Keine Spur von der versprochenen Normalität: Busse fahren nicht, der Verkehr bricht zusammen – das Konzept ist gescheitert. Eltern müssen Kinder überstürzt aus der Kita abholen. Doch G20 schafft auch besondere Momente

„Wir richten ja auch jährlich den Hafengeburtstag aus. Es wird Leute geben, die sich am 9. Juli wundern werden, dass der Gipfel schon vorbei ist.“

Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD), am 23. Juni 2017

Viele Hamburger wundern sich tatsächlich. Sie wundern sich über das Treffen der 20 Regierungschefs. Wie es sich anfühlt. Wie es klingt. Wie es riecht. Und wie es sich über das tägliche Leben legt. Es ist alles, aber bestimmt keine Tour über den Hafengeburtstag. Dieser Gipfel hinterlässt Spuren.

Sei es, weil sich die Bilder der Gewalt über TV-Bildschirme einprägen. Oder weil der Gestank verbrannter Autos über normalen Wohnvierteln hängt. Weil der Anruf aus der Kita, das Kind aus Sicherheitsgründen abzuholen, verstörend nachwirkt. Weil die Rotorengeräusche der Hubschrauber kaum Schlaf zulassen. Oder weil Radfahren selten so entspannt und im Stau stehen so anstrengend war.

Verkehrsplanung liegt nicht mehr in der Hand der Behörde

Seinen 31. Geburtstag hat sich Alexander aus Eimsbüttel jedenfalls erfreulicher vorgestellt. Seit anderthalb Stunden wartet er in seinem Auto vor der Ampel an der Kreuzung Beim Schlump/Grindelallee, weil die Polizei die Weiterfahrt verbietet. „Gleich soll eine dritte Kolonne hier durchkommen, dann geht es angeblich weiter“, erzählt er und reibt sich den Schweiß von der Stirn. Es ist erst 11.30 Uhr, aber schon 24 Grad warm – auch die auf der Kreuzung postierten Beamten aus Nordrhein-Westfalen haben rote Wangen.

Er habe „schon irgendwie“ Verständnis für die Maßnahme, sagt Alexander. Irgendwie müssten die G20-Teilnehmer ja nun einmal zu den Messehallen gelangen. „Solange mein Auto nicht brennt ...“ Er ringt sich ein Grinsen ab. Hinter ihm bilden Autos eine lange Schlange. Einige Fahrer stehen auf der Straße, nippen an Getränken. Auf der Kreuzung sprechen die Polizisten in ihre Funkgeräte. Dann kommt die dritte Kolonne. Schwarze Limousinen fahren vorbei, begleitet von Streifenwagen mit Blaulicht. Zehn Minuten später räumen die Beamten die Leitkegel auf der Kreuzung ab. Endlich freie Fahrt. Alexander gibt Gas.

Alles weitestgehend normal in Hamburg? Von wegen. „Überhaupt nichts ist hier normal“, sagt die Besitzerin des „Kiosk Esplanade“. Vor ihrer Tür ist gerade geräumt worden. „Natürlich habe ich Angst“, sagt sie. „Hier ist nichts mehr normal.“ Sie habe aber auch nicht erwartet, dass das Leben geordnet weiterläuft. „Doch die Polizei hat mir versichert, dass hier nichts passiert.“ Ihr Mann sei auch mit zur Arbeit gekommen, weil ein mulmiges Gefühl da sei. „Ich hoffe, dass dieser Gipfel, dieses Chaos bald vorbei ist“, sagt sie. Ihren Namen? Will sie nicht nennen. Aus Angst.

„Was den Verkehr angeht, hat der G20-Gipfel große Teile der Stadt zum Erliegen gebracht“, sagt Christian Hieff, Sprecher des ADAC Hansa. Die Sicherheitslage sei sehr unübersichtlich und führe zu immer neuen Einschränkungen. „Das Problem wird es auch am Sonnabend geben“, sagt Hieff. Vor allem, wer zum Flughafen wolle, sollte viel Zeit einplanen und möglichst die S-Bahn nehmen, rät er.

Das Verkehrskonzept für den Gipfel hat sich längst selbst überholt. Die Straßen in die Innenstadt sind dauerhaft gesperrt, anders als geplant. Kolonnen nur kurz durchzulassen und dann wieder zu öffnen: utopisch. „Wir haben von Anfang an darauf hingewiesen, dass es für Autofahrer sehr schwierig wird und sie dringend auf den Schienenverkehr ausweichen sollen“, sagt Behördensprecherin Susanne Meinecke. „Das hat auch über weite Strecken gegriffen.“ Dass gewalttätige Demonstranten marodierend durch die Straßen ziehen, lag außerhalb der Vorstellungskraft, sagt Meinecke. Die Verkehrsplanung habe wegen der brenzligen Lagen nicht mehr in der Hand der Verkehrsbehörde gelegen. „In solchen Situationen entscheidet die Polizei.“

Die Polizei dürfte die Verkehrslage und die damit verbundenen Herausforderungen am Freitag falsch eingeschätzt haben. „Wir haben den Leuten erzählt, dass die Protokollstrecken nur temporär gesperrt sind und Autofahrer mit überschaubaren Wartezeiten rechnen müssten“, sagt ein Beamter von einem der zahlreichen Kommunikationsteams.

