HamburG20-Tagebuch. Letzte Folge: Der Mob tobt – und eine Partei zeigt, wie sie wirklich denktVon Matthias Iken

Nach dem Wüten bleibt nur die Wut. Ohnmächtige, fassungslose, verstörende Wut. Das Schanzenviertel, krawallgestählt und leiderprobt, ist ein Trümmerfeld: Mit roher Gewalt haben die Anarchisten eine Schneise der Verwüstung geschlagen, die Geldautomaten der Haspa zerstört, den Budni geplündert, im Rewe ein Feuer gelegt. Es ist die totale Gesetzlosigkeit, es ist Staatsversagen: Der linke Mob tobte, er errichtete Barrikaden und zündete sie an, er drang in Wohnungen ein, prügelte auf alles ein, was sich in den Weg stellte, und lebte seine Gewaltfantasien aus, mit dem Ziel zu morden und zu brandschatzen. Bilder, die man in diesem Land seit Ende des Krieges nicht mehr gesehen hatte. Eine Eruption der Gewalt, die nicht einmal Pessimisten befürchtet hatten. Viele Krawallbrüder waren aus anderen deutschen Städten und dem Ausland angereist. Polizeireporter schätzen, dass die Hälfte Zugereiste waren – paramilitärisch organisiert, die sich auf Spanisch oder Englisch Anweisungen zurufen. Die Internationale hatte man sich ursprünglich anders vorgestellt.

Vor der Roten Flora liegen ein paar versprengte Punks, die ihren Rausch ausschlafen oder schon am nächsten arbeiten. Fünf junge Autonome, die sich im Schanzenviertel sehen lassen, werden von Anwohnern vertrieben: „Dass Ihr Euch hierher traut! Haut ab!“ Die Möchtegernkrieger trollen sich. Anderswo sitzen die ersten Bürgersöhne schon wieder in der Sonne und ziehen sich ihren ganz privaten Gewaltporno rein: Überall werden Handys in die Luft gereckt und Bilder geschossen. Ein wütender Anwohner ruft: „Hört auf zu fotografieren, packt lieber mit an. Scheiß Facebook. Scheiß Twitter.“ Die vermeintlichen sozialen Medien sind Brandbeschleuniger einer leicht entflammbaren Gesellschaft. Ein Selfie aus dem Bürgerkrieg gilt als Nonplusultra. Die Schanze muss brennen, damit wir die schönsten Bilder bekommen.

Das gefällt auch den nationalen und internationalen Medien. Bilder von der Elbphilharmonie in der Sonne, das Familienfoto, die historische Begegnung zwischen Wladimir Putin und Donald Trump? Gesehen, abgelichtet, vergessen. Aus Hamburg bleiben andere Bilder haften. Viele Reporter stehen in der Schanzenstraße, im Hintergrund zerstörte Geschäfte. Die Bilder eines Stadtteils, der für wenige Stunden der Anarchie anheimfiel, gehen um die Welt. Ein älteres Ehepaar schüttelt den Kopf und fragt: „Wo ist eigentlich der Bürgermeister?“

Ja, wo ist Olaf Scholz? Er ist im Rathaus, empfängt die Ehepartner der Regierungschefs. Großes diplomatisches Parkett, so wie Scholz es mag. Doch gebraucht wird er dort, wo Splitter, Scherben und Brandreste auf den Straßen liegen. Es ist auch sein Polizeieinsatz, der da gescheitert ist. Seine Worte vom „Hafengeburtstag“, die Sicherheitsgarantie und der Spruch, einige würden den Gipfel nicht einmal bemerken, hallen nach und holen ihn ein. Die Grünen haben sich auf ganz schlankem Fuß auf die Seite der Mehrheit geschlagen – sie sind nun auch gegen G20-Gipfel in Metropolen. Das fällt ihnen ja sehr früh ein.

