Das 106. Nordderby am Ostersonntag (15.30 Uhr) steht stellvertretend für eine jahrhundertealte Rivalität.Vier Experten verraten, was dahintersteckt

Jens Meyer-Odewald

Als die Unternehmerin Birgitta Schulze van Loon ihren hausgemachten „Bremer Bitter“ in Hamburg feilbot, schluckte die Kundschaft überaus wissend, trank jedoch nicht. Und in einem namhaften Restaurant am Blankeneser Elbufer wurde ihr schnörkellos beschieden, an Produkten mit dieser Herkunft grundsätzlich nicht interessiert zu sein.

Kurzerhand ließ die plietsche Kauffrau neu etikettieren. Und siehe da: Seitdem sie ihre Spezialität aus 36 Kräutern, Früchten, Wurzeln und Rinde in Hamburg als „Bittere Wahrheit“ offeriert, greifen Genießer auch hier gerne zu. Andernorts in Deutschland blieb es beim bewährten Namen.

Mit der Stadt Bremen, so die kleine Lehre, ist an der Elbe wenig Staat zu machen. Nicht nur, aber besonders, wenn’s um Fußball geht. Hamburger Sportsfreunde mit Werderaner Herzblut können bestätigen: Bei der Farbkombination Grün und Weiß sehen in der größeren Hansestadt selbst friedfertige Zeitgenossen Rot. Umgekehrt gilt dies nicht minder: Die (sogenannte!) HSV-Raute gilt in Bremen als unbeliebtestes Vereinsem­blem überhaupt.

Am Ostersonntag zur Kaffeestunde ist es wieder so weit. Im 106. Bundesliga-Nordderby trifft der SV Werder im Weserstadion auf den Hamburger SV. Dieses Match hat Tradition: Keine Paarung in der ersten Klasse stand häufiger auf dem Programm. Langweilig war es nie. Es ging um Meisterschaften, Abstiegskämpfe, um Elfmeter, Platzverweise und Papierkugeln – und um viel mehr.

Dieser Kick, wissen altgediente Nordlichter auf beiden Seiten, steht stellvertretend für die jahrhundertealte, inbrünstig gepflegte Rivalität der beiden Hansestädte. Schiffe, Container, Konsulate, Kaffee, Baumwolle und Tiefseehäfen sind nur einige Stichworte. Neuerdings glänzt Hamburg mit seiner Elbphilharmonie. Fast gleichzeitig wurde die Hamburger Traditionswerft Blohm + Voss von Bremern übernommen. Ausgerechnet. Manchem am Unternehmenssitz in Hamburg-Steinwerder (Aha!) gelüstete nach einem Magenbitter. Aber bitte bloß nicht aus Bremen. Zumindest darf’s nicht draufstehen. Es geht um Lokalpatriotismus und um die altbewährte Praxis, durch Abgrenzung das Eigene zu betonen. Dabei sind sich gerade diejenigen, die sich geografisch, geschichtlich und habituell nahe sind, auch die, die sich am meisten beharken. Im optimalen Fall mit einem Augenzwinkern und nach dem abgedroschen klingenden, aber immer wahren Motto „Wer sich mag, der neckt sich“.

Genau unter dieser Prämisse bat das Abendblatt vier Bremen-Hamburg-Profis mit intensiver Beziehung zu beiden Städten zum, aber ja: Fachgespräch. Als Treffpunkt fürs Foto wurde ein bedeutungsvoller Ort gewählt: das Denkmal des Benediktinermönchs Ansgar auf der Trostbrücke in der Hamburger Innenstadt, backbords des Patriotischen Gebäudes. Auf der Flucht vor brandschatzenden Wikingern hatte der Apostel des Nordens anno 845 die Hammaburg verlassen und den Hauptsitz des Erzbistums nach Bremen verlegt. Eine Schmach und angeblich die Wurzel erbitterter Konkurrenz.

„Hamburg ist das Tor zur Welt, aber Bremen hat den Schlüssel dazu“, sagt nun also Laura Stürcken beim Cappuccino in einem Café an der Börsenbrücke – den Satz saugen Bremer mit der Muttermilch auf oder spätestens mit der ersten Pulle Beck’s. Quasi zum Aufwärmen steuert die 37-Jährige, die im Management der Barclaycard Arena arbeitet, zwei persönliche Erlebnisse bei: „Als ich mein Auto mit HB-Kennzeichen in eine Hamburger Werkstatt brachte, wollte es der Mechaniker nicht reparieren.“

Frau Stürckens Elternhaus steht
übrigens in Bremen-Schwachhausen – sie wusste also schon, bevor sie in die größere Hansestadt rübermachte, wie feudales Stadtleben aussieht. Seit 14 Jahren wohnt Stürcken jetzt in Hamburg, aktuell in Winterhude mit ihrem Lebensgefährten, einem HSV-Fan. Anekdote Nummer zwei: Seine Kumpels, allesamt überzeugte Rothosen, wollten Werder-Anhängerin Laura einst am Volkspark Stadionverbot erteilen, weil der HSV immer verlor, wenn sie da war. Natürlich Frotzelei, wie auch die Anmerkung des Automechanikers. Oft steckt aber auch ein Fünkchen Ernst dahinter.

