In seiner Regierungserklärung bittet Bürgermeister Olaf Scholz um Entschuldigung für die teils außer Kontrolle geratene Lage beim G20-Gipfel. Auszüge aus seiner Rede

Es war wohl sein schwierigster Auftritt als Bürgermeister. Nach den völlig aus dem Ruder gelaufenen Krawallen beim G20-Gipfel steht Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) so stark in der Kritik wie nie zuvor seit seinem Amtsantritt im März 2011. In dieser Situation machte der Senatschef am Mittwoch von seinem Recht Gebrauch, eine Regierungserklärung in der Bürgerschaft abzugeben. Rund 35 Minuten sprach der Bürgermeister. Das Abendblatt dokumentiert an dieser Stelle weite Teile der Rede. Die Kritik der Opposition und eine Analyse des Auftritts lesen Sie auf den Seiten 11 und 12.


„Sehr geehrte Frau Präsidentin,

sehr geehrte Abgeordnete,

meine Damen und Herren,

es liegen schlimme Tage und Nächte hinter Hamburg. Statt über die Ergebnisse des G20-Gipfels müssen wir deshalb heute vor allem über seine gewalttätigen Begleitumstände und ihre Hintergründe reden. Als Bürgermeister fühle ich mich für die Sicherheit der Hamburgerinnen und Hamburger verantwortlich.

Heute wissen wir, dass die Sicherheitsbemühungen nicht gereicht haben, um einer neuen Dimension der Gewalt Herr zu werden und Straftaten zu vereiteln. Es ist unsere Pflicht, das gründlich aufzuarbeiten. Ich möchte daher gleich zu Beginn ein Wort direkt an die Hamburgerinnen und Hamburger richten:

Ich weiß, wie viel der G20-Gipfel Ihnen und Ihren Familien abverlangt hat. Die Verkehrsbeschränkungen waren immens – und gingen auch weit über die Behinderungen durch einen Hafengeburtstag hinaus. Die Angst, ja der Terror, den die Gewalttäter verbreitet haben, steckt vielen von uns noch in den Knochen – auch mir.

Ich habe den Bürgerinnen und Bürgern unserer Stadt im Vorfeld des Gipfels zugesagt, dass wir die öffentliche Sicherheit werden aufrechterhalten können. Denn wir sind gemeinsam – im Senat und im Gespräch mit der Bundeskanzlerin, dem Bundesinnenminister und den Spitzen der Sicherheitsbehörden – davon ausgegangen, alles Menschenmögliche getan zu haben, Gefahren analysiert und die nötigen Vorbereitungen getroffen zu haben, damit die Sicherheitsstrategie aufgeht. Ich habe das gesagt, weil ich fest davon überzeugt war, dass es so sein wird.

Es ist aber trotz aller Vorbereitungen nicht durchweg gelungen, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Nicht zu jedem Zeitpunkt und nicht überall. Dafür, dass das geschehen ist, bitte ich die Hamburgerinnen und Hamburger um Entschuldigung.

Sie wissen, dass ich niemand bin, der in der Politik besonders emotional unterwegs ist. Aber es macht mich fassungslos und wütend, dass Kriminelle unter krude vorgeschobenen politischen Motiven in unserer Stadt Zerstörungen anrichten und Menschen in Angst versetzen konnten, ohne dass wir sie sofort und schnell stoppen konnten.

Vielen Bürgerinnen und Bürgern unserer Stadt ging es ähnlich. Sie mussten schlimme Situationen miterleben. Sie wurden direkt Opfer gezielter Zerstörungswut und haben materielle Schäden zu beklagen. Sie hatten Angst. Sie haben die Auswirkungen der notwendigen Sicherheitsmaßnahmen zu spüren bekommen.

Aber es darf nicht bei Wut und Fassungslosigkeit bleiben. Wir müssen die Taten aufklären. Wir müssen die Täter bestrafen. Wir müssen den künftigen Schutz noch weiter verbessern. Und wir müssen uns als offene und liberale Gesellschaft fragen, was da eigentlich in unserer Mitte los ist, wenn sich junge Männer mit ihren Handys neben Steinewerfer stellen, um ein Selfie vor brennenden Barrikaden zu machen, oder sich nach zwei Bieren an den Krawallen beteiligen.