Während des laufenden Einsatzes habe man allerdings festgestellt, dass es rund eine Stunde dauern würde, um den Verkehr auf den Protokollstrecken, wie Beamte es sagen, „herauszunehmen“. Deshalb habe man sich kurzfristig entschlossen, die großflächige Sperrung durchgehend bestehen zu lassen. „Für uns ist das natürlich eine unschöne Situation“, sagt der Beamte. „Die Leute bezeichnen uns als Lügner.“

Nicht nur Autofahrer haben mit Sperrungen zu kämpfen. Das Nachsehen hat auch, wer in der City einen Bus nutzen will: Um 8.30 Uhr am Freitag stellt die Hochbahn den Einsatz von Shuttlebussen ein – sie sollten eigentlich vom Rand des Rings 1 aus auf den regulären Linien fahren, möglichst im Zehnminutentakt. „Durch diverse Demonstrationen haben sich die Rahmenbedingungen geändert“, sagt Hochbahn-Sprecher Christoph Kreienbaum. Auf etlichen Linien außerhalb der City fahren Busse am Freitag zeitweise verkürzt oder gar nicht.

Auch auf den U-Bahn-Linien gibt es Störungen. So fahren Züge der U 3 zeitweise nicht zwischen Schlump und Rathaus und ohne Halt in St. Pauli. U-4-Bahnen halten zeitweise nicht am Überseequartier. Einige S-Bahnen müssen am Freitagnachmittag vorübergehend ohne Halt an den Landungsbrücken und der Reeperbahn vorbeifahren – auf Anordnung der Polizei. Es kommt zu Verspätungen und einige Zugausfällen.

„Heute geht es nur um die Sicherheit der Mitarbeiter“

Überwiegend reibungslos rollen Radfahrer am Freitag durch die Stadt. „Hamburg ist quasi über Nacht zu einer Fahrradstadt geworden“, sagt Dirk Lau, stellvertretender Vorsitzender des Fahrrad-Clubs ADFC in der Hansestadt. „Wir bekommen begeisterte Rückmeldungen von unseren Mitgliedern und viele Fotos geschickt, wie schnell und entspannt es an diesem Tag mit dem Rad vorangeht.“ Nur an wenigen Stellen, etwa am Gästehaus des Senats an der Außenalster, wo Donald Trump übernachtet, sei auch der Radverkehr gestoppt worden. Lau wünscht sich, dass Radfahrer häufiger so entspannt ans Ziel kommen. „Ein autofreier Tag pro Monat – das wäre ein Anfang“, sagt er.

Aufgrund des G20-Gipfels entschieden sich einige Profis des FC St. Pauli, den Weg zum Trainingsgelände in Niendorf nicht mit dem Auto zurückzulegen. Neben Daniel Buballa und Svend Brodersen, die ohnehin regelmäßig mit dem Fahrrad zum Training kommen, nehmen auch Brian Koglin und Maurice Litka das Zweirad, um so möglichen Straßensperrungen aus dem Weg zu gehen.

Gravierend sind die Auswirkungen der Blockaden und Demos auf den Hamburger Einzelhandel. Vor allem die Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und der Polizei gegen 9 Uhr an der Ecke Jungfernstieg/Neuer Jungfernstieg habe ankommende Mitarbeiter „verstört und verunsichert“, sagt City-Managerin Brigitte Engler. „Wir haben nicht mit einem derart großen Polizeieinsatz in der City gerechnet.“ Die meisten Geschäfte in der Innenstadt schließen deshalb am Freitag schon mittags oder am frühen Nachmittag. In der Europa Passage waren wenig später die meisten Läden zu. Sich in der Hamburger Innenstadt rund um das Rathaus ein Brötchen kaufen? Es war fast unmöglich. „Wie sich das auf den Umsatz auswirkt, ist gerade kein Thema mehr“, sagt Engler. „Heute geht es nur um die Sicherheit der Mitarbeiter.“

