Daniel Günther wurde erst vor Kurzem zum Herausforderer von Ministerpräsident Torsten Albig gekürt. Aber kann ein Wahlsieg ohne Wechselstimmung gelingen?

Der Hals kratzt. Ausgerechnet jetzt. Der heiße Wahlkampf beginnt, und Daniel Günther ist erkältet. Seit Tagen reist der CDU-Spitzenkandidat durch das Land, von Wahlkampfstand zu Podiumsdiskussion, von Ortsverein zu Ortstermin, von Wahlkampfauftritt zu Pressekonferenz. Günther muss Klinken putzen, seine Bekanntheit steigern. In der letzten Umfrage des NDR gaben noch 31 Prozent der Bürger im Norden an, den Spitzenmann der Union nicht einmal zu kennen. Da kann er eine Erkältung nicht gebrauchen. Seine Assistentin reicht Lutschtabletten, die erste von vielen an diesem langen Tag. Wer um Stimmen kämpfen muss, dessen Stimme darf nicht versagen.

Mehr als 350 Kilometer stehen heute auf dem Programm, eine Rundreise durch den Norden des Landes, von Eckernförde nach Flensburg, weiter nach Bredstedt, nach Dithmarschen, zurück an die Ostküste und schließlich nach Kiel. Gleich mehrere Wahlkampfauftritte im Landesteil Schleswig, aus dem Günther — wie einige mäkeln — nicht einen einzigen Schatten in sein Schattenkabinett berufen hat. Ein Vorwurf, den der 43-Jährige nicht gelten lässt. „Schließlich komme ich aus Eckernförde.“

35 Prozent könnten für die Staatskanzlei reichen

Günther ist ein Überraschungskandidat — einer, den die regierende SPD um Ministerpräsident Torsten Albig nicht auf der Rechnung hatte. Ende Oktober hatte der designierte CDU-Kandidat Ingbert Liebling frustriert hingeworfen — zu niedrig war seine Bekanntheit, zu schlecht seine Umfragewerte, zu aussichtslos schien ihm der Kampf um die Staatskanzlei in Kiel. Parteichef Günther musste einspringen, um in der einstigen CDU-Hochburg zu retten, was zu retten ist. Auf 31 Prozent taxieren die Demoskopen die CDU derzeit. Günthers Ziel klingt historisch bescheiden, in Tagen wie diesen aber kühn. „35 Prozent“, lautet die Summe seiner Wünsche. Die könnten reichen, um der SPD nach fünf Jahren wieder die Macht zu entreißen. 10.000 Plakate, davon 500 Großplakate, und eine Kärrnertour durch das Land zwischen den Meeren sollen den Parteichef im ganzen Land bekannt machen.

Die erste Station an diesem Apriltag ist Flensburg, diese Fast-Großstadt nahe der dänischen Grenze. Lange Jahre hielt Flensburg bei der Arbeitslosigkeit die rote Laterne, inzwischen hat sich die Fördestadt vorangekämpft. Günther besucht das Projekt „Schutzengel“, eine Familienhilfsinitiative, die als vorbildlich gilt. Vorbildlich im sozialen Engagement der Bürger, vorbildlich in ihren Ergebnissen. Gegründet wurde die Initiative zur Jahrtausendwende, nachdem eine Mutter ihr Baby misshandelt und im Backofen verbrannt hatte, ein Fall, der weit über Flensburg hinaus Wellen schlug. „Ich hatte damals mein viertes gesundes Kind geboren und wollte mich mit dieser Nachricht nicht abfinden“, sagt die Vorstandssprecherin Christiane Dethleffsen. Plastisch und couragiert erzählt die Mediatorin und Lehrerin eine kleine Erfolgsgeschichte bürgerlichen Engagements — und Günther sitzt an dem großen Holztisch und hört einfach zu. Hier und da stellt er eine Frage, es redet Dethleffsen. „Sie dürfen uns alles fragen“, sagt die Flensburgerin. „Sie mich auch“, antwortet der Wahlkämpfer. Will er nicht reden oder kann er es nicht wegen des kratzenden Halses? Müssen Wahlkämpfer eher zuhören oder schnacken? Ist Schweigen Schwäche oder eher Stärke? Zumindest ist es ungewöhnlich.