Ich bin den über 20.000 Polizistinnen und Polizisten aus Hamburg und dem ganzen Bundesgebiet und den Nachbarstaaten Deutschlands für ihren heldenhaften Einsatz dankbar. Sie haben buchstäblich Leib und Leben riskiert, um die Ordnung aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, die kriminelle Gewalttäter aus ganz Europa niederreißen wollten. Ich danke insbesondere den beinahe 500 Polizistinnen und Polizisten, die im Einsatz verletzt wurden, und wünsche ihnen baldige Genesung.

Ich danke auch allen Rettungskräften und Krankenhausmitarbeitern, die Verletzten geholfen haben, ebenso wie allen weiteren, die an ihrem Arbeitsplatz dafür gesorgt haben, dass der Gipfel stattfinden konnte.

Und ich bin tief bewegt von unserer Stadt, weil sie sich, nachdem sie auch diesen Sturm überstanden hat, schnell wieder aufrichtet. (...)

Als ich mir am Freitagabend im Lagezentrum der Polizei ein Bild von der Situation gemacht habe, war selbst dort bei den erfahrenen Einsatzleitern trotz aller professionellen Ruhe der Schock über diese neue Form der Gewalt gegen unsere Stadt, gegen ihre Menschen zu spüren.

Als ich mich am Samstag mit Einsatzkräften an der Messe getroffen habe, wurde deutlich, wie tief die Erschöpfung über diesen schwierigen Einsatz war.

Als ich am Sonntag von Krawallen Betroffene aus dem Schulterblatt besucht habe, war die Fassungslosigkeit über das Geschehene immer noch förmlich zu greifen – aber auch der Wille, das Kreuz durchzudrücken und weiterzu- machen. So war es auch gestern in Eimsbüttel und heute Morgen in Altona. (...)

„Es ist und bleibt richtig, G20 in Hamburg zu veranstalten“

Ich weiß, dass meine Überzeugung, dass es weiterhin richtig ist und bleibt, G20 in Hamburg zu veranstalten, nach dem vergangenen Wochenende besonders viel Erklärung braucht. Gerade jetzt stellen sich viele die Frage, ob es das denn „wert“ war.

Ich habe darüber viel nachgedacht. Meine Überzeugung bleibt es, dass jeder Versuch des direkten Gesprächs zwischen Regierungen einen Wert hat – gerade jetzt und gerade heute. (...)

Ich stehe dafür, dass man sich nicht aus der staatspolitischen Verantwortung wegducken darf nur wegen der Herausforderung eines solchen Gipfels. Das war und ist die Haltung des Senats. Deswegen habe ich zugesagt, als Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgeschlagen hat, den Gipfel in ihrer Geburtsstadt Hamburg zu veranstalten. Und deswegen fanden das auch beinahe alle hier im Haus richtig und haben das unterstützt.

Und es gab ja politische Fortschritte beim Gipfel: Eine gemeinsame Linie in der Klimapolitik gegen US-Präsident Trump zu halten ist ein Erfolg. Ein Bekenntnis gegen den Protektionismus ist ein Erfolg. Mehr Hilfe für Afrika ist ein Erfolg. Ein Waffenstillstandsabkommen für den Süden Syriens ist ein Erfolg. Und auch wichtige bilaterale Treffen zwischen unversöhnlich zerstrittenen Staaten sind Erfolge dieses Gipfels. Diese Inhalte wurden als erste aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Denn die gezielt inszenierten Schockbilder der Gewaltexzesse haben die Inhalte des Gipfels völlig überlagert – genauso übrigens wie die Anliegen der Zivilgesellschaft und den legitimen Protest.

Natürlich stellt sich immer die Frage, ob Aufwand und Ertrag solcher Zusammenkünfte in einem vertretbaren Verhältnis stehen. Wir sollten aber nicht leichtfertig ein eingespieltes und belastbares Format aufgeben, ohne ein besseres, funktionaleres und akzeptiertes Modell der internationalen Zusammenarbeit vorweisen zu können.

