Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz diskutierte bei seinem Besuch in St. Petersburg mit Studierenden über Medien, die EU und Rechtspopulismus

Natürlich: Kritische Diskussionen über Themen wie die Ukrainekrise oder die Pressefreiheit waren so kurz nach dem schweren Anschlag nicht gleich zu erwarten auf der zweitägigen Reise des Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz (SPD) nach St. Petersburg. Zu verwundet und aufgewühlt sind die Menschen dieser Tage in der Hamburger Partnerstadt. Über die mögliche Einführung der Todesstrafe diskutieren sie im Gefühl der eigenen Ohnmacht sogar schon – als könnte die ausgerechnet bei Selbstmordattentätern eine abschreckende Wirkung haben. An der Station Technisches Institut im Zentrum der Fünf-Millionen-Metropole zeugt seit Tagen ein Teppich aus Blumen und Kerzen von der Trauer um die Opfer und der Hilflosigkeit gegenüber dem Irrsinn. Der Besuch am Mittwoch und Donnerstag war also wohl nicht der beste Moment, um den Russen zur Feier von 60 Jahren Städtepartnerschaft Vorträge über Demokratie, die Achtung der Grenzen souveräner Staaten zu halten.

Und doch: Auch diese Themen wurden bei dem Besuch nicht völlig ausgespart. Wie häufiger auf seinen Auslandsreisen nutzte der Hamburger Bürgermeister wieder eines seiner Lieblings-formate für möglichst offene Gespräche in als autoritär geltenden Staaten: die Diskussion mit Studenten. Rund zwei Stunden Zeit nahm sich Scholz am Donnerstagmittag für einen Besuch an der Universität St. Petersburg, um mit rund 100 Studierenden über Medien, die EU, Rechtspopulismus und die Bewahrung der eigenen Identität in Zeiten der Globalisierung zu sprechen.

In dem fast bis auf den letzten Platz gefüllten Hörsaal saßen dabei auch einige Studenten der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW), die zur 14. Deutschen Woche angereist waren – zusammen mit ihrem Professor, dem früheren „Spiegel On­line“-Journalisten Christian Stöcker, der die Diskussion moderierte.

Es gebe ja viel negative Berichterstattung über Russland in deutschen Medien, stellte ein russischer Student zu Beginn in perfektem Deutsch fest – und wollte wissen: „Schadet das nicht unseren Beziehungen?“ Diesen Eindruck teile er nicht, antwortete Scholz. „Es gibt eine sehr faire Berichterstattung über Russland in der deutschen Presse.“ Die Regierung könne überdies ja „auch nicht bestellen, was in der Zeitung steht“. Deswegen könnten Berichte freier Medien auch nicht Gegenstand diplomatischer Verhandlungen zwischen Staaten sein. In Russland gebe es in diesem Punkt seines Erachtens eine falsche Wahrnehmung. „Von Feindseligkeit gegen Russland spüre ich in Deutschland nichts. Es wäre ganz wichtig, dass Russland akzeptiert, dass die Integration der EU jetzt stattfindet. Dass es 450 Millionen Einwohner mit einer gemeinsamen Währung und Außen- und Sicherheitspolitik gibt.“

Unter dem Gelächter seiner Kommilitonen stellte ein junger russischer Student die ironische Frage, ob das unter Putin doch so mächtige Russland nicht vielleicht in die EU eintreten könne? Er glaube nicht, dass Russland das wolle, so Scholz. Beide Seiten müssten aber „miteinander klarkommen“. Viele in Russland glaubten, dass die EU Pro­bleme erzeuge, „das ist aber nicht wahr“. Es dürfe nicht sein, dass sich jemand vor dem anderen fürchten müsse. Die „Unverletztlichkeit der Grenzen und die Unverbrüchlichkeit des Rechts sind für beide Seiten wichtig“, so der Hamburger Bürgermeister, ohne die Annexion der Krim oder Übergriffe etwa auf Homosexuelle direkt zu erwähnen. „Demokratie ist nicht nur Mehrheitsherrschaft, sie bedeutet auch, dass man als Minderheit keine Angst haben muss.“ Russland müsse keine Angst vor der EU haben, so Scholz. „Die EU ist nicht expansiv und nicht aggressiv.“ Sie biete aber ein attraktives Gesellschaftsmodell. Es wäre für die Welt nicht gut, „wenn wir in das 18. Jahrhundert zurückkehren“ und nur große Nationalstaaten etwas zu sagen hätten, so Scholz. „Das dürfen wir nicht wollen, das ist in Kriege gemündet.“ Auf die Frage, wie er mit rechten und rechtspopulistischen Parteien in Deutschland umgehe, sagte Scholz: „Das Schlimmste, was denen passieren kann, passiert ihnen bei mir: Ich antworte auf ihre Fragen.“ Wenn „absurde Thesen verbreitet werden, etwa dass Deutsche bald in der Minderheit in Deutschland sind, dann kann ich zeigen, dass das nicht stimmt“.

