20.000 Polizisten sind am G20-Wochenende im Dauereinsatz gewesen. Dennoch verwüsten Kriminelle ganze Stadtteile – und niemand will schuld sein. Wer ist für die Krawalle verantwortlich? Eine Analyse

Es gab den einen Moment, in dem allen die Dimension klar wurde. Die Beamten am Rande des Schanzenviertels fragten ihre Anführer, warum man nichts unternehme. Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) ließ sich mit dünner Stimme auf einem Flur der Elbphilharmonie filmen, es sah aus wie in einem Bunker. Die Rote Flora machte ihre Türen dicht. Der Mob aus Kriminellen, der draußen wütete, war nicht mehr zu zügeln.

Warum verloren alle die Kontrolle? Wer trägt Verantwortung? Die Fragen beherrschen nun seit drei Tagen das Stadtgespräch, aber alle Beteiligten weichen ihnen aus. „Bedrückt“, „schockiert“, „überrascht“ sind sie. Aber niemand will schuld sein. Tatsächlich sind die Umstände der Krawalle noch ungeklärt; die Situation war auch für Polizisten und Beobachter schwer zu überblicken. Wer sich auf die Suche nach Verantwortung begibt, stößt vor allem auf Fragen und auf seltsames Verhalten der Beteiligten in den Nächten der Randale.


Die Einsatzleitung –
Chance auf Festnahmen versäumt

Es gab vorher keinen Zweifel: Hartmut Dudde ist der beste Mann für den Job. Der Gesamteinsatzleiter hat eine dreistellige Zahl von Demonstrationen in den vergangenen zwölf Jahren führend begleitet. Sein hartes Vorgehen bei Protestmärschen ist berüchtigt – aber nie verlor Dudde die Kontrolle über einen Einsatz. Ausgerechnet beim G20-Gipfel, den Dudde anderthalb Jahre lang vorbereitet hatte, unterliefen ihm Fehler.

Obwohl der Aufzug „Welcome to Hell“ als die zentrale Versammlung von militanten Autonomen galt, verzichtete Dudde auf eine seitliche Polizeikette. Aus „gutem Willen“ gegenüber den Anmeldern, wie es in Polizeikreisen heißt. Dudde dachte, die Flutschutzmauer an der St. Pauli-Hafenstraße werde die Autonomen nach dem Eingriff der Beamten an der Flucht hindern. Ein Irrtum. Die erste und beste Chance, die Randalierer in größerer Zahl festzunehmen, blieb ungenutzt. Der Schwarze Block sickerte nach der Demo in die Stadt ein.

Am Freitag griff die Polizei unter Führung Duddes nicht ein, bevor sich die Anarchie im Schanzenviertel entwickeln konnte. „Wir mussten unsere Einheiten durchsortieren“, sagt Dudde – danach kletterten bereits Linksextreme für ein Hinterhalt auf ein Dach. Auch unter Polizisten werden Fragen gestellt, warum es für ein erwartbares Szenario – hochaggressive Autonome, die sich in „ihrem“ Schanzenviertel verbarrikadieren – keine fertige „Worst Case“-Strategie (also für den schlimmsten Fall) gab. Dudde betonte, dass es in der Schanze zuletzt nicht mehr so häufig wie früher zu Krawallen gekommen ist: „Diesmal hat es dort angefangen.“

Nachdem die Autonomen auf dem Dach einen „Hinterhalt“ gebildet hatten, musste Dudde eine schwierige Abwägung treffen. Auf das Spezialkommando zu warten, war der richtige Schritt, heißt es in Polizeikreisen unisono. Bei Dudde waren zuvor aber bereits auch Informationen eingelaufen, nach denen etwa etwa Schüsse mit Zwillen und Hinterhalte möglich waren. Die Spezialeinheit musste am Freitag zunächst Häuserskizzen studieren und sich einen Überblick verschaffen. Das verzögerte den Zugriff.

Nach dem Einsatz wirkte Hartmut Dudde am Sonntag aufgeräumt, mit sich im Reinen. Intern wird davon gesprochen, dass der Leitende Polizeidirektor keineswegs die Hauptschuld an dem eskalierten Einsatz gegeben werden könne. Eindeutige Priorität habe die Sicherheit der Staats- und Regierungschefs gehabt – und diese war sichergestellt. In Polizeikreisen heißt es, Dudde habe möglicherweise nicht genügend Beamte zur Verfügung gehabt, das Schanzenviertel von vornherein abzusichern – oder umstellen zu lassen, um mehr Straftäter nach dem Einsatz der Spezialeinheit festzunehmen. „Das kann man ihm nicht vorwerfen“, sagt ein erfahrener Beamter.

