Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff warnt in Hamburg bei der Deutschen Gesellschaftfür Auswärtige Politik eindringlich vor den Gefahren des Populismus.

CDU-Parteichef in Niedersachsen, Ministerpräsident, stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU, Bundespräsident – die Karriere von Christian Wulff führte lange nach oben. Auch nach seinem Rücktritt 2012 mischt sich der Wahlhamburger in die internationale Politik ein. Am Montagabend referierte er bei einer gemeinsamen Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und des Hamburger Abendblatts. Am Rande stellte sich der 57-Jährige den Fragen.

Herr Bundespräsident, stimmt unser Gefühl, dass Sie inzwischen mehr als ein Teilzeithamburger sind?

Christian Wulff: Ich bin und bleibe Niedersachse. Selbst dann, wenn ich Hamburger werden wollte, werde ich es ja erst in fünf Generationen sein können (schmunzelt). Aber Sie haben recht: Die Entscheidung, mehr aus Hamburg heraus zu unternehmen, war goldrichtig, hier fühle ich mich wohl. Das habe ich in den vergangenen Tagen wieder auf der Münchner Sicherheitskonferenz gespürt. Die besten Diskussionen fanden auf Einladung der Körber- und der „Zeit“-Stiftung statt. Das war der Hamburger Einfluss – lösungsorientierte und faktenreiche Debatten.

Sie waren bei der Münchner Sicherheitskonferenz – welchen Eindruck hat die neue US-Regierung auf Sie gemacht?

Wir dürfen uns vor nichts ängstigen außer vor unserer Angst. Es ist doch Fakt, dass wir in Deutschland, Skandinavien und den Beneluxstaaten in sehr guten Verhältnissen leben – aber andere versuchen, uns die Lage madig zu machen. Das sind vermeintliche Verteidiger des christlichen Abendlandes aus Russland, aber auch amerikanische Ideologen, die vor Überfremdung und Überrollung durch den Islam warnen. Das sind aber auch rechtsradikale, internationale Netzwerke. Sie fürchten nichts mehr als die Pluralität. Schlimm wäre, wenn die Mitte schwach würde und die Ränder weiter erstarken.

Der Trend läuft derzeit gegen die Freiheit

Wir erleben derzeit eine Zeitenwende hin zu Nationalismus, Isolationismus, Hass und Hetze. Vor einem Jahr hätte ich weder die Wahl von Donald Trump noch den Brexit für möglich gehalten. Und nun wählen die Niederlande. Das Land ist in einer komfortablen wirtschaftlichen Lage, hat einen charmanten Ministerpräsidenten – und trotzdem führt der Rechtspopulist Wilders die Umfragen an. Das alles motiviert mich, mich noch stärker einzubringen. Ich spüre zugleich, dass die jüngere Generation sich nun stärker persönlich für unsere Werte zu engagieren beginnt. Das ist bitter nötig: Die Demokratie klingelt nicht, wenn sie geht.

Was macht Ihnen Mut?

Die Wahl Trumps und der Brexit haben wie ein Weckruf gewirkt: Es gibt ja auch schon eine Gegenreaktion der offenen Gesellschaft, zum Beispiel in Kanada und Mexiko, Spanien oder Rumänien. Überall wird den Menschen klar: Demokratie ist nicht selbstverständlich, sondern muss immer wieder erkämpft werden. Noch mehr Mut hätte ich allerdings, wenn Europa seinen Streit überwinden könnte, wenn wir uns gemeinsam klarmachen würden, dass Europa weniger, aber das Wenige dafür schnell besser machen sollte.

Was macht Ihnen mehr Sorgen – der Zustand der USA oder der Zustand der Europäischen Union?

Beides macht mir Sorgen. Aber größere Sorgen müssen wir uns sicher um Europa machen. Der Binnenmarkt ist für uns eine zentrale Errungenschaft: 60 Prozent unseres Handels läuft mit unseren europäischen Partnern. Vor diesem Hintergrund sollten wir besonders gewarnt sein, wenn europäische Partner wie Polen die gemeinsamen Grundwerte in Zweifel ziehen. Zugleich gilt: In Europa können wir unser Schicksal selbst bestimmen.

Haben wir überhaupt Einfluss auf Trump?

Wir können uns nicht zu sehr in inneramerikanische Angelegenheiten einmischen. Auf Trump haben letztlich nur die Amerikaner Einfluss. Das heißt für uns: Wir müssen uns um unsere Dinge kümmern, darum, was in unserer Hand liegt.

Wird sich der weltweite Trend zu mehr Nationalismus, zu Autokratie und Abschottung fortsetzen?

Ralf Dahrendorf hat schon vor zwei Jahrzehnten in einem Aufsatz davor gewarnt, dass die Globalisierung uns in ein autoritäres Jahrhundert führen könnte. Das sehen wir nun, natürlich mit sehr starken Unterschieden, in der Türkei und Russland, aber eben auch in Polen oder Ungarn. Die Autokraten setzen ihre Interessen rücksichtslos durch und dulden dementsprechend wenig Widerspruch. Da können wir in Deutschland froh und glücklich über den Zustand unseres Landes sein, wie Sie es ja auch im Abendblatt kommentiert haben. Und das dann vielleicht auch etwas deutlicher wertschätzen: In Deutschland gibt es oft leider eine fast ausschließlich negative kritisierende Sichtweise in den Medien.

