Fuhlsbüttel. Reisende klagten über Atemwegsreizungen, Augenbrennen und Übelkeit. Die Terminals wurden geräumt, Flüge gestrichen. Auch Uruguays Präsident Vázquez Rosas saß fest

Am Sonntagmittag, als sich die Ereignisse am Flughafen längst überschlagen haben, überschlagen sich auch die Gerüchte, sie drehen sich jetzt um das Schlimmste, den Worst Case. „War das hier etwa ein Terroranschlag?“, mutmaßt eine junge Frau.

Hunderte Fluggäste stehen auf dem Parkdeck vor den Terminals. In Erwartung des Abflugs in die warmen und sonnigen Regionen der Welt tragen einige nur ein Hemd und dünne Hosen, sie schlottern vor Kälte, die Temperaturen bewegen sich um den Gefrierpunkt. Gerade hat die Polizei den Flughafen geräumt, nachdem ein offenbar ätzendes Gas im Bereich der Sicherheitsschleusen freigesetzt worden war. Zunächst evakuierten sie die Plaza am Sicherheitsbereich zwischen Terminal 1 und 2, dann die Einkaufspassage im Untergeschoss. Maggie aus Eutin und ihre Freundin saßen gerade bei Kaffee und Kuchen, als sie eine undeutliche, verzerrte Lautsprecherdurchsage hörten. Genauso wie Sandra Hersberger, deren Flieger nach Amsterdam um 14.30 Uhr gehen sollte. Etliche Bundespolizisten und Sicherheitskräfte organisierten den „geordneten und ruhigen“ Abmarsch Hunderter Menschen, die sich vor den Eingängen am Terminal sammelten und dann weiterzogen aufs Parkdeck. Um 12.40 Uhr ist der gesamte Flughafen dicht.

Während die Fluggäste draußen warten und immer noch nicht wissen, was los ist, leistet die Feuerwehr in Terminal 2 Schwerstarbeit. Sie hat dort eine sogenannte Patientenablage eingerichtet, eine Sammelstelle für alle Verletzten. 120 Helfer sind dort, Angehörige der Berufs- und Flughafenfeuerwehr, des Deutschen Roten Kreuzes und der Johanniter. Die ersten Meldungen sind bereits gegen elf Uhr aufgetaucht. Zunächst heißt es, fünf Menschen hätten über Atemwegsreizungen, Augenbrennen und Übelkeit geklagt. Dann alarmiert die Airport-Feuerwehr ihre Kollegen von der Berufsfeuerwehr, bittet um Amtshilfe. Denn binnen Minuten ist die Zahl derer, die über Probleme klagen, in die Höhe geschossen. Um 11.50 Uhr ruft die Feuerwehr den Alarm ManV 10 „Massenanfall mit mehr als zehn Verletzten“ aus, etliche Löschzüge und Rettungswagen rasen zum Einsatzort. Weil auch die Flughafenfeuerwehr mit der Versorgung der Betroffenen alle Hände voll zu tun hat, wird der Flugbetrieb um 12.10 Uhr eingestellt. Nach erster Sichtung erhöht die Feuerwehr auf ManV 25. Am Ende zählen die Retter 68 Verletzte, überwiegend Mitarbeiter an der Sicherheitsschleuse. 59 können von ihnen, wie es später heißt, „beschwerdefrei weiterarbeiten“. Neun werden in die umliegenden Krankenhäuser transportiert.

Während die Retter die Verletzten versorgen, kreisen über dem Helmut-Schmidt-Flughafen mehrere Flugzeuge. Zwei Maschinen werden zunächst nach Bremen umgeleitet, später aber wieder zurückbeordert: dem Flugdatenportal flightradar24 zufolge müssen noch weitere Flieger unfreiwillig woanders landen, etwa in Hannover. 14 Flüge streicht der Flughafen komplett: sechs Ankünfte und acht Abflüge. Auch Tabaré Ramón Vázquez Rosas, Präsident von Uruguay und erst am Freitag Gast von Bürgermeister Olaf Scholz (SPD), sitzt wie Hunderte andere Menschen in seinem Flieger fest. Und auch am Boden geht nichts mehr: der S-Bahn-Verkehr zum Flughafen ist unterbrochen, rundherum hat die Polizei die Zufahrten zu den Terminals abgesperrt. Die Reisenden müssen sich Hunderte Meter vom Abflugbereich entfernt absetzen lassen, um das Terminal dann zu Fuß zu erreichen.

