Schleswig-Holstein wählt am 7. Mai einen neuen Landtag. Wer sind die Spitzenpolitiker, was treibt sie um? Teil 2: Ein Porträt von Robert Habeck, der trotz seines Scheiterns im Bund ein Hoffnungsträger bleibt

Es dauert keine fünf Minuten, da hat Robert Habeck sein Publikum schon am Haken. Der Kieler Umweltminister ist in letzter Minute ins Rathaus von Kaltenkirchen gekommen, Termine in Hamburg hatten ihn aufgehalten. Gut 70 Bürger warten im Ratssaal des rot geklinkerten Zweckbaus bereits darauf, dass der Grünen-Politiker mit dem Star-Nimbus aus seinem Buch „Wer wagt, beginnt“ vorliest und mit ihnen diskutiert. Er sei zwar pünktlich gewesen, beginnt Habeck, „aber viele von Ihnen waren – na ja – überpünktlich.“ Dafür erntet er die ersten Schmunzler. Die Autobahn 7 aus Hamburg sei derzeit ja „nicht ganz so frei“. Erheitertes Gemurmel. „Sie können mich heute Abend alles fragen, und ich werde dann sehen, ob ich das beantworten kann – oder will“, fährt Habeck fort. Lacher im Publikum.

Der Minister, Dreieinhalbtagebart, schwarze Jeans mit breitem Ledergürtel, schwarzes Hemd und ebensolches Jackett, hofft auf einen „intelligenteren Abend, als es manche Wahlkampfveranstaltungen sind, bei denen in zehn Minuten die Welt gerettet werden soll“. Die Zuhörer grinsen anerkennend. Habeck bittet, nachher in der Pause die Stapel seiner Bücher leer zu kaufen. „Schließlich steht Weihnachten vor der Tür.“ ­Allgemeines Gelächter. Er hat das Publikum auf seiner Seite. Das kann er gut, locker sein, Kontakt zu Menschen aufbauen. Habeck mag Abende wie diese, an denen er den Bürgern nahekommt. Nicht die ganz großen Parteiveranstaltungen, zu denen ohnehin vorwiegend Grünen-Sympathisanten kommen, sondern intimere Rahmen mit Wählern, die sich für die Themen des 47-Jährigen interessieren – und für ihn als Person.

Politik nicht nur für das grüne Milieu zu machen, sondern „für das Land und die Menschen“, das ist seine Mission. Habeck ist in diesen Wochen viel unterwegs im Wahlkampf, stellt sein Buch vor, das es sogar zum „Spiegel“-Bestseller gebracht hat. Doch nicht als Spitzenkandidat seiner Partei, wie er immer wieder betont. Das ist, nach Habecks Ausflug in die Bundespolitik, seine Parteifreundin, Finanzministerin Monika Heinold, die im Vergleich zu ihm etwas blass wirkt. Man nimmt Habeck ab, dass er diese Situation als komfortabel empfindet. Sie gibt ihm Freiheit.

Und das Interesse richtet sich ja trotzdem auf ihn. Nicht zuletzt wegen seines großen Erfolgs im Januar bei der Urwahl für die Spitzenkandidatur der Bundes-Grünen bei der Bundestagswahl. Ein Erfolg, der eigentlich eine Niederlage war, sich aber trotzdem wie ein Sieg anfühlte und den Außenseiter aus dem hohen Norden zu einem Hoffnungsträger machte, gefeiert nicht nur in Schleswig-Holstein. Lediglich 75 Stimmen fehlten, dann hätte Habeck die Grünen in die Bundestagswahl geführt und nicht Parteichef Cem Özdemir. 35,74 Prozent der Stimmen gegen 35,96 Prozent, denkbar knapp. Die Episode habe er hinter sich gelassen, vorbei, erledigt, sagt Habeck; und er versichert es so häufig, dass Psychologen vielleicht sagen würden, er sei doch noch nicht durch damit.