Liberal, aber nicht doof – mit diesem Motto hat Olaf Scholz seinen Markenkern einmal beschrieben. Auch wenn einige versprengte Kritiker noch immer den überharten Polizeieinsatz kritisieren, ist der Mainstream längt weitergeschwommen: Nach der Anarchie-Nacht gilt die Polizei als zu weich, zu desorganisiert, zu zurückhaltend. Offenbar konnten erst Spezialeinheiten das Wüten beenden. Bei der Polizei ist es ein bisschen wie bei der Nationalmannschaft – da fühlt sich jeder zum Einsatzleiter befähigt. Und wer keine Ahnung hat, fragt dann eben Leute, die noch weniger Ahnung haben: „Zeit online“ hat Thomas Wüppesahl interviewt, den Gründer der „Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizisten“. Wüppesahl wurde 2005 wegen Vorbereitung und Versuchs der Beteiligung an einem Raubmord zu einer Haftstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt. Aber dafür teilt er stets kräftig gegen die Polizei aus, was in einigen Redaktionsstuben geschätzt wird. „Das ist doch Türkei“, sagte Wüppesahl. Und brachte „Zeit online“ viele Klicks.

Man weiß nicht, ob die marodierenden Massen des Schwarzen Blocks wirklich Linke sind oder Anarchisten, Nihilisten oder Faschisten. Derlei Erklärungen helfen auch nicht weiter. Nur: Wenn die Linke nicht für die Gewaltexzesse und Straftaten dieser leider viel zu großen Minderheit in Haftung genommen werden will, muss sie sich klar distanzieren. Aber viele winden sich heraus, sie schlängeln sich herum, sie sind maximal geschmeidig. Und sie ruinieren ihren Ruf. Hier nennen wir noch mal ihre Namen: Attac zum Beispiel. „Wenn wir uns distanzieren, nützt das keinem, und wenn wir uns nicht distanzieren, nützt das auch keinem“, sagte Werner Rätz vom globalisierungskritischen Netzwerk Attac. Das grenzt schon an Polit-Dadaismus. Wobei, der Dadaismus hat nicht verdient, mit Werner Rätz verglichen zu werden.

Am Freitagmittag vermeldet die Linkspartei aus NRW: „Mit Versammlungs- und Campverboten haben der ‚rot-grüne‘ Hamburger Senat und die Polizei dem Grundrecht auf Demonstrations- und Meinungsfreiheit den Kampf angesagt. Sie tragen die politische Verantwortung für die Eskalation und die teils äußerst brutalen Übergriffe auf Demonstranten.“ Die Parteivorsitzende Katja Kipping meinte: „Die Polizeiführung hat alles getan, um jene Bilder zu erzeugen.“ Das muss man sacken lassen. Immerhin: Am Sonnabend dreht die Hamburger Linkspartei und distanzierte sich laut und klar. Und doch denkt man an den Satz von Michael Gorbatschow: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Manche meinen: Diese Partei hätte es sich redlich verdient.

Denn sie steht schon wieder in der ersten Reihe bei einem Umzug, der in dieser G20-Protestwoche wie ein Déjà-vu wirkt. Sie haben ihren Marx verinnerlicht: „Geschichte wiederholt sich nicht und wenn, dann nur als Farce.“ Schon am Sonnabendmittag marschiert der Schwarze Block wieder, nun bei der „G20 – not welcome“-Demo. Anmelder ist Jan von Aken, Bundestagsabgeordneter der Linken. Er hat geschafft, verschiedenste Gruppen zusammenzuführen: Attac, die GEW, Kommunisten, Kurden, die eigenen Parteifreunde, aber auch viele Protest-Oldies aus der Friedens- und Dritte-Welt-Bewegung. Ohne die Krawalle würde man nachsichtig die bunten Bilder und Ballons bewundern, freundliche Menschen zeigen, und ein wenig über diesen Dino-Park der Demogeschichte lächeln. Eine Art Zeitreise in die Achtziger. So viele Hammer-und-Sichel-Flaggen hatte man seit dem Mauerfall nicht mehr gesehen. Vom Karnevalswagen der Linkspartei wird die „deutsche Arbeiterjugend“ mit „solidarischen Grüßen“ willkommen geheißen. Die Stimmung ist ausgelassen, man feiert sich selbst, tanzt zu den alten Weisen. Keine Distanz zur Krawallnacht, keine Selbstkritik, kein Statement. Nirgends. Es erklingt das „Wasserwerferlied“, und ein paar Mitglieder des Schwarzen Blocks mischen sich unter das Demovolk. „Haut die Bullen platt wie Stullen“, schallt es hoch vom bunten Wagen der Globalisierungsgegner von Attac. Volksverhetzung light – aber vom Volk gefördert. Attac ist gemeinnützig. Wie lange eigentlich noch?