Seine Gegner werden es ihm als Schwäche auslegen. Günther sieht jünger aus als 43 – die Politik ist das einzige Feld, auf dem das keine gute Nachricht sein muss. Auf einem JU-Parteitag würde der Chef der CDU-Fraktion als Nachwuchsdelegierter durchgehen; und wenn er seine Hände in den Hosentasche lässt, wirkt er mitunter wie ein etwas verlorener Junge. Aber das Jungenhafte schafft zugleich Nähe.

Günthers Tochter sieht ihren Papa vor allem auf Plakaten

Auf Dethleffsen macht Günther Eindruck: „Wenn Sie Ministerpräsident sind, wünschen wir uns ein Fachministerium, das gut besetzt ist“, sagt sie in Vorgriff auf die Wahlen. Und lobt den CDU-Politiker: „Dass Sie heute hier sind, zeigt, wie viel Kraft Sie in das Thema Familie hineingeben.“ Das Thema treibt Günther persönlich um – seine Tochter Frieda ist 14 Monate alt, sie trifft ihren Vater derzeit mehr im TV oder auf Plakaten. „Wenn sie mich im Fernseher sieht, winkt sie“, erzählt der Kandidat. Darüber kann man lachen – oder schlucken. Günther erzählt, dass er mit dabei war, als seine Tochter die ersten acht Meter am Stück gelaufen ist. Und tröstet sich: „Es entscheiden nicht die vielen Stunden, sondern die intensiven.“ Die Familie ist sein Ausgleich für verdammt lange Tage, die früh am Morgen beginnen und erst gegen Mitternacht enden. Und das Laufen schafft Abstand – Günther ist Mittelstreckenläufer.

Kondition wird er noch benötigen im Wahlkampf. Sein nächster Termin führt ihn in den Historischen Krug in Oeversee, ein Haus, das sich „Genießer-Hotel“ nennt. Wirklich genießen kann Günther den Mittagstisch des CDU-Wirtschaftsrats aber nicht. Zunächst muss er einen Impulsvortrag zum Thema Energiewende halten und sich dann kritische Fragen zur Windenergie anhören. Auch wenn viele die „Verspargelung der Landschaft“ beklagen mögen, die Unternehmer wissen um das Gewicht der Branche in der Region. Es geht um Mindestabstände der Rotoren zu Häusern, um Repowering, um Strompreise. Der Windkraftausbau ist im Norden längst nicht mehr unumstritten; ein Drittel hält ihn für zu schnell, selbst bei den Grünen-Wählern überwiegen inzwischen die Skeptiker.

Günther, seine Hände halten die Rückenlehne des Stuhls vor ihm fest, skizziert sein Programm: „Wir müssen erstens in den Netzausbau investieren. Zweitens Strom speichern und drittens mehr Strom sinnvoll verbrauchen, etwa bei der Elektromobilität oder der Elek­tri­fizierung von Bahnstrecken.“ Das Thema treibt ihn um und macht ihn wütend, auch weil die anderen Bundesländer den Norden hängen lassen. „Das EEG belastet die Menschen in den Bundesländern, die am meisten zur Energiewende beitragen, mit den höchsten Kosten. Das ist ungerecht“, schimpft Günther. Zudem werde in Schleswig-Holstein Wegwerfstrom für 300 Millionen Euro produziert, weil die dort hergestellte Windenergie weder abfließen noch verbraucht werden könne. „Dafür hat im vergangenen Jahr jede Familie 40 Euro mehr als in Nordrhein-Westfalen bezahlt. Und es wird immer mehr, weil die Landesregierung weiter Windräder bauen lässt. Nächstes Jahr sind das schon 100 Euro.“