Traditionell pflegen beide Städte auch innige Kontakte

Fast jeder der zahlreichen Hamburger Bremer kennt hämische Kommentare wie „Das Schönste an Bremen ist die Autobahn nach Hamburg“, „Bremen, das Dorf mit Straßenbahn“ oder „Bremen, der Vorort von Delmenhorst“. Bisweilen ist von der „Verbotenen Stadt“ die Rede. Andererseits nehmen Bremer die Hamburger wegen deren oft tatsächlich grundloser Borniertheit, Kofferpannen am Flughafen oder eben dem nicht selten im Krisenmodus befindlichen HSV auf die Schippe. Beim Namen Kühne kommen die Nachbarn von der Weser ebenfalls in Schwung.

Grundsätzlich gilt aber: „Die Bremer leben ihr Selbstbewusstsein mit angezogener Handbremse.“ So formuliert es der Hamburger Schiffsmakler Christoph Tamke, der auch sagt, dass „irgendwie immer ein Hamburger Schatten über Bremen liegt“. Der 52 Jahre alte Schifffahrtskaufmann mit Wohnsitz in Barmbek ist geschäftsführender Gesellschafter der Firma Menzell & Döhle. Sie beschäftigt weltweit 300 Mitarbeiter, davon 100 in Hamburg und 25 in Bremen. Auch Jens Lütjen kennt beide Seiten. Der Chef des Immobilienberatungs-Unternehmens Robert C. Spies mit 70 Kollegen und Hauptsitz in Bremen bezeichnet sich als „liberalen Hanseaten“. In seiner Hamburger Niederlassung an der Caffamacherreihe arbeiten 15 Mitstreiter. „Hamburg und Bremen wären sich wunderbar einig und sympathisch – wenn der Fußball nicht wäre“, meint Lütjen.

Es soll in manchen Bremer Wohnzimmern seit jeher Usus sein, bei der Einblendung der Tabelle in der „Sportschau“ reflexartig den HSV zu verdammen. Auch seriöse Hanseaten pflegen das zu tun, ganz egal, ob Heranwachsende anwesend sind. Wenn es bei Lütjen ähnlich war, hat er sich dieser Prägung längst entledigt. Wie alle Hanseaten weiß er eben, was im Zweifel geschäftsschädigend ist. Im grünen Anzug, sagt Lütjen, „fahre ich nicht nach Hamburg“. Nach Erfahrung des 50 Jahre alten Immobilienkaufmanns sind an der Weser ein Wort und ein Handschlag noch wichtiger als an Alster und Elbe. Auch weil die kleinere der beiden Städte überschaubarer ist und im Geschäftsalltag praktisch jeder jeden kenne. „In der Tat ist Bremen ein Ort der kurzen Wege, ein mit viel Grün gesegnetes Paradies für Fahrradfahrer“, sagt Birgitta Schulze van Loon. Die gebürtige Bremerin ist auch so eine Grenzgängerin. Sie arbeitete nach ihrem BWL-Studium 20 Jahre in einer Hamburger Unternehmensberatung. Derzeit lebt sie mit zwei Wohnsitzen hier wie dort. Ihr 2011 gegründetes Unternehmen Piekfeine Brände ist in der Bremer Überseestadt zu Hause und auch in der Hamburger Gastronomie präsent – nach einigen Hürden, siehe oben.

Die beiden Kinder der 55-Jährigen sind Werder-Fans, die Kinder ihres Mannes in zweiter Ehe HSV-Anhänger. Oft gehen alle gemeinsam ins Stadion. In Eintracht. „Rivalität belebt das Geschäft“, sagt Frau van Loon. Und: „Humor gehört dazu.“ Während Bürger beider Städte intern so manches Scharmützel austragen, würden sie außerhalb zusammenhalten.