Wenn nun aber Menschen und Staaten offen sein sollten, fragte eine junge Russin, wie könne man dann in der globalen Welt seine eigene Kultur bewahren, ohne dass sie aufgeweicht werde?

„Die erste Frage ist doch“, antwortete Scholz, „was ist die eigene besondere Kultur – etwa in einem Vielvölkerstaat wie Russland oder in Staaten wie Deutschland oder den USA? Es gibt Dinge, die uns regional sympathisch machen, die sollten wir auch nicht auf­geben, weil sie unseren Charme aus­machen. Es gibt aber auch Dinge, in denen werden wir uns alle ähnlich. Dass wir jetzt zum Beispiel überall auf der Welt Smartphones benutzen, das hat natürlich­ Folgen, egal, was wir beschließen – einfach weil wir mehr miteinander reden“, sagte Hamburgs Bürgermeister. „Davor muss man sich nicht fürchten. Fürchten muss man sich, wenn einem etwas vorgeschrieben wird.“ Er sei gleichwohl nicht für offene Grenzen. Es könne nicht jeder nach Deutschland kommen, der es wolle – schon allein, weil in Deutschland alleinstehende Sozialhilfeempfänger 750 Euro im Monat an staatlicher Hilfe bekommen, mehr als viele in der Welt mit Arbeit verdienten.

Zur Offenheit einer Gesellschaft gehöre, dass man auch Ansprüche an alle ihre Mitglieder stelle. Jeder müsse sich an die Gesetze halten, an die demokratischen Regeln und auch an den „Arbeitsethos“, so Scholz, „Gesetze halten, Minderheiten schützen und arbeiten gehen“, das seien die Grundregeln. „Die meisten, die sagen, wir müssen unsere Identität schützen, haben Angst, dass sie selbst keine haben. Mich kann doch keiner ändern, ich werde immer ein Hamburger sein, ein Europäer, niemand wird es schaffen, meine Lebenssicht zu verändern.“ Man sei nicht bedroht, weil jemand neben einem wohne, der „einen anderen Glauben, eine andere Hautfarbe oder andere Essgewohnheiten hat“ als man selbst.

Ein junger Medienstudent wollte wissen, wie groß Scholz’ Vertrauen in investigativen Journalismus sei. Als Beispiel nannte er die Recherchen des deutschen Journalisten Hajo Seppelt, der das systematische russische Doping aufgedeckt und Russland damit sehr geschadet habe. Andere Studierende wollten wissen, wie Scholz selbst Medien nutze und wie er die Gefahren durch gezielte Verbreitung von Falschmeldungen, sogenannten Fake News, einschätze.

Ja, so der Bürgermeister, er habe Vertrauen in investigativen Journalismus, viele Missstände würden dadurch aufgedeckt – auch wenn sich Journalisten selbst natürlich ebenfalls kritischen Fragen stellen müssten. Er selbst lese „im Wesentlichen Zeitschriften und Zeitungen, aber verstärkt als ePaper, überregionale Zeitungen oft schon am Vorabend des gedruckten Erscheinens“. Auch das Fernsehen nutze er oft zeitversetzt, also über Mediatheken, etwa die Nachrichtensendungen, aber auch die „heuteShow“, meistens sehe er all das auf dem iPad. „Ich google auch schon mal Sachen, merke aber, dass das nicht immer die beste Quelle ist“, so Scholz. Er sei nicht so sehr besorgt über die Verbreitung von Fake News, sagte der Hamburger Senatschef. „Die meisten Menschen haben ein sicheres Urteil. Aber natürlich muss es im Netz auch andere Wahrheiten geben, die man finden kann.“ Wenn jemand HSV-Fan sei und die auf ihn abgestimmten Suchmaschinen lieferten ihm nur noch Nachrichten zum HSV, dann sei das auch nicht sinnvoll. Auch wo mit politischer Manipulation versucht werde, „wichtige Informationen ganz klein zu machen“, müsse man gegensteuern. „Es sollte keine nationalen Netze geben, in denen man verhindern kann, dass man von außen nach innen und umgekehrt kommt.“

