Für Kanzlerkandidatender SPD steht es nach Wahlen 0:3.Will er doch noch an die Macht, sollte er sich dringend an seinen Partei-Vize halten. Eine Analyse von Matthias Iken

Wo war eigentlich Olaf Scholz? Zumindest drängte er sich im Moment der brutalen Niederlage nicht in den Vordergrund. Ein sichtlich angeschlagener Martin Schulz, Einmonatshoffnungsträger, sprach unumwunden von einem „schweren Tag“ für die SPD, von einer „krachenden Niederlage“. Und hinter ihm hatten einige SPD-Vize Leichenmienen aufgesetzt, die sie schon bei den beiden vergangenen Wahlen üben konnten. Ralf Stegner sah man am Sonntag den körperlichen Schmerz über das Ergebnis an. Berlins Bürgermeister Michael Müller wirkte noch blasser als sonst, und Thorsten Schäfer-Gümpel aus Hessen sah aus, als seien seine Mundwinkel festgetackert. Bei 31,2 Prozent waren die Balkendiagramme für die SPD in Nordrhein-Westfalen stecken geblieben; dieses Ergebnis in der Herzkammer der Sozialdemokratie ist kein Vorhofflimmern mehr, das ist ein schwerer Infarkt.

Um die SPD bis zur Bundestagswahl wieder einigermaßen auf die Höhe zu bringen, werden nun Therapien diskutiert. Wunderheiler, das zeigt das schulzsche Strohfeuer, helfen nicht weiter. Es wird darum gehen, die Verfassung des Patienten auf Herz und Nieren zu prüfen. Und damit werden sie in der Sozialdemokratie zwangsläufig auf Olaf Scholz hören müssen. Mit dem richtigen Kandidaten, so der Hamburger Bürgermeister, „gibt es schnell zehn Prozentpunkte obendrauf“. Das sagte er im Juni 2016, als die SPD in Umfragen knapp oberhalb der 20-Prozent-Marke dümpelte. Und betonte mitten in diesem Sommer sozialdemokratischer Trübsal: „Für die SPD sind 30 Prozent plus x zu schaffen.“ Dass er damit vor allem sich meinte, dürfte nur den wenigsten verborgen geblieben sein. Aber seine Prognose traf später auf Schulz zu: Mit seiner Nominierung sprang die SPD binnen weniger Wochen nach dem überraschenden Rückzug von Sigmar Gabriel im Januar 2017 von 21 auf 32 Prozent. Heute fragt Gabriel seine letzten Getreuen nicht zu Unrecht, was man ihm wohl nach so einem Desaster wie in NRW vorgeworfen hätte.

In der Tat haben die Sozialdemokraten in den vergangenen Wochen wenig richtig und vieles falsch gemacht. Sie waren Gefangene einer Euphorie, die sie ausgelöst, aber Medien dann geschürt haben. Sie haben die Macht des Momentums erst über- und dann unterschätzt. Der Höhenflug in den Umfragen, die im dauererregten Berlin gern überinterpretiert werden, hat zwar bewiesen, was für die SPD möglich wäre. Aber das bedeutet nicht, dass es wahr wird. Viele Sozialdemokraten feierten die demoskopischen Daten und begingen dann schwere Fehler. Schulz verließ sich auf die Überzeugungskraft seines Wahlkampfschlagers „Soziale Gerechtigkeit“, genoss die Umfragen und schwieg. Die Neugier des Wahlvolkes auf seine Ideen enttäuschte er mit Allgemeinplätzen, Andeutungen. Mit wolkigem Vagen statt echtem Wagen. Viele Genossen zogen in der Erwartung eines sicheren Sieges so engagiert in den Kampf wie der HSV bei seinem 0:4 in Augsburg. Der Dreisprung der Wahlen führte nicht an die Macht, sondern in ein Tal der Tränen, der Rausch wandelte sich in einen schweren Kater.

Angst vor einem Linksbündnis reicht hierzulande zur Mehrheit

Im Saarland war die Niederlage der SPD-Hoffnungsträgerin Anke Rehlinger gegen die Union unter Annegret Kamp-Karrenbauer am 26. März auch noch Pech. Die CDU-Politikerin gehört zu den vier beliebtesten Ministerpräsidenten der Republik, die auch Gegner für sie einzunehmen vermag – einer Auswertung von Infratest zufolge spielen nur Winfried Kretschmann (Baden-Württemberg), Stanislaw Tillich (Sachsen) und Olaf Scholz in dieser Liga. Die Avancen der SPD in Richtung Linkspartei und ein mögliches rot-rotes Bündnis wurden zum besten Wahlhelfer für Kramp-Karrenbauer. Die Leute waren mit der Großen Koalition in Saarbrücken zufrieden, eine Wechselstimmung war kaum messbar, erst recht keine Stimmung für Rot-Rot. Das war der erste Streich.