Widersprüche bleiben auch an anderer Stelle. Habeck, der vor seiner Polit-Karriere gemeinsam mit seiner Frau Bücher schrieb, ist gut darin, seinen Werdegang zu einer Geschichte zu machen, zu einem Narrativ. Vor der Urwahl hatte er sich inszeniert als jemand, der alles auf eine Karte setzt, ohne Absicherung. Den Sprung in die Bundespolitik wage er ohne Plan B, die Spitzenkandidatur im Norden überlasse er Heinold. Am Ende aber ist er in Schleswig-Holstein weich gefallen. Bleiben die Grünen nach dem 7. Mai an der Macht, wird Habeck wohl wieder Minister und womöglich auch stellvertretender Ministerpräsident. Eine Art heimlicher Spitzenkandidat ist er in diesem Wahlkampf sowieso.

Im Norden will er die Niederlage in einen Erfolg ummünzen

Nun versucht er, die Niederlage nicht nur für sich persönlich, sondern auch für die Grünen in Schleswig-Holstein in einen Erfolg umzumünzen. Eine Welle zu erzeugen. Die letzte Umfrage sah die Partei im Norden bei zwölf Prozent, auf Bundesebene dümpeln die Grünen bei sieben Prozent. Es dürfte dem verschmähten Berliner Spitzenkandidaten Genugtuung verschaffen, wenn er den Bundesgrünen mit einem Spitzenwahlergebnis in Schleswig-Holstein, nicht gerade grünes Stammland, zeigen könnte, wie man Wahlkampf macht. Als Brückenbauer, der bis weit in das bürgerliche Lager hineinwirkt und die Grünen undogmatisch für weite Bevölkerungsschichten öffnen will. Der über Zwangsbeglückungsideen wie den „Veggie-Day“ nur den Kopf schütteln kann. Der Kompromisse nicht als Notlösung sieht, sondern als „Motor für Idealismus und Visionen“. Der für einen anderen Politikstil steht, einen Gegenentwurf zum Berliner Grünenbetrieb. Der, wie er an diesem Abend in Kaltenkirchen sagt,„eine andere Agrarpolitik mit den Bauern machen will und nicht gegen sie“.

Aus dem Publikum, überwiegend nicht mehr ganz jung, kommen viele Fragen zur Landwirtschaft, zum Einsatz von Düngemitteln und den Auswirkungen auf die Insekten, zur Vogelpest, die die Menschen hier stark bewegt. Einige sind kritisch, die meisten wohlwollend. Habeck lässt sich auf jeden intensiv ein, antwortet ausführlich, verheddert sich aber manchmal und findet nicht zur Frage zurück. Er weiß selbst, dass er heute nicht in Hochform ist. „Ich merke, dass der Tag lang war“, sagt er hinterher.

An guten Tagen kann Habeck sehr überzeugend sein, nachdenklich, gescheit, leidenschaftlich. Auch bei sehr konkreten Themen liefert er gern den größeren, weltanschaulichen Überbau mit. Wenn es um den Konflikt zwischen Schweinswalschutz und Fischerei geht oder darum, warum es lohnend ist, sich politisch zu engagieren und die Zukunft mitzugestalten. In solchen Momenten merkt man, dass er Doktor der Philosophie ist. Das Lieblingsbild, das er aus dem Philosophiestudium mitgenommen hat, ist das des Sisyphus, der in der griechischen Mythologie dazu verdammt ist, auf ewig einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen, der dann – fast am Gipfel angekommen – jedes Mal wieder hinunterrollt. „Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“, zitiert Habeck gern den französischen Schriftsteller Albert Camus. Auch Politiker, findet Habeck, muss man sich als glückliche Menschen vorstellen. Sich trotz aller Rückschläge immer weiter einzusetzen für seine Überzeugungen, auch wenn man nie fertig wird, bereitet Habeck Freude.

Auch davon erzählt er in Kaltenkirchen, gestikuliert und rauft sich, während er seine Gedanken entwickelt, schon mal die Haare. Ganz zufällig wird er nicht in die 21.000-Einwohner-Stadt im Norden der Hamburger Metropolregion gekommen sein. Knapp ein Drittel der wahlberechtigten Schleswig-Holsteiner lebt in einem der elf Wahlkreise im Süden des Landes – für alle Wahlkämpfer eine wichtige Region. Es gebe „eine gewisse Konzentration auf das Hamburger Umland“, bestätigt auch Habeck. Die Wähler dort seien nicht einfach für Kieler Themen zu erreichen, weil sie sich stark nach Hamburg orientierten.

