Harald und Chris wohnten selbst jahrelang auf der Straße. Heute führen sie Menschen zu den Orten aus ihrem früheren Leben. Ein Stadtrundgang in eine andere Welt

Ein grauer Sonntagnachmittag, kurz vor halb vier, die Hamburger Innenstadt ist ungewohnt leer. Harald und Chris stehen vor einem der Fensterbögen an der Außenfassade des Hauptbahnhofs neben dem Eingang Ecke Mönckebergstraße. Die weiße Farbe an den Rahmen bröckelt an einigen Stellen ab. Harald, ein drahtiger Mann mit Schnauzbart und Brille, zeigt mit dem Finger auf Kratzspuren in der Fensterbank. Mehrere zentimetertiefe Kerben sind in den braunen Stein geritzt. „Was könnte das sein?“, fragt er die rund 30 Menschen um sich herum. Lange Zeit zum Überlegen gibt er ihnen nicht. „Das ist Streckmaterial. Obdachlose nehmen sich ihr Messer, setzen sich hier hin und kratzen das Zeug ab. Dann gehen sie rüber auf die Drogenszene und verkaufen das Pulver als Heroin“, sagt Harald. Eine ältere Dame ruft „Ihh“, der Rest schweigt.

Wie es ist, obdachlos zu sein, kann keiner in der Gruppe nachempfinden. Wie fühlt es sich an, wenn die Alltagsroutinen plötzlich wegbrechen? Wenn der einfache Toilettengang zur Schwierigkeit wird oder das Zähneputzen längst überflüssig erscheint? Wenn man draußen im Regen steht, während andere auf dem Sofa Fernsehen schauen? Und wie ist es, morgens um 6.30 Uhr geweckt und aufgefordert zu werden, das wenige Hab und Gut zusammenzupacken und den Schlafplatz zu räumen?

Für Obdachlose ist das Klima in der Innenstadt trotz des langsam beginnenden Frühlings rauer geworden. Wie berichtet, soll es künftig nicht mehr geduldet werden, dass Obdach­lose, die ihre Schlafplätze vor den Kaufhäusern am Glocken­gießerwall und an der Mönckebergstraße haben, sich dort auch tagsüber aufhalten. Und das Areal rund um den Hauptbahnhof lässt Mittes Bezirksamtsleiter Falko Droßmann (SPD) so umgestalten, dass die Aufenthaltsqualität für Obdachlose, Trinker und Drogensüchtige verringert wird.

4000 Menschen haben 2016 am Rundgang teilgenommen

Doch gerade der Hauptbahnhof ist für viele Obdachlose der Lebensmittelpunkt. Hier haben sie ihre Infrastruktur. Und es gibt viele Hamburger, die bewusst nicht wegschauen wollen. Die die Welt der Obdachlosen kennenlernen wollen, die „Hamburger Nebenschauplätze“, wie der eineinhalbstündige und sechs Kilometer lange Rundgang, initiiert vom Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“, genannt wird. 4000 Menschen haben Harald und Chris im vergangenen Jahr in diese Welt geführt. Zu der auch sie einmal gehört haben.

Sieben Jahre lang hat keiner gemerkt, dass Harald obdachlos war. Seine Sachen hat er im Gebüsch im Park versteckt, dann ist er in die Mönckebergstraße zum Schnorren gegangen. Einen Becher oder ein Schild mit einem Hilferuf hatte er nie dabei, Geld bekam er trotzdem. „Ich bin den Menschen auf Augenhöhe begegnet. Niemandem ist aufgefallen, dass ich ein Obdachloser war“, erzählt der mittlerweile 51-Jährige. Er hat sich für sein Scheitern geschämt. So sehr, dass er vor 25 Jahren seine Heimatstadt Nürnberg in Richtung Hamburg verlassen hat. Die Gefahr war einfach zu groß, von Freunden oder Bekannten gesehen zu werden.

Was muss im Leben eines Menschen passieren, damit er obdachlos wird? Ist es ein Zusammenspiel von unglücklichen Zufällen, oder geht es schneller als man denkt? Harald hat die Scheidung von seiner Frau nicht verkraftet. Er kündigte seinen gut bezahlten Job als Altenpfleger, zog aus der gemeinsamen Viereinhalb-Zimmer-Wohnung aus und ließ seine vier Kinder zurück. Bis heute hat er keinen Kontakt zu seiner Familie. „Ich habe alles weggeschmissen. Ich habe keinen Sinn mehr darin gesehen“, sagt er. Um mit der Situation klarzukommen, pumpte er sich mit Drogen voll. 20 Jahre lang bestimmte Heroin sein Leben.