Martina Pilz, die bei Daniel Wischer in Rathausnähe arbeitet, wäre lieber zu Hause. Das Geschäft laufe ohnehin nicht. „Es hieß von der Politik, es bleibt sicher, wir würden vom Gipfel nichts merken. Von wegen!“, sagt sie. Angesichts der vielen Polizei und der Bilder der gewalttätigen Demonstration am Vorabend habe sie ein mulmiges Gefühl. Und John, Tourist aus San Francisco, sagt: „Hätte ich gewusst, welche Auswirkungen G20 auf Hamburg hat, wäre ich nicht hierher gekommen.“ Am Donnerstag hat der Amerikaner fünf Stunden im Taxi verbracht, um von einem Ort in Hamburg zum anderen zu kommen. Immerhin hat er noch ein Taxi bekommen: „Es war sehr schwer, überhaupt eines zu erwischen“, sagt er. Nach der Sightseeing-Tour durch die Innenstadt geht es weiter nach Dänemark. „Ich bin froh, wenn ich hier weg bin“, sagt John.

Rote Ampeln zählen längst nicht mehr – trotz Polizei

Geräuschlos vorbei geht der Gipfel auch nicht an den Menschen in den Stadtteilen jenseits von Elbphilharmonie, Innenstadt und Messenähe: An der Osterstraße in Eimsbüttel machen die Läden bereits um 15.30 Uhr dicht, aus Angst vor Demonstrationen. Schließlich waren am Vorabend die Scheiben der Haspa-Filiale eingeschlagen worden. Das Mercado in Ottensen schließt, die meisten Läden an der Ottenser Hauptstraße ebenso.

Auf der Uhlenhorst am Hofweg herrscht für den Gastronomen Fabio Lestingi persönlicher Ausnahmezustand. Ihm wurde weder Ware geliefert, noch sind seine Kellner zur Arbeit erschienen. „Sie wohnen in Altona und kommen dort nicht weg.“ Edeka Niemerszein am Hofweg wartet ebenfalls vergeblich auf Ware. „Milch- und Molkereiprodukte sowie Obst und Gemüse werden momentan nicht geliefert“, sagt Mitarbeiter Michael Steinmetz. Er und seine Kollegen haben diese Probleme einkalkuliert. „Wir haben zu Mittwoch sehr viel mehr bestellt als üblich. Sonst hätten wir jetzt leere Regale.“

Es sind die Tage der Gegensätze. Dort, wo es keine gewalttätigen Demos gibt, ist die Stimmung friedlich, ruhig, fast surreal. Ohne Autoverkehr ist es morgens um 8 Uhr auf den Hauptverkehrsstraßen wie auf der Grindelallee still. An der Osterstraße sitzen die Menschen in Cafés, genießen das Sommerwetter, genau wie in Hoheluft-West oder in der Schanze. Mögen die Krawalle heftig sein – die Hamburger scheinen in diesem Chaos zusammenzurücken.

Sie erkunden tagsüber ihre Stadt per Fahrrad und staunen über Sitzblockaden an der Weidenallee, über den Fuhrpark der Polizei wenig später vor der Musikhalle, über Wasserwerfer und panzerartige Räumfahrzeuge. Man staunt still und zusammen über das, was in der Stadt geschieht, filmt es mit dem Handy, weil man es kaum fassen kann. Da ist etwas Anarchie, in der friedlichen Variante: Noch nie war so viel Polizei vor Ort und trotzdem macht jeder, was er will. Rote Ampeln? Zählen nicht, wenn es kaum Autos auf gesperrten Straßen gibt. Freihändig auf dem Fahrrad auf der Dammtorstraße zu fahren? In diesen Tagen möglich. Fußballspielen auf der Marktstraße? Kein Problem.

Das haben Mario Bloehm und Gisela Aguirre gemacht. „Die Krawalle waren zu erwarten, überrascht bin ich über so viel Positives“, sagt Frau Aguirre. Positives, wie der Nachbar, der auf seinem Balkon laut Musik macht und mit anderen tanzt oder wie an der Feldstraße: Im fünften Stock dröhnt aus riesigen Lautsprecherboxen Loungemusik. Hamburg ist widersprüchlich wie selten: Dort Loungemusik und Tanz, ein paar Meter weiter Wasserwerfer und Polizeisirenen.

„Wir spüren eine tolle Gemeinschaft unter den Hamburgern“, sagt Gisela Aguirre. Als sie an einer Yogagruppe vorbeifuhr, die auf der Kennedybrücke ihre Übungen machte – als friedlichen Protest, habe sie weinen müssen. „Leider prägen die Krawallmacher das Bild in den Medien, aber sie sind eine Minderheit. So eine Welt wollen wir nicht. Wir wollen die Menschen zusammenbringen.“ Auch das schafft G20 in diesen Tagen. Nur nicht überall.