Doch nach der SPD-Niederlage zogen nur wenige Sozialdemokraten Konsequenzen. Der Hamburger Johannes Kahrs, Vorsitzender des rechten Seeheimer Kreises, grollte: „Im Saarland hat die Aussicht auf eine Regierung mit Oskar Lafontaine und den Linken die CDU-Wähler und konservative Nichtwähler mobilisiert.“ Altkanzler Gerhard Schröder warnte eindringlich vor Rot-Rot-Grün. Und Olaf Scholz sagte nach dem Saar-Desaster, bezogen auf die Linkspartei: „Wer in Deutschland regieren will, muss vorher beweisen, dass er dazu in der Lage ist.“

Albig und Kraft vermasseln den Sieg

Das alles aber focht Torsten Albig, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, wenig an, dessen Selbstsicherheit am Ende in Selbstüberschätzung umschlug. Er brachte das Kunststück fertig, sein Amt zu verlieren, obwohl es keine Wechselstimmung gab. Albig schloss ein Bündnis mit der Linken nicht aus, positionierte seine SPD stramm links und schockte Teile seiner Anhängerschaft mit seltsamen Äußerungen in der Zeitschrift „Bunte“. Das Ergebnis der SPD in Schleswig-Holstein: 27,2 Prozent – sechs Prozentpunkte weniger als in den Umfragen kurz zuvor. Der zweite Streich. Olaf Scholz, der sich engagiert in den Wahlkampf eingemischt hatte, schäumte. Offiziell biss er sich auf die Zunge: „Das Wahlergebnis für die SPD Schleswig-Holstein ist enttäuschend“, sagte er dem Abendblatt.

Schlimmer noch – vor dem letzten Satz des „Dreisprungs“ warfen die Sozialdemokraten im Norden ihren Genossen Knüppel zwischen die Beine. Nach der Wahl in Kiel kippte die Stimmung in Nordrhein-Westfalen zugunsten der Union. Die Wähler sind nicht mehr wie früher durch Konfession, Beruf oder Herkunft auf eine Partei festgelegt, die Milieus erodieren – stattdessen ist der Wähler sprunghaft geworden und hüpft wie in der alten Fernseh-Kindershow „1,2 oder 3“ in letzter Sekunde auf die Seite des (vermeintlichen) Siegers.

Die Hauptschuld aber trägt Hannelore Kraft: Als Amtsinhaberin in Nordrhein-Westfalen bloße 31,2 Prozent einzufahren ist eigenes Versagen. Zu sehr ließ sie sich von den Grünen bestimmen. Und der nach den Silvesterübergriffen von Köln und in den Terrorermittlungen um Anis Amri stümpernde Innenminister Ralf Jäger war der beste Mann der Union – mit SPD-Parteibuch.

Die besondere Brisanz dieses Versagens zeigt sich in dem Ergebnis: 310.000 Stimmen verlor die SPD an die Union; wären es 75.000 weniger gewesen, hätte nun die SPD mit der FDP über eine Koalition in Nordrhein-Westfalen sprechen können. Und hätte mit einem Schlag die lähmende Rot-Rot-Grün-Debatte abgestreift. Es hätte eine Machtoption aus dem Nichts gegeben, ein Gottesgeschenk für Schulz. „Hätte, hätte, Fahrradkette“, wusste aber schon Peer Steinbrück. NRW war der dritte Streich.

Mit Rot-Rot-Grün lässt sich hierzulande kein Blumentopf gewinnen, erst recht keine Bundestagswahl. Ganz im Gegenteil: Allein das Gespenst des Linksbündnisses genügt, um eine Mehrheit rechts der Mitte zu organisieren: An Rhein und Ruhr gewannen die drei linken Parteien 42,5 Prozent; CDU, FDP und AfD 53 Prozent. In Schleswig-Holstein stand es nach Lagern 43,9 zu 49,4; im Saarland 46,5 zu 50,2 Prozent. Es gibt außerhalb von Kreuzberg und dem Schanzenviertel keine strukturelle Mehrheit für „R2G“ – auch das ist eine Folge des Aufstiegs der rechten AfD, die selbst unter ehemaligen linken Wählern wildert.