Harald greift in seine Umhängetasche, holt eine Packung Tabak heraus und dreht sich eine Zigarette. „Was schätzt ihr, wie viel Geld man am Tag braucht, wenn man richtig süchtig nach Heroin ist?“, fragt der Stadtführer, als er seiner Gruppe von der Drogenberatungsstelle „Drob Inn“ am Hauptbahnhof erzählt. Harald zeigt mit der Hand auf zwei braune Gebäude, die mehrere Hundert Meter entfernt stehen. Die Zigarette klemmt zwischen Zeige- und Mittelfinger. „100 Euro?“, fragt ein Teilnehmer des Rundgangs zurück. „Am Vormittag?!“, scherzt Harald. Die Gruppe lacht. „Ich habe am Tag zwischen 200 und 300 Euro für Heroin ausgegeben.“

Wo er das Geld hergenommen habe, will ein Mann wissen. „Es gibt drei Möglichkeiten, an Kohle zu kommen: Entweder du gehst anschaffen, klaust auf Bestellung oder dealst“, antwortet Harald. Er selbst habe am Tag zehn- bis 15-mal geklaut. „Wenn jemandem das Parfüm bei Douglas zu teuer war, bin ich reingegangen und habe es mitgehen lassen. Ich habe es der Person angeboten und bin soweit mit dem Preis nach unten gegangen, bis sie zugegriffen hat.“ Irgendwann habe er sich einen Kundenstamm aufgebaut. Hin und wieder sei er auch erwischt worden. „18 Monate habe ich dafür im Knast gesessen.“

Unter der Woche führen Harald und Chris zweimal täglich Interessierte an Plätze, die im Leben eines Obdachlosen wichtig sind. Obdachlose selbst trifft man auf den Touren in der Regel allerdings nicht an. Es wird darauf geachtet, niemanden zu stören oder zur Schau zu stellen. Der Rundgang startet im Quartier von „Hinz&Kunzt“ an der Alten Twiete und führt am Hühnerposten vorbei in kleine Straßen rund um den Hauptbahnhof. Hier liegen die meisten Anlaufstellen der Obdachlosen. Was die wenigsten wissen: Zwischen den Menschen ohne Bleibe herrscht auf der Straße eine strikte Gruppentrennung. Hinter dem Hauptbahnhof, Richtung Kirchenallee, tummeln sich die Obdachlosen, die illegale Drogen konsumieren, auf der Vorderseite halten sich die Alkoholiker auf. Beide Gruppierungen können sich nicht ausstehen.

Seit dem 19. Januar 2004 ist Harald clean. Zu verdanken habe er das seinem Job als Verkäufer von „Hinz&Kunzt“ und seinem Hund. „Auf der Straße gibt es keine Freunde, nur Gleichgesinnte. Wenn du aber einen Hund hast, ist dein bester Freund immer bei dir“, sagt Harald. Früher hat ihn seine Sina bei den Führungen begleitet, mittlerweile ist sie mit 13 Jahren zu langsam geworden.

Die Gruppe marschiert weiter. Harald und Chris haben sich unter die Leute gemischt. Der Weg zur Tagesaufenthaltsstätte für Wohnungslose „Herz As“ in der Norderstraße dauert nur ein paar Minuten. Dort kostet ein „Drei-Gänge-Menü“ 50 Cent. „Außerdem hast du die Möglichkeit zu duschen“, sagt Chris. Da der Männeranteil auf der Straße immer noch wesentlich größer sei, er liege bei rund 70 Prozent, gäbe es drei Duschen für Männer und eine für Frauen. Chris steckt sich eine Zigarette an. Schon die vierte während des Rundgangs.

Die meisten Obdachlosen wüssten sich zu benehmen

Dass einige Obdachlose ihre Schlafplätze vor den Geschäften mittlerweile so verdreckt hinterlassen, kann Chris nicht verstehen. „Die haben keinen Anstand und von einer Toilette noch nie etwas gehört“, schimpft er. Es handle sich dabei aber um Einzelfälle, so Chris, vor allem um Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien. Die meisten anderen wüssten sich zu benehmen. Harald nickt.

Chris war noch jung, als seine Eltern genug von ihm hatten. Er ist in der Nähe von Gelsenkirchen in einem Heim bei den Nonnen groß geworden. Mit 16 schmiss er seine Ausbildung. Das angesparte Geld verprasste er auf Partys. Als die Hosentaschen leer waren, war er zu feige, sich bei Freunden Hilfe zu holen. Die Straße wurde für sieben Jahre sein Zuhause. Chris pendelte von Stadt zu Stadt, doch auch als Obdachloser hatte er den Wunsch nach Sesshaftigkeit und fand in Hamburg seine neue Heimat. „Das Schlimmste an der ganzen Sache war: Es hat mir Spaß gemacht. Ich habe nicht nachgedacht. Ich habe mir den ganzen Tag das Leben schön gesoffen“, erzählt er.