Warum haben denn so viele Ältere Angst vor der Zukunft?

Weil ihnen kluge Leute sagen, dass sie Angst haben müssten. 1918 hat Oswald Spengler den „Untergang des Abendlandes“ veröffentlicht, die Verunsicherung vergrößert und damit, ohne es zu wollen, in Teilen auch dem Nationalsozialismus den Weg bereitet. Ein Werk mit einer ähnlichen Wirkung war 1996 Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“. Darauf bauen dann andere auf: Thilo Sarrazin mit „Deutschland schafft sich ab“, aber auch Michel Houellebecq oder der Philosoph Peter Sloterdijk, der von einer „Überrollung Deutschlands“ spricht, verbreiten Gedanken aus einem Untergangsszenario: Sie verstärken die irrationale Angst der Menschen, Deutschland sei auf dem Weg in ein islamisches Kalifat. Damit legen sie die Basis für rechte Populisten. Bei jungen Menschen verfängt das weniger, weil sie Kontakte zu Muslimen als selbstverständlichen Teil ihres Lebens empfinden. Das ist bei den Älteren manchmal anders: Für die Großmutter ist der kleine Mohammed ungewöhnlich, für unsere Kinder nicht. Wir konzentrieren uns zu sehr auf die nationalistischen und fundamentalistischen Herausforderungen, denen wir natürlich entgegentreten müssen, und zu wenig auf die vielen Beispiele gelungener Integration in der Polizei oder der Bundeswehr, in Sport, Justiz oder den Medien und natürlich in der Wirtschaft.

Nun. Erdogan war bei den Deutschtürken erfolgreicher als in der Türkei ...

Das ist ein schwieriges Thema, das einer genauen Analyse bedarf. Gehen die gut Integrierten wirklich so zahlreich in die Konsulate wählen? Da spielen auch andere Faktoren mit hinein – und vielleicht hat es die AKP geschafft, den Menschen mit einem Respekt zu begegnen, den wir als Gesellschaft lange Zeit weder ihnen noch der Türkei in angemessener Weise entgegengebracht haben. Nicht umsonst spielt der Begriff „Stolz“ ja eine zentrale Rolle in Erdogans Strategie. Andererseits beeinflussen unsere Gesellschaft und unsere Werte von Generation zu Generation die bei uns lebenden Muslime immer stärker. Und die Integrationserfolge werden größer.

„Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“ – dieser Satz in Ihrer Bremer Rede hat Ihre Präsidentschaft geprägt. Er war Einladung und Aufforderung zugleich. Würden Sie ihn heute wiederholen?

Ich wiederhole ihn überall, weil ich davon überzeugt bin, dass wir gerade in Deutschland nach vielen Religionskonflikten gelernt haben, dass jeder glauben darf, was er will. Und wenn wir 4,5 Millionen Muslime in Deutschland haben, gehört ihr Glaube dazu. Wir sollten auf das Miteinander von Kirchen, Synagogen und Moscheen stolz sein. Das ist ein Modell für die Welt. Wenn wir hier bei uns die Rechte der Muslime anerkennen, können wir umso konsequenter die Rechte der Christen in muslimischen Ländern einfordern. Das spüre ich in allen Gesprächen in der muslimischen Welt. Ich habe ja auch zwei Wochen nach der Bremer Rede in der Türkei die Rechte der Christen angemahnt und gesagt: Das Christentum gehört immer schon zur Türkei. Ich trete überall für eine multireligiöse, multiethnische und multikulturelle Gesellschaft ein.

Inzwischen wächst die Kritik an der Intoleranz gerade vieler Muslime …

Was ich in der Bremer Rede gesagt habe, ist ein zweiter wichtiger Aspekt: Zur Offenheit, Pluralität und Toleranz gehören genauso Haltung und Regeln. Jeder, der unsere Regeln nicht anerkennt, muss mit entschiedener Gegenwehr rechnen. Das ist aus der Bremer Rede leider nicht transportiert worden. Ich habe damals die Berliner Richterin Kirsten Heisig zitiert, die das Laisser-faire, die langen Verfahren, das Zulassen rechtsfreier Räume angeprangert hatte. Es darf aber keine No-go-Areas geben – da muss man eingreifen und für Ordnung sorgen. Da wurde einiges versäumt – und deshalb zweifeln viele Bürger an der Handlungs- und Steuerungsfähigkeit der Politik. Ohne Law and Order geht es nicht. Multikulti als ein beliebiges Nebeneinander ist gescheitert, aber dem Multikulturalismus mit festen Regeln gehört die Zukunft. Darin steckt viel Innovation.

Überall in Europa wird der Multikulturalismus bei Wahlen abgestraft, Populisten gewinnen. Können wir uns in Deutschland so sicher sein, dass wir dagegen immun sind?