Der Erfolg der Union hat noch weitere Ursachen, die viele Sozialdemokraten entweder übersehen oder schlichtweg nicht wahrhaben wollen. Im Wahlkampfmodus schließt die Union ihre Reihen; selbst Merkel-Kritiker trommeln laut für die Union. Laschets Sieg (wer bei 33 Prozent von einem Triumph spricht, sollte mit seinen Wörtern haushalten – es war das zweitschlechteste Ergebnis der Union in NRW) war sicherlich kein Verdienst von Angela Merkel. Eher war es ein Sieg für Wolfgang Bosbach, den scharfen Merkel-Kritiker, den Laschet in sein Wahlkampfteam holte. Zudem hatte die Union – angefangen vom Staatsbürgerschafts-Vorstoß von Nachwuchshoffnung Jens Spahn bis hin zur Leitkultur-Debatte von Thomas de Maizière – ihre Stammklientel wiederentdeckt. Und nicht nur die – auch Nicht-Unions-Wähler sorgen sich um die innere Sicherheit.

Es zeigt die gnadenlose Cleverness der Union im Wahlkampf. Die CDU verspricht, die Probleme zu lösen, die sie mitverursacht hat. Union und FDP hatten einst die Schulzeit in Nordrhein-Westfalen verkürzt – eine Quelle des heutigen Bildungsstreits. Und die Silvesterübergriffe auf der Kölner Domplatte lassen sich kaum von Merkels Entscheidung der Grenzöffnung lösen. Aber Wähler haben ein kurzes Gedächtnis – sie fragen nicht, wer ein Problem verursacht hat, sondern wer eher in der Lage ist, es zu lösen.

Bei der denkwürdigen Erklärung der Wahlverlierer sagte Martin Schulz, dieser Sonntag werde dazu beitragen, „dass wir nachdenken müssen. Was haben wir bisher erreicht? Wo werden wir zulegen müssen?“

Siegen beim Sieger lernen – also in der Hansestadt

Von dieser Analyse hängen die Chancen der Sozialdemokratie ab, der Kanzlerin doch noch gefährlich zu werden. Schulz hat – abgesehen von einem Strohfeuer und einiger Tausend neuer Parteimitglieder – bislang wenig erreicht. Was liegt also näher, als nach Vorbildern in den eigenen Reihen zu suchen? Hannelore Kraft hat seit Sonntag ausgedient, da bleibt nur noch der Landespolitiker Olaf Scholz. Mit einem konsequenten Mitte-Kurs ist er der einzige Spitzenpolitiker der SPD, welcher der absoluten Mehrheit nahe ist.

Das Geheimnis seines Erfolges? Er setzt auf Inhalte und auf geräuschlose Arbeit: Er streitet nicht über Sinn oder Unsinn der Grenzöffnung von 2015, sondern schreibt ein Buch, wie Integration gelingen kann. Er geht Konflikten mit den Grünen nicht aus dem Weg. Und er lässt nicht die Union bestimmen, wo noch Platz für die SPD bleibt. In einer Zeit, in der die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) die Bundeswehr „säubern“ will, als plane sie eine Koalition mit der Linkspartei, stellt sich Olaf Scholz ihr entgegen. Daraus spricht ein Selbstbewusstsein, das die Sozialdemokratie nach Schröder oft vermissen ließ: „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“, sagt Scholz.

Immerhin zeigt das Momentum der vergangenen Woche, wie schnell Stimmen und Stimmungen wandern – ausschließen kann ein Jojo-Effekt niemand. Zumal die Union mit einer albigschen Siegesgewissheit noch auf die Nase fallen kann. Jens Spahn (CDU) sagte gestern, „am Ende können wir uns fast nur noch selbst schlagen ...“

Schulz hingegen erlebt in diesen Tagen, wie schwierig die Mission noch werden dürfte. Aus St. Martin kann im Falle einer vierten Niederlage in Folge schnell der gefallene Sünder werden. Dann dürfte Scholz’ Stunde schlagen. Gestern fehlte er nicht mehr auf dem Gruppenfoto der Verlierer; aber er stand am Rand, als habe er auch mit den 31,2 Prozent nur am Rande zu tun.