Boom-Sportart Die weltbesten Profis spielen von Freitag an in der Wilhelmsburger Inselparkhalle. Zuschauerzahlen und TV-Quoten steigen rasant

Nicht wundern bitte, wenn Ihnen am Wochenende am Inselpark in Wilhelmsburg Schweine entgegenkommen – oder Zwerge, Cowboys, Bananen, Sternenkrieger. Eben durch­geknallt buntes Volk. Oft mit Promillepegel. Denn von Freitag bis Sonntag herrscht wieder Ausnahmezustand rund um die Sporthalle, wo sonst die Hamburg Towers oder die BG Baskets ihre Basketball-Moves zeigen. Aber jetzt, jetzt ist wieder Darts-Karneval, diese Mischung aus Prunkkappensitzung, Last Night of the Proms, Circus Roncalli – und – ja, doch – Sport.

Also Darts. Pfeile werfen auf eine Scheibe. Kennt jeder, hat jeder schon mal gemacht. Auf der Geburtstagsparty, in der Kneipe, bei Freunden. Dazu noch ein Bier. Kann man nachvollziehen, Volltreffer sind schwer, aber nicht unmöglich. „Die Einstiegshürde ist nicht so hoch“, sagt Niclas Junker, Sprecher der Professional Darts Corporation Europe. Das ist ein Erfolgsgeheimnis. Aber bei Weitem nicht das einzige für den Boom rund um die fliegenden Pfeile, der in Deutschland unaufhaltsam scheint – und eben auch in Hamburg.

Am Sonnabend und Sonntag ist die Halle mit ihren 2300 Plätzen längst ausverkauft, für Freitag (13 und 19 Uhr) gibt es noch Restkarten. Die Profis machen Station auf der Elbinsel, zum zweiten Mal nach 2016: European Darts Matchplay. Ein Weltklassefeld der besten europäischen Spieler. Topleute, die man aus dem Fernsehen kennt: Weltmeister Michael van Gerwen, die Glatze aus den Niederlanden, Peter Wright, der Schotte mit dem bunten Haupthaar, Dave Chisnell, „Chizzy“, Engländer und Spezialist für 180er. Der Österreicher Mensur Suljovic, „The Gentle“, der es als bisher einziger deutschprachiger Spieler in die absolute Weltklasse geschafft hat.

Alles Typen. Nicht immer mehr jung, nicht immer mit sportlichem Body, dafür auch mal Tattoo und Plauze, also Spieler, denen du das Leben ansiehst. Prototyp ist der Topstar der 2000er-Jahre, Phil Taylor. „The Power“, ein Blue-Collar-Brite wie aus dem Bilderbuch. Dass der 16-malige Weltmeister seine Karriere in den Pubs von Stoke-on-Trent begonnen hat, sah man ihm auch als Profi stets an. So geht Identifikationsfigur. „Wir haben Stars zum Anfassen“, sagt Junker, „keine abgehobenen Millionäre, die mit ihren Fans gar nichts mehr gemeinsam haben.“

Das zieht. Knapp 300.000 Zuschauer erwartet die PDC Europe auf ihren 14 Turnieren in Hallen in Deutschland, Österreich, Belgien, den Niederlanden und Gibraltar. So viele wie noch nie. Das Preisgeld ist auf 835.000 Pfund (958.000 Euro) gestiegen, der Sieger in Hamburg kann rund 29.000 Euro einstreichen. „Die Tour ist größer als jemals zuvor“, freut sich Werner von Moltke jun., der Präsident und Gründer der PDC Europe (anfangs hieß der Verband German Darts Corporation).

2007 begann er mit drei Turnieren und hatte dabei offensichtlich einen Nerv getroffen. Und eine Goldgrube entdeckt, denn er besitzt die alleinigen Vermarktungsrechte für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Acht Turniere gibt es allein in Deutschland, zwei mehr als 2016. Moltke arbeitet natürlich eng mit der „originalen“ PDC in England zusammen, die unter dem auch als Box-promoter tätigen Geschäftsmann Barry Hearn seit 2001 den einstigen Kneipensport zu dem bunten Event entwickelte, das es heute ist.