Schließlich wollten Studenten vom Hamburger Gast noch wissen, wie Deutschland es schaffe, dass die Bürger so engagiert und das Land so erfolgreich seien – und ob man auch wegen des Wegfalls von Arbeitsplätzen Angst vor der Digitalisierung haben müsse.

Dass es Deutschland gut gehe, habe viel mit einer „hohen Bildungskultur, mit dualer Ausbildung und guter Infrastruktur“ zu tun, antwortete Scholz. Die Digitalisierung werde unser Leben „komplett verändern“, prognostizierte der Bürgermeister. Mittlerweile experimentiere man ja schon mit bemannten Drohnen. „Auch in der Verwaltung werden Routinetätigkeiten digitalisiert werden. Das wird auch viele Jobs kosten, die Frage wird sein, ob es genauso viele Beschäftigungsmöglichkeiten geben wird – auch für diejenigen, die dann ihre Arbeitsplätze verlieren“, so Scholz. Eines aber sei klar: „Wer Angst hat und die Digitalisierung zu verhindern versucht, der wird den größten Schaden davontragen.“

Dass Angst und Aufregung keine guten Ratgeber sind, blieb auch bei der Debatte mit den Studenten der Uni St. Petersburg durchweg das Credo des Hamburger Bürgermeisters. Müsste man Scholz’ Aussagen ganz kurz zusammenfassen, so bliebe wohl dieser Lieblingssatz des Hamburger Bürgermeisters, den er am Donnerstag auf eine Frage zur Entwicklung des Hamburger Hafens sagte: „Ich rate zur Gelassenheit.“

Nach der ausgesprochen freundschaftlichen Verabschiedung von den Studierenden ging es weiter zum Gouverneur Georgij Poltawtschenko, der Scholz am Nachmittag empfing. „Dieses Verbrechen hat keine Angst bei uns ausgelöst, sondern Widerstand“, sagte Poltawtschenko beim Gespräch der beiden Delegationen im Petersburger Regierungssitz mit Blick auf den Anschlag vom Montag. „Nur gemeinsam können wir das Böse in der Welt besiegen.“ Der Gouverneur betonte aber auch, wie wichtig die Städtepartnerschaft mit Hamburg für St. Petersburg sei, etwa die Zusammenarbeit der Häfen und der Universitäten. Im Bereich der Kreuzfahrten wolle St. Petersburg von Hamburg lernen.

Am Donnerstagmorgen hatte Scholz sich beim Frühstück mit Unternehmern ausgetauscht und danach einen Workshop zum Thema Digitalisierung von Häfen eröffnet, den Ingo Egloff, Vorstand der Hafen Hamburg Marketing, in St. Petersburg mit deutschen und russischen Vertretern organisiert hatte. „Hamburg und St. Petersburg sind Partnerhäfen, denn an der Newa wie an der Elbe ist der Hafen das Herz der Stadt. Nur wenn das Herz stark und gleichmäßig schlägt, geht es der Stadt gut“, sagte Scholz in seinem Grußwort. „Und damit meine ich nicht nur wirtschaftlich gut. Die beiden Häfen mitten im Zentrum bestimmen seit Jahrhunderten das Lebensgefühl und die Identität unserer Städte, sie stehen für Offenheit und Internationalität, wirtschaftlich wie im Geiste.“

Am Donnerstagabend machte sich der Bürgermeister auf den Rückflug nach Hamburg. Zuvor zog er ein positives Fazit des zweitägigen Besuchs. Gerade in schwierigen Zeiten sei eines besonders wichtig, so Olaf Scholz. „Man muss im Gespräch bleiben.“