Keiner weiß das übrigens besser als Jens Böhrnsen, von 2005 bis 2015 Bremer Bürgermeister. Sein Vater stammt aus Bremen, die Mutter aus Hamburg-Lurup. In diesem Zusammenhang verweist Christoph Tamke auf gemeinsame Festessen Bremer und Hamburger Unternehmer in Singapur. Zum Eisbeinessen der Hamburger Schiffsmakler, das im November zum 69. Mal zelebriert wird, erscheinen regelmäßig Hunderte Bremer. Bei der Eiswette in Bremen ist es umgekehrt. Und viele Besucher der Barclaycard Arena, berichtet Laura Stürcken, reisen aus Bremen an. Umgekehrt fahren aus Hamburg Sonderzüge zum Sechstagerennen in die Nachbarstadt. Buten un binnen, könnte man auf Plattdeutsch – der gemeinsamen Sprache – sagen, werden innige Kontakte gepflegt.

Was hat der eine, das der andere nicht hat? „Bremen verfügt über mehr Charme und ist gemütlicher“, meint Laura Stürcken, „man trifft sich um die Ecke.“ Zudem sei das Wohnen deutlich preiswerter. Jens Lütjen nickt da zustimmend und verweist darauf, dass Bürgersinn und privates Engagement in beiden Städten stark ausgeprägt seien.

Und dann sagt er: „Die Hamburger sollten nicht immer versuchen, den Bremern die Welt zu erklären.“

Was ziemlich bündig den bisweilen arroganten Blick des großen Hamburgs auf das kleine Bremen zusammenfasst – und im Übrigen bilaterale Unternehmen zur Personalpolitik mit Auge verpflichtet. Ein abgehobener Hamburger Chef kann bremische Untergebene bis zur Weißglut reizen. Sicher, wir reden hier über Klischees, es gibt ja auch Bremer Vorgesetzte, die die Nase weit oben tragen. Aber da ist, als eine weitere Art gefühlter Wahrheit, noch ein anderer Punkt, der nicht von der Hand zu weisen ist. Während Bremer meist nämlich durchaus anerkennend und auch begeistert von Hamburg sprechen, sagen Hamburger über Bremen selten etwas Enthusiastisches. Vielleicht auch deswegen, weil es einfach nicht die Referenzgröße ist; der Hamburger äußert sich lieber über Berlin, da gibt es in Wirklichkeit auch mehr zu lästern.

„Bremen macht sich aber auch oft kleiner, als es ist“, ergänzt Christoph Tamke, der Bremen für eine „wunderschöne Stadt“ hält und im Übrigen der Prototyp des fairen Geschäftsmanns ist, wie man ihn in beiden Städten trifft. Tamke hat sich als Azubi jedenfalls nicht von abschätzigen und eindeutig auf Bremen gemünzten Sprüchen („Südlich Hamburgs fängt der Balkan an“) in seinem toleranten Weltbild beirren lassen. Wahrscheinlich ist die Rivalität sogar ein Bürger- und Menschenrecht – Identität gibt es nicht ohne die Betonung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten.

Das Wesen der bremisch-hambur­gischen Konkurrenz ist übrigens eine nicht widerspruchsfreie Angelegenheit. Einerseits legen die vier Besucher unseres Abendblatt-Hanseatengipfels immer wieder Wert auf die Feststellung, dass die gelebte Zwietracht doch in Wirklichkeit nur Folklore sei, andererseits verweisen sie mehr als einmal darauf, dass zu allen Zeiten, also auch der heutigen, manch einer die Rivalität doch viel zu ernst nehme.

In einem Punkt ist Hamburg toleranter als Bremen

Ob das am Ende eben wirklich vor allem vom elendigen Fußball und seinen Erhitzungen und Übersteigerungen herrührt? Oder ob der Fußball eine Stellvertreterfunktion hat? Abschließend muss das vielleicht gar nicht geklärt werden. Was zählt, sind die ehernen Gesetze, wonach zum Beispiel architektonische Details (Jens Lütjen: „Das klassische Bremer Haus hat keine Säulen“) das jeweilige urbane Profil schärfen, vor allem aber auch etwas darüber aussagen, wer man sein will. Was zählt, ist, dass Bremer, wenn sie nicht aufpassen, mehr von Hamburg schwärmen als Hamburger selbst. Und dass Hamburger beim Ablegen lokalpatriotischer Allüren feststellen, dass Bremen noch grüner ist als ihre Stadt und alles ist, aber kein Dorf.

In einem ist Hamburg mit Sicherheit toleranter: Es gibt hier seit Jahren etliche, auch wechselnde Werder-Kneipen. von einer HSV-Kneipe in Bremen ist nichts bekannt. Das leidige Fußballthema also wieder. Man kann ihm aus dem Weg gehen, übrigens, oder Differenzen schnell wieder einkassieren. Ganz einfach, indem man über Hannover spricht. Denn auf Vorbehalte gegenüber Hannover, das wissen Laura Stürcken, Birgitta Schulze van Loon, Christoph Tamke und Jens Lütjen, können sich Hamburger und Bremer immer einigen.