Die Stadt Hamburg würde jedenfalls ihre große und großartige Geschichte als der Welt zugewandte Hafenstadt verraten, wenn wir solche Veranstaltungen und solche internationalen Begegnungen nicht möglich machen würden.

Wenn ein solcher Gipfel in Hamburg nicht stattfinden könnte, dann ließe er sich künftig auch in keiner anderen westeuropäischen Stadt veranstalten. Nicht in Berlin, nicht in Paris, nicht in Wien, nicht in Mailand, nicht in Barcelona, nicht in Amsterdam. (...) Wollen wir, dass internationale Spitzentreffen nur noch bei Autokraten und Diktatoren möglich sind? Wollen wir, dass solche Treffen nur dort möglich sind, wo es kritische Stimmen und Diskussionen mit der Bevölkerung nicht gibt? Welche aufrechte Demokratin, welcher aufrechte Demokrat kann das wollen? (...)

Das Sicherheitskonzept rund um den G20-Anlass ist von den Sicherheitsbehörden sehr umfassend und sorgfältig vorbereitet worden. Eine Vielzahl von Experten aus verschiedenen Bereichen in Bund und Ländern haben dabei (...) exzellent zusammengearbeitet.

Selbstverständlich hatten sich die Sicherheitsbehörden aus ganz Deutschland und auch ihre europäischen Partner darauf vorbereitet, dass Gewalttäter versuchen werden, den Gipfel zu stören. Selbstverständlich war dabei bewusst, dass eine größere Zahl von Gewalttätern – auch von außerhalb Deutschlands – nach Hamburg anreisen.

Und natürlich haben sich die Sicherheitsbehörden deshalb auch darauf eingestellt, gegen diese Gewalttätigkeiten konsequent und frühzeitig vorgehen zu können. Über 20.000 Polizistinnen und Polizisten waren im Einsatz. Das war der größte Polizeieinsatz in der Hamburger Nachkriegsgeschichte. (...)

Die Polizei hat eine Allgemeinverfügung erlassen, um Gewalttaten und Spontandemonstrationen im Umfeld des Gipfels zu unterbinden. Sie hat Protestcamps untersagt, weil sie die berechtigte Gefahr gesehen hat, dass diese Camps zu Sammel- und Rückzugsräumen von Straftätern werden. Das wurde bis unmittelbar vor dem Gipfelbeginn auch gerichtlich bestätigt. Leider ist es am Ende rechtlich nicht gelungen, jede Form eines von der militanten Szene geplanten Camps zu unterbinden. Wir wissen heute, dass etliche Gewalttäter dort Unterschlupf gefunden haben. Die Gefahreneinschätzung – das hat das Wochenende gezeigt – war richtig.

Diese Maßnahmen dienten gleichermaßen dem Schutz des Gipfels wie der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Hamburg. In vielen Teilen der Stadt ist es zu keinen Straftaten im Gipfelzusammenhang gekommen. Die vielfach angekündigten Blockaden und Störungen im Hamburger Hafen sind nicht eingetreten. Und außer dem bundesweiten Angriff auf Netzleitungen der Bahn ist es nicht zu den propagierten Angriffen auf die Infrastruktur in unserer Stadt gekommen. Auch der Versuch, den Gipfel mit allen Mitteln zu verhindern, ist gescheitert. Der Gipfel konnte wie geplant stattfinden. Die befürchteten gezielten Terroranschläge, auf die sich die Polizei vorbereitet hatte, fanden nicht statt.

„Die Verantwortung liegt (...) bei dem kriminellen Mob“

Aber es ist nicht alles so geschehen, wie wir uns erhofft hatten: Schmerzhaft ist vor allem, dass wir am Freitag in einigen Bereichen der Stadt schwere Straftaten nicht sofort und nachhaltig stoppen konnten. Und wir haben den Hamburgerinnen und Hamburgern leider auch bei den Verkehrsstörungen mehr zumuten müssen, als es geplant war. (...)

