Berlin. Der türkische Präsident will mit seinen überraschenden Zweifeln an den G20-Klimaschutz-Vereinbarungen mehr Geld herausholen. Aber er zielt auch auf die Kanzlerin

Er kann es einfach nicht lassen. Kaum ist der Hamburger G20-Gipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer zu Ende, feuert der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zwei Breitseiten gegen Kanzlerin Angela Merkel ab. Das von der Bundesregierung gegen ihn verhängte Redeverbot in Deutschland sei „politischer Selbstmord“, poltert er. Es werde wie ein „Bumerang“ zurückkommen.

Mit den gleichen Worten hatte er kurz vor Beginn des G20-Spitzentreffens Merkel attackiert. Erdogans Verbalinjurien sind mittlerweile so grobschlächtig und aggressiv, dass sich der Eindruck aufdrängt: Die Kanzlerin ist für den Mann aus Ankara Staatsfeindin Nummer eins. Nachtreten und Provozieren werden zum Selbstzweck.

Der zweite Querschuss betrifft die Klimapolitik. Kurz nachdem sich alle G20-Staaten außer den USA zum Pariser Vertrag bekannt haben, startet Erdogan einen neuen Angriff. Das türkische Parlament werde das Abkommen nicht unterzeichnen, wenn sein Land nicht Geld aus dem Klimafonds erhalte. Mit dem Fonds sollen die Ziele der Pariser Vereinbarung zur Reduzierung der Treibhausgase umgesetzt werden.

Das Problem: Nach der Klimarahmenkonvention von 1992 gilt die Türkei als Industrieland, müsste also Geld in den Klimafonds bezahlen. Erdogan pocht nun auf eine Zusage des früheren französischen Präsidenten François Hollande, wonach die Türkei als Entwicklungsland eingestuft werde, also Mittel bekäme. Das habe er sowohl der Kanzlerin als auch dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Hamburg mitgeteilt, betont Erdogan.

Der Hinweis auf Hollande ist durchsichtig. Ein einzelner Staats- oder Regierungschef kann nämlich über die internationale Finanzierung der Klimapolitik überhaupt nicht entscheiden. Das ist Sache von Organisationen wie den Vereinten Nationen. In Wahrheit zielt Erdogans Drohung gegen Merkel. Der Kanzlerin ist es als zäher Krisenmanagerin immerhin gelungen, den G20-Gipfel vor einem Kollaps zu bewahren. Unter ihrer Regie wurden die Extra-Touren von US-Präsident Donald Trump zur Klima- und Handelspolitik mit semantischen Kunststücken verbrämt, auch wenn die Widersprüche in der Sache bleiben. Erdogan will Merkel diese Integrationsleistung vermasseln. Mit der finsteren Andeutung, auch andere Staaten hätten nicht ihre volle Unterstützung für den Pariser Klimavertrag erklärt („Bei allen gibt es Probleme“), erweckt er den Eindruck: Die von der Kanzlerin als Erfolg gefeierte Klima-Front „19 zu eins“ wackelt.

Bundesumweltministerin Barbara Hendricks versucht am Sonntag die Wogen zu glätten. Hinter Erdogans überraschender Abkehr von den G20-Klimaschutz-Vereinbarungen steckten finanzielle Motive. „Deutschland hat sich bei den Pariser Verhandlungen vermittelnd zu diesem Problem eingebracht und wird dies weiter tun“, kündigt Hendricks an. Deutsche Regierungskreise sehen im Grundsatz „keine Abkehr“ der Türkei vom Pariser Klimaabkommen. Es sei ein „bekanntes Problem“, wird betont. Der Status des Landes – Industrie- oder Entwicklungsland – sei im Vertrag von Paris nicht verankert. Deutschland unterstütze das türkische Anliegen in den Verhandlungen. „Wir glauben, dass die Türkei das Abkommen ratifizieren wird, wenn die Statusfrage geklärt ist“, heißt es in Regierungskreisen. In der Front gegen Trump gebe es kein „18:2“, sondern es bleibe ein „19:1“.

Erdogan dreht immer weiter an der Beleidigungsspirale

Dennoch sprechen Timing und Wortwahl von Erdogans Vorstoß dafür, dass es ihm nicht nur um Finanzfragen geht. Hinter der Obsession des Präsidenten gegen Merkel und auch die EU im Allgemeinen steckt vielmehr der Psycho-Reflex des beleidigten Autokraten. Erdogan kann – insbesondere nach dem Verfassungsreferendum zur Einführung eines Präsidialsystems – in seinem Land durchregieren wie ein Sultan. Auf internationaler Ebene funktioniert das aber nicht. Auch die Kanzlerin zeigt dem Präsidenten regelmäßig Grenzen auf. So kann Erdogan hierzulande nicht nach Gusto Wahlkampf-Auftritte zur Mobilisierung der drei Millionen Deutschtürken machen.

In Brüssel beißt der Präsident mit seinen Begehren der Visa-Liberalisierung und der EU-Beitrittsgespräche auf Granit. Solange das Anti-Terror-Gesetz und damit das Instrument für willkürliche Massenverhaftungen nicht gekippt wird, kann er in diesen Fragen keine Fortschritte erzielen. Erdogan ist nicht imstande zu verhandeln und Kompromisse einzugehen. Um seine Ohnmacht zu kaschieren, dreht er immer weiter an der Beleidigungsspirale. Er will mit dem Kopf durch die Wand und ist erstaunt, dass sich diese nicht bewegt. Man darf gespannt sein, welchen Anlauf er als Nächstes unternimmt.