handys den Sitz der Frisur zu checken. „Es gibt anfangs immer eine Aversion gegen handwerkliche Arbeit“, so Kastens’ Erfahrung. „Es dauert, man muss sich anstrengen, bis man ein Erfolgserlebnis hat. Und dann muss man auch noch ein bisschen Staub aushalten.“

Die Jungs bekommen Bartwuchs

Im Lauf der Monate verändern sich die Jugendlichen auch äußerlich. Amina aus Afghanistan hat ihr Kopftuch abgelegt und spricht inzwischen deutlich selbstbewusster als am Anfang, die Jungs haben Bartwuchs bekommen.

Lava gehört zu den Letzten, die in die Klasse gekommen sind. Das syrische Mädchen aus Aleppo lebt mit seiner Familie in einer Flüchtlingsunterkunft. Zuerst waren sie in einer Basketballhalle in Hammerbrook untergekommen. „Alles ist besser als Aleppo“, sagt Aisha, Lavas Mutter. In der Familie sprechen sie Arabisch und Kurdisch. „Sie lachen uns aus, wenn wir Deutsch sprechen“, sagt Lavas Vater Frhad, der in Aleppo beim Finanzamt gearbeitet hat, über die eigenen Kinder. Aber er grinst dabei. Beide Eltern haben Wirtschaft studiert und möchten, dass ihre drei Kinder hier Abitur machen. „Wir haben vier Jahre im Krieg gelebt und hatten immer Angst, wenn die Kinder unterwegs zur Schule waren“, erzählt der Familienvater.

Neben Lava und ihrem Bruder Dalschad möchte auch die kleine Schwester Sidra Abitur machen. Die Neunjährige spricht akzentfrei Deutsch, aber auch ihre älteren Geschwister und die Eltern haben die Sprache sehr schnell gelernt.

Das läuft nicht in allen Familien so gut. „Teilweise ergibt sich im Laufe der Zeit eine hohe Diskrepanz zwischen der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler und der der Eltern, da die Schüler durch den schnellen Spracherwerb höhere Integrationschancen haben als ihre Eltern“, sagt Schachtschneider.

Die Schüler treffen sich auch privat

Dass sie vergleichsweise wenige Flüchtlingskinder in ihrer Klasse haben, sei ungewöhnlich, sagt Schachtschneider. „Typisch sind mehr Afghanen, Syrer und Eritreer.“ Sie lobt die Klassengemeinschaft, trotz der dauernden Wechsel. „Es gibt einen großen Zusammenhalt, die Schüler treffen sich auch privat.“ In der Klasse seien keine Machojungs, und die vielen unterschiedlichen Nationalitäten seien sogar von Vorteil. „Mehrere aus einem Land, die bleiben eher unter sich“, so ihre Erfahrung.

Auch die Schüler, die jetzt keinen Abschluss gemacht haben, gehen weiter zur Schule, denn die Schulpflicht endet erst mit dem 18. Lebensjahr. Einige streben den mittleren Schulabschluss an, ein paar Abitur, andere wechseln in Regelklassen oder besuchen weiter eine Vorbereitungsklasse. „Bei uns ist jetzt Schluss, aber ich habe das Vertrauen, dass sie sich alle weiterentwickeln“, sagt Simone Schachtschneider. Auch wenn die Zahl der Flüchtlingskinder abnehme, der Zustrom von Schülern aus der EU sei ungebremst. „Die Zusammensetzung der Klasse spiegelt immer die politische Lage etwas zeitverzögert wider.“

Aber erst einmal freuen sich alle auf die Sommerferien.

(* Namen der Schüler geändert)