So arbeiten auch viele Kaltenkirchener in Hamburg oder nutzen die Theater, schließlich ist die Hansestadt in einer guten halben Stunde über die A 7 zu erreichen. Die Stadt im Kreis Segeberg mit dem beschaulichen Ortskern um den Grünen Markt herum, der Holstentherme und dem grünen Umland hat es verstanden, sich als attraktiver Wohnort für Familien zu profilieren. Bis zu 1000 Wohnungen sollen in den kommenden Jahren gebaut werden.

Im Ratssaal spielt Habeck gekonnt mit den Erwartungen der Kaltenkirchener: Er gewährt einen kleinen Blick durchs Schlüsselloch auf das Leben eines Landesministers. In Kurzform geht das so: Als Minister hat man wahnsinnig lange Arbeitstage und viel zu tun, gilt als wichtig und wird allseits hofiert, doch um einmal in Ruhe über die anstehenden Probleme nachzudenken, muss man sich im Terminkalender richtig Zeit freischaufeln – oder auch, um mal rechtzeitig zum Essen mit Frau und vier Söhnen nach Hause zu kommen. Habeck selbst findet sich überhaupt nicht wichtig und das Hofieren lästig. „Macht wird kleiner, je näher man ihr kommt“, sagt er. Das macht ihn den Zuhörern sympathisch – ein Prominenter, der auf dem Boden geblieben ist. Gehört haben sie aber auch die Sub-Botschaft: Er ist stellvertretender Ministerpräsident, hat Macht und mischt bei den Wichtigen mit. Die Kaltenkirchener sind jedenfalls begeistert, wie nahbar dieser Mächtige ist. Einer, mit dem man nachher noch in der nächsten Kneipe ein Bier trinken gehen könnte. Charismatisch auf sehr unspektakuläre Art.

Die Grünen stellte sich Habeck als coole Robin Hoods vor

Schließlich liest Habeck aus seinem Buch die Passage vor, die davon handelt, wie seine Karriere bei den Grünen begann – mehr oder weniger zufällig. 2002 hatte sich der gebürtige Lübecker mit seiner Familie in einem kleinen Dorf an der dänischen Grenze niedergelassen. Er fühlte sich endlich angekommen, wollte es sich in seinem selbstgenügsamen Schriftstellerleben aber auch nicht zu gemütlich machen. Also in einer politischen Partei engagieren. Auch wenn die Grünen seit vier Jahren in der Bundesregierung waren, hatte Habeck auf dem Weg zu seiner ersten Kreisversammlung „das Bild von coolen, Robin-Hood-ähnlichen Vorkämpfern für eine bessere Welt im Kopf“. „Warum lachen Sie?“, fragt Habeck das Publikum grinsend.

Statt modernen Robin Hoods saßen im Hinterzimmer eines Landgasthofs aber 15 lustlose Menschen. Die Kommunalwahl nahte, doch es gab keine Kandidaten, kein Programm und keine Plakate. Wie sich schnell herausstellte, gab es nicht einmal einen Kreisvorstand, weil der alte aus Protest gegen die Bundeswehreinsätze im Kosovo und Afghanistan zurückgetreten war. „Mach du es doch!“, sagte einer. Und so wurde Habeck an seinem ersten Abend bei den Grünen gleich neuer Kreisvorsitzender in Schleswig-Flensburg.

Zwei Jahre später wiederholte sich das Spiel auf größerer Bühne. Kurz vor der Landtagswahl fiel der Landesvorsitzende bei der Listenaufstellung durch und gab sein Amt auf. Habeck hielt eine Rede und wurde Parteichef in Schleswig-Holstein. Vielleicht hatte er gehofft, sich mit der gleichen Mischung aus Fortune, Leichtigkeit und Chuzpe auf Bundesebene durchzusetzen. Einige Reden zu halten und Spitzenkandidat der Grünen für die Bundestagswahl zu werden – dieses Ziel hat er verfehlt. Knapp. Vorerst.

Der nächste Teil der Serie, Daniel Günther –
der Überraschungskandidat der CDU,
erscheint am 25. April.