Dazu gehören die leicht bekleideten Mädels, die die Spieler zu ihren Duellen auf die Bühne begleiten, „Caller“ titulierte Ansager, die mit prägnanter Röhrenstimme den Spielstand ansagen („Onehundredandsixty!“), individuelle Einmarsch-Musiken der Spieler und eben die Partystimmung im Saal. Das Bier ist geblieben vom Pub, der Karneval mit den Verkleidungen kam dazu. Begonnen hat all das bei den spleenigen Briten bei der WM im Londoner Alexander Palace, „Ally Pally“, die immer „zwischen den Jahren“ ausgetragen wird. Vor etwa 20 Jahren sei das losgegangen, sagt PDC-Sprecher Dave Allen: „Das hatte wohl auch damit zu tun, dass das Turnier in der Weihnachtszeit stattfindet, die Fans haben daraus eine Feier gemacht. Mit der Zeit ist das immer mehr geworden.“

Party mit Ballermannstimmung ist das eine. Dann gibt es aber noch die leicht nachvollziehbaren Regeln und die kurzen, prägnanten Duelle, Mann gegen Mann. Den Sport. „Es ist wie alle zwei Minuten Elfmeterschießen. Es ist immer spannend. Der Spielstand kann sich immer wieder drehen“, sagt Timo Gans.

Der Münchner verdient sein Geld als Manager von Max Hopp (20), dem großen Hoffnungsträger für den deutschen Markt. „The Maximizer“ belegt Platz 42 der Weltrangliste. „Er spielt so gut wie nie, aber ihm fehlen noch die Ergebnisse“, sagt Gans. Auf diese „Ergebnisse“ hofft auch die PDC Europe. „Es ist ein Nachteil, dass wir noch keinen deutschen Spieler in der absoluten Weltklasse haben“, sagt Junker, „der Hype würde dann sicher noch weitersteigen.“

In Hamburg sind 350 Spieler in Dartvereinen organisiert

Die Basis dafür scheint jedoch gelegt. Darts boomt in Deutschland auch bei den Aktiven. Rund 10.000 sind bundesweit in Vereinen organisiert. Das ist sicherlich auch ausgelöst durch die TV-Präsenz und die bekannten Vorbilder. „Wir haben dadurch einen großen Zuwachs“, meint jedenfalls François Huguenin, der Präsident des Landesdartverbands Hamburg. 350 Spieler sind das derzeit in neun Vereinen, Tendenz steigend. Gerade hat Altona 93 eine Dart­abteilung gegründet.

Die „Dunkelziffer“ der Spieler ohne Vereinszugehörigkeit ist noch deutlich höher, von bis zu 1000 Spielern insgesamt geht Huguenin aus, darunter sind auch die E-Dartspieler. Das aber ist dann wirklich Kneipensport, Plastikpfeile, elektronische Scoreboards, die irgendwo zwischen Tresen und WC-Tür hängen. Der Spaß aber ist der gleiche. „Zielen, werfen – das kann zunächst jeder, das ist eine natürliche Bewegung“, weiß Huguenin, „die Mischung aus Anspannung und Lockerheit, die vor dem Wurf nötig ist, finde ich faszinierend.“

Und weil wir ja in Deutschland sind, besteht ein komplexes, gut organisiertes Ligensystem von Bundesliga bis Landesliga einschließlich Jugendförderung. „Wir wollen das Kneipenimage hinter uns lassen“, meint der Hamburger Präsident, „Jugendliche können nicht in Raucherkneipen spielen.“

Die Nachwuchsförderung begründet die Hoffnung auf weitere deutsche Topspieler, die es mit den Briten und Niederländern aufnehmen können, so, wie es dem 20 Jahre alten Hopp schon ab und an gelingt. Dass der Hesse aus Idstein die Großen schlagen kann, bewies er erst vergangene Woche, als er bei der Team-WM in Frankfurt den niederlän­dischen Ex-Weltmeister Raymond van Barneveld bezwang. Trotzdem musste er sich am Donnerstagabend noch für das Hauptfeld qualifizieren, um in Hamburg seiner Rolle als Lokalmatador am Wochenende gerecht werden zu können.