Im Vorfeld wurde vielfach kritisiert, unsere Sicherheitseinschätzungen seien viel zu pessimistisch, im Nachhinein gibt es Kritik, man habe zu blauäugig geplant – beides trifft nicht zu. Und wer darüber diskutiert, der lenkt vom Wesentlichen ab. Das Wesentliche ist: Die Verantwortung für diese Gewalttätigkeiten liegt weder bei dem Gipfel noch bei der Polizei. Sie liegt bei denjenigen, die diese Gewalt ausgeübt haben, sie liegt bei dem kriminellen Mob, dem die Menschen in unserer Stadt völlig egal waren, dem es nur um Gewalt und Zerstörung ging.

Eine derart exzessive, nur dem Zweck der Zerstörung dienende Gewalt, die auch das Leben von Einsatzkräften oder Unbeteiligten riskiert, hat es in diesem Ausmaß in Hamburg und anderen deutschen Städten noch nicht gegeben. Das, was da geschehen ist, hätte wohl auch mit vielen zusätzlichen Polizeibeamten nicht verhindert werden können.

(...) Dass voll besetzte Busse auf der Elbchaussee bedroht oder Polizisten von Hausdächern aus massiv mit Eisenstangen, Pflastersteinen, Molotowcocktails und Stahlgeschossen aus Präzisionszwillen angegriffen werden, ist in diesem Ausmaß nicht vorstellbar gewesen.

Dass man bei entsprechenden Hinterhalten schwere Verletzungen und sogar Tote nicht nur in Kauf genommen, sondern offenbar gewollt hat, ist in Deutschland eine kaum gekannte Dimension. Ich bin froh, dass kein Mensch ums Leben gekommen ist. (...)

Wir wissen, dass man in unserem freiheitlichen Rechtsstaat kein Sicherheitskonzept aufstellen kann, mit dem sich jede Straftat verhindern lässt. Wir dürfen und wir werden uns aber von Gewalttätern nicht erpressen lassen. Was wäre, wenn Salafisten den nächsten Kirchentag bedrohen? Was wäre, wenn Neonazis gegen den „Christopher Street Day“ Randale ankündigen? Sollen wir dann immer klein beigeben und uns der Gewalt beugen? Ich mache das nicht. Und ich bin sicher: Die große Mehrheit der Hamburgerinnen und Hamburger macht das nicht. (...)

Wer zu Demonstrationen aufruft und dabei eindeutig auf eine Beteiligung des Schwarzen Blocks zielt, trägt Mitverantwortung für das Handeln eben jener Kriminellen. Ich finde es jedenfalls unerträglich, dass sich sogar Mitglieder der Bürgerschaft bei Demonstrationen mit denen unterhaken, die am Abend vorher ganze Straßenzüge verwüstet haben. (...)

„Was aus der Roten Flora zu hören war, ist beschämend“

Manches, was in den letzten Tagen gerade auch aus der Roten Flora dazu zu hören war, ist beschämend und menschenverachtend und einer Demokratie nicht würdig. (...) Und wer davon quatscht, dass man diese Militanz doch bitte nicht in der Schanze, sondern in Pöseldorf oder Blankenese ausleben sollte, der muss sich nicht wundern, wenn man ihn einen geistigen Brandstifter nennt. Diese taktischen Spielchen sind nur allzu durchschaubar und müssen ein für alle Mal vorbei sein. (...)

Wir brauchen sehr grundsätzlich auch eine Verständigung darüber, wie wir uns als Hamburgerinnen und Hamburger sehen. Nehmen wir den Auftrag unserer Verfassung ernst, „im Geiste des Friedens eine Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt“ zu sein? Und nehmen wir auch in Zukunft die Erschwernisse auf uns, die eine solche Rolle mit sich bringt?

Ich bin der festen Überzeugung, dass Hamburg gar nicht anders kann, als sich auch in Zukunft in den manchmal rauen Wind der Verantwortung zu stellen. Das müssen wir miteinander klären.

(...) Es ist gut, dass die Hamburgerinnen und Hamburger in diesen Tagen solidarisch zusammenstehen, damit unsere Stadt weltoffen und liberal bleibt. Das war, ist und bleibt die Stärke dieser freien Stadt.“