Bevor im Saal Sauerfleisch von der Makeruper Ente aufgetragen wird, muss Günther weiter – mehr als ein Salat im Auto ist nicht drin. Wahlkampf ist kein Festessen, sondern Kilometerfressen. Die Politiker reisen von Ort zu Ort, von Küste zu Küste. Die Schönheiten Schleswig-Holsteins, im Tourismusranking immerhin Vierter, verschwimmen; die Landschaften jagen am verdunkelten Fenster der Limousine vorbei, Günther kann sie weder schauen noch genießen. Im Auto wird gearbeitet, der Kandidat checkt Mails, konferiert am Telefon, bereitet Termine vor. Der Wahlkämpfer fährt nicht übers Land, mitunter er rast durch einen Tunnel. Sein nächster Termin führt ihn nach Bredstedt zum Nordfriisk Instituut. Für die CDU ein Auswärtsspiel, seitdem der Südschleswigsche Wählerverband Teil der Küs-tenkoalition ist. Dank der Regierungs-beteiligung des SSW fließen Förder-gelder und Hilfen noch flüssiger nach Schleswig; für die nationale Minderheit der Dänen und Friesen ein Glücksfall, für Haushälter eher ein Sündenfall. Das Regieren fiel der Küstenkoalition in den vergangenen Jahren auch deshalb leicht, weil die Steuern sprudelten und inhaltliche Gräben im Notfall stets mit Zuwendungen zu überbrücken waren. Aber die gemütlichen Zeiten mit Mehreinnahmen von 2,5 Milliarden Euro binnen einer Legislatur könnten, angesichts des HSH-Nordbank-Desasters und möglicher Konjunktureinbrüche, bald vorbei sein.

Noch regiert in Schleswig-Holstein aber die gute Laune. Eine Umfrage hat im Norden die glücklichsten Menschen ausgemacht, eine Wechselstimmung ist kaum auszumachen. 61 Prozent der Wahlberechtigten sind nach einer NDR-Umfrage mit der Arbeit der Landesregierung zufrieden. Deshalb verzichtet Günther auch – anders als sein Parteifreund Armin Laschet in Nordrhein-Westfalen – auf eine Schlusslichtdebatte. Zwar liegt das meerumschlungene Ländchen kaum besser in den Statistiken als das Indus­trieherz der Republik, aber die Stimmung ist eine andere.

Gegen den Abschiebestopp – und gegen alte Zöpfe

Auch bei den Nordfriesen: In der Bibliothek der wissenschaftlichen Einrichtung wird die friesische Sprache und Kultur gepflegt, gefördert und dokumentiert. Hier liegt ein Janosch-Bilderbuch auf Friesisch („Oo wat fain as Panama“) neben den „Schriften und Materialien“ des Nordfriisk Instituut: „Geistliche Versammlung und Trauerbrauchtum in Eiderstedt“, „Die Eiderstedter Landrechte von 1426 bis 1591“, „Sylter Landschaftsärzte 1786 bis 1890 und ihre Vorgänger“. Im Ausstellungsneubau nebenan wird Günther durch eine neue Ausstellung zur Geschichte Nordfrieslands und zur sprachlichen Vielfalt der Region geführt. Er hört vieles, er verspricht wenig.

Kurz darauf geht es weiter in eine Hochburg der Union, ins schwarze Dithmarschen. Im Saal des Landgasthofs Leesch hat der Schleswig-Holsteinische Gemeindetag zur Podiumsdiskussion eingeladen. Es gibt nur ein Mikrofon, aber reichlich Kirschkuchen und Rhabarber-Baiser. Streitthema sind die Gemeinde-Finanzen im Allgemeinen und die Kita-Finanzierung im Besonderen. Die Piraten haben Fraktionschef Patrick Breyer geschickt, die CDU ihren Spitzenkandidaten, SPD, Grüne und SSW Provinzgrößen. Die Fragen aus dem Publikum, vor allem schwarze Bürgermeister aus Dithmarschen, sind scharf und kritisch, auf dem Podium kann niemand Günther das Wasser reichen. „Dieses System der Kita-Finanzierung ist Quatsch und gehört abgeschafft“, wettert er und sagt unter dem Beifall der Zuhörer: „Unsere Kommunen sind unterfinanziert.“ Für Günther ein Heimspiel, ein klarer Sieg. Nur was hilft der Triumph in der Oberliga, wenn man in die Bundesliga will?