Ich finde, jetzt müssen wir den Weckruf zur Selbstvergewisserung nutzen: Uns geht es gut, wir bekommen aber Probleme, wenn wir der AfD Raum geben. Die AfD muss zurückgedrängt werden, weil sie unser Wohlstands- und Konsensmodell im Kern bedroht. Diese Partei untergräbt Europa. Alles, was wir uns in Deutschland an Vertrauen, Ansehen und Kontakten erarbeitet haben, wäre gefährdet. Wir alle müssen uns viel offensiver für Freiheit und Vielfalt in unserem Land einsetzen.

Wie gefährlich ist die AfD?

Ich empfinde die AfD als fremdenfeindlich und rassistisch, in meinen Augen ist sie eine Vertreterin der Angst und der Panikmache. In Teilen scheint sie mir auch verfassungsfeindlich. Und sie bedroht die offene Gesellschaft. Um diese zentrale Frage geht es auch in Holland und Frankreich, die in den kommenden Monaten wählen. Wenn das Jahr 2017 so wird wie 2016, dann kann Europa innerhalb weniger Monate am Ende sein. Ich habe jüngst gelesen, wie 1933 die Machtergreifung Hitlers kommentiert wurde: Man müsse mal den Schritt ins Dunkle wagen, hieß es, und es werde schon nicht so schlimm kommen. Nach fünf Monaten war die Opposition verboten. Geschichte wiederholt sich nie in gleicher Weise, es gibt sicher viele Unterschiede, und natürlich verbietet sich ein Vergleich mit dem Nationalsozialismus. Trotzdem darf man weder Marine Le Pen noch Geert Wilders, noch die AfD verharmlosen. Es muss der Konsens der Demokraten sein, diese Populisten von der Macht fernzuhalten. Wer in der Demokratie einschläft, wacht in der Diktatur auf.

Die Populisten profitieren vom Terror der Islamisten …

Die Extremisten schaukeln sich gegenseitig hoch. Wir haben in Europa Hunderte Tote durch Islamisten zu beklagen. Die Islamisten müssen wir alle – Christen, Juden, Muslime, Humanisten – gemeinsam besiegen. Wir haben aber auch eine ähnliche Zahl von Toten durch Rechtsradikale. Breivik in Norwegen hat fast 80 Menschen getötet, der Amokläufer von München gezielt Migranten als Opfer ausgesucht, die NSU-Mörder sind durch Deutschland gefahren und haben Menschen ermordet, die fremdländisch aussehen. Diese Gefährdung unserer Art zu leben, aus dem Inneren unserer Gesellschaft heraus, ist auch besorgniserregender Terror.

Trotzdem steht in Deutschland nun keine Mehrheit für die AfD an. Haben wir einige Dinge bei der Integration besser gemacht?

In Frankreich oder den Beneluxstaaten hat man sich stets auf Staatsbürgerschaft und Sprache verlassen. Aber das reicht offenbar nicht. Wir haben sicher auch das Glück, dass die Alliierten uns eine starke dezentrale Machtverteilung gebracht haben. Der Föderalismus und die kommunale Selbstverwaltung lassen manche Fehlentwicklung nicht zu, weil Politiker vor Ort gegensteuern können. Daneben spielt auch das ehrenamtliche Engagement der Menschen eine großartige Rolle: Unsere „Vereinsmeierei“ darf man nicht unterschätzen, sie ist großartig; in den Vereinen und Verbänden ist viel für die Integration, mit hohem ehrenamtlichen Einsatz, gearbeitet und erreicht worden.

Welche Lehren ziehen Sie aus dem Aufstieg der Populisten?

Wir stehen an einer Zeitenwende. Wahrheit und Unwahrheit scheinen immer mehr zu verschwimmen, weil interessierte Kräfte die Wahrheit verdrehen und falsche Neuigkeiten verbreiten. Digitalisierung, Globalisierung und Vielfalt wirken zusammen und verändern unsere Gesellschaften – vielleicht so tief greifend wie seit fünf Jahrhunderten nicht mehr. Wir müssen über Qualität der Berichterstattung neu reden, über Medienkompetenz und über die Bewältigung der Vielfalt, die eben keine Bedrohung, sondern Bereicherung ist. Wir müssen über die Folgen der Globalisierung reden und selbstkritisch anerkennen, dass wir manches noch nicht klar genug erkannt haben. Fake News, ihre Ver­breitung in sozialen Netzwerken und Echokammern schaffen eigene, abgeschlossene Welten. Für mich ist es daher jeden Morgen schön, wenn wir zu Hause beim Frühstückstisch die Zeitungen verteilen – und jeder, meine Frau, die Kinder und ich – einen Blick in die Themen der Zeitung werfen. Dass eine Redaktion für uns alle Neuigkeiten kuratiert und aufbereitet, halte ich für eine großartige, wichtige Leistung. Diese Leistung müssen wir als Gesellschaft wieder mehr wertschätzen – und wir müssen sie uns auch etwas kosten lassen!