Der Polizeipräsident –
Vom Erwarteten überrascht
Ralf Martin Meyer brachte seine Verteidigungsstrategie auf den Punkt: „Ich sage nicht, dass der Einsatz großartig gelaufen ist. Er war nur großartig vorbereitet“. In der Wahrnehmung des Polizeipräsidenten hat sich eine Dimension linker Gewalt aufgetan, die unvorhersehbar war. Von dem knappen Dutzend Randalierern auf dem Dach des Gebäudes am Schulterblatt spricht Meyer wie von einer Naturgewalt. Der Hinterhalt habe „terroristische“ Züge getragen.

Die Aussagen stehen jedoch in Gegensatz zu der eigenen Gefahrenpro­gnose der Polizei vor dem Gipfel. Auch wenn es noch keine endgültigen Zahlen gibt, waren wahrscheinlich deutlich weniger als die befürchteten 8000 militanten Autonomen zum G20-Gipfel in der Stadt. Zum anderen hatte die Polizei vor dem Gipfel selbst vor möglichen Mordversuchen gegen Beamte gewarnt. Die Pressestelle teilte ein Video über soziale Netzwerke, in dem etwa gezeigt wird, wie Autonome mit Bitumen (ähnlich wie Teer) aus Feuerlöschern und Pyrotechnik Polizisten lebendig in Brand setzen könnten. Die Frage bleibt, wie schlimm die Krawalle hätten werden können, wenn sich diese Prognose erfüllt hätte.

Auf die Frage, ob insgesamt genug Beamte im Einsatz waren, gab der Polizeipräsident keine klare Antwort. „Wir können die Stadt nicht mit Polizei vollstellen“, sagt Meyer – tatsächlich gab es mit dem Schanzenviertel, dem Jungfernstieg und den wohlhabenden Stadtteilen im Westen und Norden der Stadt zu viele mögliche Angriffspunkte für Randalierer, um sie dauerhaft schützen zu können. Gemeinsam mit dem rot-grünen Senat ist Meyer aber dafür verantwortlich, ob die richtigen Prioritäten im Sicherheitskonzept gesetzt wurden.

Der Innensenator –
Minimum an Sicherheit war zu wenig

Andy Grote (SPD) kann sich kaum vorwerfen lassen, vor dem Gipfel nicht genug vor den Gefahren gewarnt zu haben – er benannte klar die Gewaltbereitschaft von Linksextremen und die Risiken für Demonstranten, sollten sich diese in den Weg der Staatsgäste begeben.

Grote war in der Vorbereitung um einen Mittelweg bei den Sicherheitsvorkehrungen bemüht: Er sprach von einem „Festival der Demokratie“ und wollte die Versammlungsfreiheit nicht stärker als nötig einschränken, entschied sich aber doch für ein Demonstrationsverbot. Die Maßnahmen zur Sicherheit bewegten sich „am unteren Rande dessen, was zur Sicherung eines G20-Gipfels nötig ist“, sagte Grote im Juni – es war zu wenig, wie sich nun herausstellte.

Nach den Krawallen macht Grote nun die Gerichte und die linke Szene für die Eskalation verantwortlich. Dabei ließ das Oberverwaltungsgericht mit 300 Zelten (also rund 1000 Übernachtungsplätzen) im Altonaer Volkspark nur einen Bruchteil der geplanten Schlafplätze für Linksextreme zu. Als Senator hätte Grote dafür Sorge tragen müssen, dass die Polizei auch mit deutlich größeren Camps umgehen kann.

Grote ist auch politisch dafür verantwortlich, dass die Polizei in Hamburg vor dem G20-Gipfel keine bessere Aufklärung der Pläne in der linksextremen Szene betrieb. Wie mehrere Beamte gegenüber dem Abendblatt bereits vor längerer Zeit angaben, hat die Polizei nach den Skandalen um Verdeckte Ermittler seit Längerem keinen tiefen Einblick mehr in die Strukturen der Szene.

Das bestätigte am Dienstag auch Polizeipräsident Meyer indirekt: „Wir hatten diverse verdeckte Ermittler in dem Milieu, die uns Stück für Stück durch kritische und politische Beleuchtung aus bestimmten Bereichen abhanden gekommen sind.“ Durch die Ereignisse beim G20-Gipfel könnte sich dies jedoch in absehbarer Zeit wieder deutlich ändern.