Kurz nach der Räumung des Flug­hafens wird die Klimaanlage umgestellt: Sie wälzt jetzt nicht mehr die Luft im Flughafengebäude um, stattdessen wird Frischluft aus dem Außenbereich zugeführt. Wenig später stoßen Feuerwehrleute im Bereich der Plaza auf einen verdächtigen Gegenstand, er befindet sich in einer Alukiste im Sicherheitsbereich. Dort deponieren die Luftsicherheitsassistenten die potenziell gefährlichen Gegenstände, die Passagiere nicht mit an Bord nehmen dürfen. Sie entdecken: eine handelsübliche Kartusche Pfefferspray – und damit einen konkreten Hinweis auf die Ursache für die Beschwerden. Bei ihren Messungen der Raumluft stellt die Feuerwehr zwar nur punktuell Reizgas fest. Zu den Symptomen der meisten Patienten aber passt der Fund wie die „Faust aufs Auge“.

Stefan Oppermann, leitender Notarzt, steht am Nachmittag im eilfertig im Radisson-Hotel am Flughafen eingerichteten Pressezentrum der Feuerwehr. Obwohl er den Radio- und Fernsehjournalisten einen O-Ton nach dem anderen geben muss, strahlt der hünenhafte Mann eine bemerkenswerte Ruhe aus. Die Fragen beantwortet er geduldig – auch wenn er sie zum zehnten Mal hört. Oppermann hat schon viele Verletzte nach Reizgasangriffen in Hamburger Schulen behandelt. Atemwegsreizungen, Augenbrennen, Übelkeit – das passt zu den Symptomen, über die viele der Betroffenen am Flughafen klagen. Auch dass viele Verletzte völlig verängstigt waren, weil sie die Beschwerden nicht einordnen konnten, kennt Oppermann aus früheren Einsätzen. Zunächst seien ihm aber bei dem Großeinsatz ganz andere Gedanken in den Kopf geschossen. „Da denkt man gleich an die schlimmsten Szenarien.“

Um 13.20 Uhr werden die Menschen in die Terminals zurückgelassen. Einige Minuten später wird auch der Flug­betrieb wieder aufgenommen, vor den Sicherheitsschleusen bilden sich riesige Schlangen. In einer von ihnen steht Sandra Hersberger, ihr Flieger nach Amsterdam sollte eigentlich um 14.30 Uhr abheben. Die gebürtige Schweizerin, inzwischen in Hamburg lebend, lächelt das Chaos am Flughafen einfach weg. „Dass es diese Verzögerung gegeben hat, ist natürlich nicht schön“, sagt die junge Frau, während sich die Menschenmenge in Tippelschritten zur Sicherheitskon­trolle schiebt. Sie selbst habe keine ungewöhnlichen Gerüche wahrgenommen. Panik oder Unordnung habe es jedenfalls „zu keinem Zeitpunkt“ gegeben. So sieht es auch Norbert Reiling aus Ahrensburg: Der ganze Einsatz sei von einer „großen Ruhe“ geprägt gewesen.

Nach dem Großalarm sind nun Polizei und Bundespolizei am Zug. Anhaltspunkte für ein vorsätzliches Versprühen von Reizgas gibt es bisher offenbar nicht. Möglicherweise sei die Kappe von der Kartusche abgeflogen und die Dose durch andere Gegenstände gequetscht worden, sodass deshalb der Stoff freigesetzt worden sei, mutmaßt ein Polizeibeamter.
Erst einmal müssten aber die Videoaufzeichnungen aus dem Sicherheits­bereich ausgewertet werden. Sollte das Gas vorsätzlich versprüht worden sein, erwartet den Täter nicht nur ein Strafverfahren wegen dutzendfacher Körperverletzung – ihm droht auch eine immense Kostenforderung für den Gesamteinsatz am Flughafen.

Erst vor wenigen Wochen, nach mehreren Reizgas-Attacken in Hamburger Schulen, hatte die CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Karin Prien gefordert, die Abgabe von Pfefferspray auf den Prüfstand zu stellen. Wenn Pfefferspray als Tierabwehrspray gekennzeichnet ist, wie es üblicherweise bei den im Handel erhältlichen Modellen der Fall ist, gibt es keine Altersbeschränkung – denn diese Modelle fallen nicht unter das deutsche Waffengesetz.
Deutschland, so Prien, habe damit europaweit eine der laschesten Bestimmungen überhaupt, was den Erwerb, den Besitz und das Führen von Pfefferspray angehe.