Auch die Gestalten, die geladen waren, passen nur in einem sehr krausen Weltbild zusammen. Angekündigt waren als Redner neben Katja Kipping auf der Demonstration auch Carolus Wimmer von der KP Venezuela. Venezuela ist für die Linke das Nicaragua 2.0, ein sozialistisches Paradies mit besserem Wetter. Da stört auch nicht, wenn die Polizei dort regelmäßig ein paar Demonstranten über den Haufen schießt. Die Besetzungsliste liest sich wie ein Who is Who des politischen Sektierertums. Von der Hedonistischen Internationalen, dem Hamburger Bündnis gegen Überwachung, der GEW über „Vertreter*in des Bündnisses Welcome to Hell“, der Interventionistischen Linke zu einer „Vertreter_in des Revolutionären Blocks“. Alle dabei, die behaupten, was links ist. Immerhin 70.000 Menschen zogen mit. Hamburg zeigt Haltung, das bürgerlich Bündnis, brachte 5000 Bürger auf die Straße. Hoffentlich sind das nicht die Hamburger Maßstäbe.

Mitleid verdient haben die Polizisten. Manche haben nach der harten Nacht in der Schanze nur zwei Stunden geschlafen und dürfen sich wieder von den Demonstranten verspotten und beschimpfen lassen. Wenn sie gegen den Schwarzen Block eingreifen, rufen auch Friedensfreunde „Haut ab! Haut ab!“ Es sind mitunter dieselben Leute, die nach der Nacht der Anarchie fragten: „Warum hat die Polizei uns nicht geholfen?“

Hamburg 2017 muss ein Weckruf für die gesamte Linke sein – und ihre Haltung zu Gewalt. Es war die Linke, die diese Exzesse ermöglichte, weil sie das bunte und folkloristische Begleitprogramm für die Terrorattacken des Schwarzen Blocks bildet – sie ist das Wasser, in dem der Mob mitschwimmt, sich tummeln darf, hier kann er untertauchen und auftauchen. Oder bei Bedarf mitmarschieren und ausschwärmen. Und danach wird die Linkspartei die eine oder andere Krokodilsträne vergießen. Gäbe es für Heuchelei Prozente, die Partei hätte beste Chancen auf die absolute Mehrheit. Ihr Problem aber ist, dass sie sich durch ihr Hamburger Verhalten ohne Not ins Aus geschossen hat. Sie passt in Teilen besser in den Verfassungsschutzbericht als in ein Bundeskabinett.

Der Zeitgeist hält kurz inne. Auf ihm schwimmt die Linke – oder muss es heißen schwamm? Selbst die Schickeria mag das Linke; sogar Millionäre haben Welcome to Hell per Facebook alles Gute gewünscht. Der linke Zeitgeist gehört zu dieser Schickeria wie das Cabrio in der Garage. Vielleicht sollten sie das aber noch schnell umparken. Was sagte Andreas Beuth, der Mann ist Anwalt, nach der Krawallnacht dem NDR: „Wir als Autonome haben gewisse Sympathien für solche Aktionen, aber doch nicht im eigenen Viertel, wo wir wohnen. Also warum nicht irgendwie in Pöseldorf oder Blankenese? Da gibt es auch bei uns großes Unverständnis, dass man im Schanzenviertel die eigenen Geschäfte zerlegt.“ Das darf man auch zweimal lesen.

Was im Nebel der Chaoten zu versinken droht, sei hier noch einmal gesagt: Der G20-Gipfel in Hamburg war ein Erfolg. Das Plädoyer für offene Märkte ging weiter als erwartet, Klimaschutz bleibt für alle Staaten außer den USA ein zentrales Ziel. Afrika bekommt mehr Geld, Wladimir Putin und Donald Trump kamen erstmals zusammen und vereinbarten eine Waffenruhe für den Südwesten Syriens.

Für den Frieden in Hamburg aber sind wir verantwortlich. Wir alle.