2016 warf sich Hopp in der Inselparkhalle immerhin bis ins Viertelfinale durch. „Hopp, Hopp, Hopp“, schallte es lautstark durch den Saal bis hoch zur Bühne, wenn er zu den Pfeilen griff. „Ich finde das Halligalli total geil und versuche, alles in mich aufzusaugen“, sagt er, „die deutschen Fans sind immer da und total super.“

Es riecht nach Schweiß und Bier in den Hallen, die immer nach dem gleichen Muster aufgebaut sind. Auf der einen Stirnseite ist die Bühne mit der Dartscheibe, im Parkett sitzen die kostümierten Fans an langen Partytischen, gegenüber die Bar mit zahlreichen Zapfhähnen. Und, wichtig für die Macher: Das Publikum ist jung, erlebnisorientiert. „Zwischen 20 und 30 Jahre hauptsächlich“, weiß Junker.

Die Show ist prächtig inszeniert, der hauptberufliche englische Caller Russ Bray („The Voice“) zelebriert sein Runterzählen, die Pfeile dringen mit einem tiefen, mikrofonverstärkten „Plopp“ in die Scheibe ein, die auf dem Monitor überall bestens zu erkennen ist. Schafft ein Spieler die 180 (Dreimal Triple 60), das Non-Plus-Ultra seiner Würfe, explodiert das Feiervolk im Jubel.

Alles läuft ab wie beim großen Vorbild, der WM im „Ally Pally“. Die Fernsehbilder davon sorgen für eine Mischung aus Grusel, Schämen und Faszination. Auch zahlreiche deutsche Promis der Kategorie Oliver Pocher wollen das Spektakel inzwischen live sehen und dort gesehen werden.

Für den Münchner TV-Sender Sport1 ist Darts ebenfalls zu einer Erfolgsgeschichte geworden. Vom Auftakt bis zum Finale verfolgten zwischen Weihnachten und Neujahr 2016 im Schnitt 480.000 Zuschauer die Liveübertragungen – so viele wie nie zuvor. In der Spitze schalteten beim Finale 1,95 Millionen Zuschauer ein. Der Markt­anteil lag bei 4,9 Prozent. In der werberelevanten Zielgruppe der 19- bis 49-Jährigen waren es sogar 11,5 Prozent. Für den Spartensender ein Meilenstein.

„Die WM rund um Weihnachten und Neujahr hat inzwischen Kultstatus“, behauptet Sport1-Vorstand Olaf Schröder: „Anfangs belächelt, fasziniert Darts inzwischen auch hier eine große und weiter wachsende Fangemeinde.“

Kräftige Ordner passen auf: Wer stört, fliegt raus

Kommentator Elmar Paulke hat sich durch seine Übertragungen bei Sport1 inzwischen selbst einen Kultstatus erarbeitet, er schreibt Bücher über das Thema, moderiert, steht für Darts. „Der Profiverband arbeitet bei der Präsentation von Darts bewusst mit Kontrasten. Also, Präzision auf der einen, aber auch verrückte, lautstarke Fans auf der anderen Seite. Man sollte ja eigentlich meinen, dass die Spieler bei einer Präzisionssportart Ruhe bräuchten“, sagt der 47-Jährige.

Dabei ist es erstaunlich, wie viel die Fans zwischen ihren Getränkerunden, Gesangseinlagen, Aufstehen, Hinsetzen und „Händewaschen“ tatsächlich mit­bekommen von dem sportlichen Geschehen auf der Bühne. Und wie grundfriedlich trotz erheblichen Alkoholgehalts schon nachmittags alles abläuft. „Wir sind natürlich auf alles vorbereitet“, sagt Junker. Wer stört, fliegt raus. Kräftige Ordner stehen zum Eingreifen bereit, übermäßig Trunkene erhalten erst gar keinen Zutritt. Sanitäter stehen für jede Form von Erster Hilfe bereit. „Aber grundsätzlich geht es bei uns völlig friedlich zu, die Fans unterstützen jeden und bejubeln jede 180“, so Junker.

Nur bei der Mannschafts-WM in Frankfurt gab es Misstöne, als die Gegner des deutschen Teams ausgebuht wurden. Das war Fußballfan-Verhalten. Das gibt es beim Darts eigentlich nicht. Aber das werden die Deutschen auch noch lernen. Denn wer als Banane feiert, der pfeift nicht.