Als Chris sich 1995 das erste Mal zu „Hinz&Kunzt“ traute, lernte er die Liebe seines Lebens kennen. Er hörte auf, Schnaps zu saufen, fand eine Wohnung und erlebte mit seiner Frau die zehn glücklichsten Jahre seines Lebens. Alles sah nach einem Happy End aus. Dann verstarb seine Frau an Krebs. „Ich bekam die totale Depression.“

Ein „Hinz&Kunzt“-Kunde, der nach ein paar Jahren zum Freund geworden ist, wollte ihn nicht länger leiden sehen. Er fragte Chris, wovon er schon immer geträumt hatte und lieh ihm Geld für eine eigene Imbissbude. Ein paar Jahre verkaufte Chris Currywurst im Ruhrgebiet. „Dann erwischte Deutschland 2008 die Wirtschaftskrise, und die Leute sind nicht mehr zum Essen gekommen“, erzählt Chris. Zwei Jahre später konnte er den Laden dicht machen. Verzweifelt klopfte er wieder bei „Hinz&Kunzt“ an die Tür. „Da bin ich wieder.“

Stephan Karrenbauer erinnert sich noch an diesen Moment. Der Sozialarbeiter von „Hinz&Kunzt“ sitzt in seinem Büro an der Alten Twiete. Die aktuelle Situation in der Innenstadt stimmt ihn nachdenklich. „Es geht dabei nicht um alle Obdachlosen in der Innenstadt. 99 Prozent von ihnen sieht man tagsüber gar nicht, weil sie selbstverständlich frühmorgens aufstehen und ihre Platte in der Regel sauber verlassen. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz“, sagt Karrenbauer. Vielmehr ginge es um eine einzelne Großfamilie von 25 Leuten, die sich an der Ecke zu Galeria Kaufhof aufhalte. „Da riecht es, als wenn man auf einer öffentlichen Toilette wäre. Es ist für die anderen Obdachlosen nicht schön, damit verglichen zu werden.“

Karrenbauer hatte vor 14 Jahren die Idee für den Stadtrundgang. „Ich fand es interessant, von Wohnungslosen das Leben auf der Straße erklärt zu bekommen“, sagt er. „Vor allem für Chris ist es eine echte Motivation.“ Er führt seit eineinhalb Jahren Gruppen durch die Stadt, Harald schon seit vier. Beide sollen bei „Hinz&Kunzt“ nun eine feste 15-Stunden-Stelle bekommen.

Anstatt zu schlafen, muss man auf seine Sachen aufpassen

Es fängt an zu nieseln, der Wind bläst unangenehm um die Nase. Es wäre eigentlich der passende Moment, um ins Warme zu gehen. Harald und Chris stecken sich noch eine Zigarette an, ihnen macht das bisschen Regen nichts aus. „Man gewöhnt sich an alles. Ich war auf der Straße keinen einzigen Tag krank“, meint Chris. Fertig sah er trotzdem aus. Das lag nicht nur am Schnaps, den er den ganzen Tag gesoffen hatte, sondern auch am Schlafmangel. „Du musst nachts auf deine Sachen aufpassen, weil die sonst geklaut werden. Probiert es heute Abend mal selbst aus, und lasst eure Haustür auf – könnt ihr dann schlafen?“, fragt Chris in die Gruppe. Darüber hatte offensichtlich noch keiner nachgedacht.

Um das Problem zu lösen, ist Harald in leerstehende Häuser oder Keller von Familien eingestiegen. „Manchmal hatte ich Pech, und jemand hat sich nachts noch ein Bier geholt und mich erwischt. Dann bin ich rausgeflogen“, sagt er.

Direkt gegenüber von der Tagesaufenthaltsstätte „Herz As“ liegt eine triste Wohnlandschaft. Ein Container stapelt sich über dem anderen, der Gebäudekomplex aus dünnen Stahlwänden erinnert stark an eine der zahlreichen Flüchtlingsunterkünfte in der Stadt. Die Gruppe wendet ihren Blick. „Hier ist Platz für 400 Obdachlose. Aber nicht zum Einnisten, nur zum Schlafen“, erzählt Chris. Von Anfang November bis Ende März stellt die Stadt Hamburg im Rahmen des Winternotprogramms für obdachlose Menschen rund 900 zusätzliche Schlafplätze.

Der Rundgang endet an der Bahnhofsmission am Hauptbahnhof. Die Teilnehmer beklatschen ihre beiden Stadtführer, einige geben ihnen die Hände und bedanken sich. Eilig werden noch ein paar „Hinz&Kunzt“-Magazine gekauft. „Die Führung hat meinen Blickwinkel verändert“, sagt Franziska Dignas (30), die mit ihrem Freund am Rundgang teilgenommen hat. „Ich habe mich davor immer gefragt, wie man überhaupt in so eine Situation geraten kann. Jetzt weiß ich es.“ Deniz Top (32) ergänzt: „Es war interessant, die Einrichtungen kennenzulernen. Man hat sich vorher nie damit beschäftigt, was in unserer Stadt für Obdachlose angeboten wird“, sagt der Hamburger.

Es ist kurz nach 17 Uhr, Zeit für die – so schätzen es Caritas und Diakonie – etwa 2000 Obdachlosen, ein Quartier für die Nacht zu suchen. Viele haben es sich bereits in den Eingängen der Geschäfte an der Mönckebergstraße bequem gemacht. Morgen früh werden sie ihre Platte wieder verlassen. Die meisten sauber. Harald und Chris sind froh, dass sie jetzt in ihre Wohnungen zurückkehren können.