Linke Szene und Rote Flora –
die Geister, die sie riefen

Seit dem Wochenende haben es die Führungsfiguren eilig, sich zu distanzieren. Die Randalier im Schanzenviertel hätten eine „Rote Linie“ überschritten. Die Gewalt am Wochenende habe nichts mehr mit linker Politik gemein – und man habe die Straftäter auch nicht eingeladen, betonen vor allem die Galionsfiguren der Roten Flora, Andreas Beuth und Andreas Blechschmidt.

Zutreffend ist nach den bisherigen Erkenntnissen, dass es sich bei den Randalierern am Schulterblatt keinesfalls nur um „Gäste“ oder Autonome aus der Roten Flora handelte. Laut Augenzeugen war der Mob eine seltsame Mischung aus Linksextremen, Hooligans, krawalllustigen jungen Mitläufern, sogar Rechtsextreme wurden gruppenweise gesichtet. Rund ein Drittel der Festgenommenen sind Ausländer.

In Szenekreisen heißt es, die Rote Flora habe bei der Mobilisierung zu den G20-Protesten insgesamt nicht die Hauptrolle gespielt, die Bemühungen des Zentrums „B5“ an der Brigittenstraße auf St. Pauli seien etwa mindestens ebenso groß gewesen. Allein der Aufruf zur Demonstration „Welcome to Hell“ macht aber die Verantwortung der Roten Flora für die Krawalle deutlich: Titel und Tenor des Demonstrationszugs lesen sich wie eine Einladung für hochaggressive Personen, nach Hamburg zu kommen.

Vor allem Rechtsanwalt Beuth verwickelt sich in Widersprüche: Vor dem Gipfel freute er sich auf einen der „größten Schwarzen Blöcke“ der Geschichte, nach dem Gipfel will er das Gewaltpotenzial desselben unterschätzt haben. Auch gemäßigtere Gruppen betonten zwar, sie würden sich nur gegen „Aggressionen“ der Polizei zur Wehr setzen, versäumten aber eine Abgrenzung zur Gewalt. Die Organisatoren der Protestcamps betonten, dass alle G20-Gegner willkommen seien – und lockten damit auch sogenannte „Insurrektionalisten“ an – Anarchisten also, die eine völlige Zerstörung von Städten für nötig halten.

Abseits öffentlicher Distanzierung weigert sich die Szene bislang, die Hauptverantwortung auf sich zu nehmen. Schuld seien vielmehr Bundesregierung und Bürgermeister, die mit der Vergabe des G20-Gipfels nach Hamburg die Gewalttäter „provoziert“ hätten.


Die Bundesbehörden –
Einreise der Randalierer nicht gestoppt
Die Bundespolizei kontrollierte seit Mitte Juni die Grenzen, um Linksextremisten abzufangen. Allein rund 4500 irreguläre Einreisen stellten die Beamten fest, zudem vollstreckten sie etwa 800 Haftbefehle. Nur hatten die allermeisten nichts mit dem G20-Gipfel zu tun: Es ging um Kriminalität, etwa Diebstahl oder Körperverletzung. In wenigen Fällen wurde Personen die Einreise auch verwehrt. Wie hoch die Zahl genau ist, lässt die Bundespolizei unbeantwortet.

Über Personenpotenzial, Strategie und Mobilisierung der radikalen Gipfelgegner habe man sich vorher mit den Hamburger Behörden ausgetauscht, heißt es im Bund – aber die Einsatzleitung habe eben in Hamburg. Und damit auch, was zwischen Reeperbahn, Elbchaussee und Schanzenviertel passiert.

Der Bürgermeister –
die Bürger seiner Stadt enttäuscht
Olaf Scholz’ schwerster Fehler waren seine Verharmlosungen im Vorfeld: Zumindest die Verkehrssituation beim G20-Gipfel sei mit dem Hafengeburtstag vergleichbar; man werde sich wundern, wie schnell alles vorüber sei. Eine klare Entschuldigung dafür hat Olaf Scholz (SPD) bislang versäumt.

Scholz hat sich dagegen zu seiner politischen Gesamtverantwortung bekannt – mit einem unglücklichen Krisenmanagement während der Krawalle aber weitere Kritik auf sich gezogen. Konkrete Fehler, die zu der Randale beitrugen, sind aber nicht zu erkennen.

Eine entscheidende Rolle wird die Aufarbeitung der Frage spielen, wie viele Beamte während des Gipfels jeweils für die Staats- und Regierungschefs, und wie viele für den Schutz der Bevölkerung eingesetzt waren. Falls sich dabei Hinweise auf politische Maßgaben ergeben, nach denen Krawalle zum Schutz der Staatsgäste in Kauf genommen wurden, würde der Bürgermeister aber extrem in Bedrängnis geraten.