Günther muss bei den Unentschiedenen punkten, bei den Schwankenden. Er kennt seine Defizite. Seine mangelnde Bekanntheit? „Ich will nicht der bekannteste Schleswig-Holsteiner werden, sondern das Land gut regieren.“ Seine Themen? „Die Bildungspolitik und die Rückkehr zu G9, eine bessere Infrastruktur, ein sichereres Land.“ Sein bekanntester Vorstoß auf Bundesebene, eine Verteidigung des Schweinefleischs in Kantinen, brachte ihm Häme bis Bayern ein. Günther bleibt dabei: „Wenn mein muslimischer Nachbar zum Grillen kommt, gibt es für ihn Lamm, aber ich darf doch trotzdem Schweinefleisch essen.“ Günthers Vorstoß aus dem vergangenen Jahr darf man als Signal an seine auf dem Land noch erzkonservative Partei verstehen.

Konsequent lehnt Günther den Abschiebestopp nach Afghanistan ab. „Wer die Akzeptanz für unser Asylrecht erhalten will, muss auch zu Abschiebungen abgelehnter Bewerber bereit sein.“ Zugleich präsentiert sich Günther als liberaler Reformer – in Faltblättern der Partei dürfen schwule Männer Händchen halten. Das wäre vor 20 Jahren in der Nord-CDU vermutlich Anlass für einen Parteiausschluss gewesen.

„Nordländische Begeisterung“ im Schulzentrum Lütjenburg

Undenkbar war damals auch die Wahlkampf-Arena, zu der die CDU gleich 20-mal Parteifreunde und Interessierte unter dem Motto „Daniel Günther direkt“ lädt. Die Idee passt in den Norden wie eine Schwarzbunte in die Elbphilharmonie. Amerikanischer Wahlkampf im Hoffmann-von-Fallersleben-Schulzentrum in Lütjenburg: Lichtershow, laute Beats, der Einzug des Matadoren Günther. Die Aula ist voll, aber ein einziges hochgerecktes Plakat mit dem Konterfei des Kandidaten geht nicht einmal als „nordländische Begeisterung“ durch.

Der Spitzenkandidat muss seine eher überraschte denn überschäumende Basis überzeugen. Wie so oft benötigt er eine Aufwärmphase, bis er auf Betriebstemperatur hochfährt. Aber dann überrascht er mit rhetorischer Schärfe, obwohl seine angeschlagene Stimme zu schwinden droht. Die Rückkehr zum Abitur nach 13 Jahren verteidigt er mit Verve: „Wir haben uns damals von der Wirtschaft einreden lassen, dass unsere jungen Menschen zu alt sind“, sagt Günther. „Heute höre ich: Sie sind nicht reif.“ Nicht die Schnelligkeit müsse zählen, sondern die Qualität des Abiturs. „Wir müssen den jungen Menschen die Jugend zurückgeben.“ Da klatscht nicht nur der Nachwuchs.

„Anpacken statt Rumschnacken“ lautet sein Motto, das nicht so ganz zu dem schlaksigen jungen Mann passen will. In der Aula aber wächst seine Aura. „Albig erklärt und doziert. Ich will Pro­bleme lösen und daran gemessen werden, was wir umsetzen“, sagt Günther. Am 7. Mai entscheiden die Wähler. Bis dahin bleibt ihm nur wenig Zeit.

Nächster Teil am Donnerstag:
Wolfgang Kubicki