Das neue Buch des Schweizer Schriftstellers steht auf Platz eins der Bestsellerliste. Jetzt las er im ausverkauften Schauspielhaus. Eine Begegnung

Der unbarmherzige Hamburger Eiswind ist erst am Mittag aufgezogen. Es zieht, es ist kalt, es vergeht einem die Lust aufs Marschieren durch die Stadtlandschaft. Weshalb der Schriftsteller dankbar den Vorschlag annimmt, das Interview nach drinnen zu verlegen.

Nicht auszudenken, wenn sich Martin Suter, 68 Jahre alt, Schweizer, Erfolgsautor, gleich auf der ersten Station seiner Lesereise verkühlte, es wäre unentschuldbar. Im Hinblick auf den viel beschäftigten Mann selbst. Und im Hinblick auf die Lesekultur, kleiner soll es an dieser Stelle nicht gehen. Doch davon später mehr.

Also lieber rein ins Vier Jahreszeiten, wo Suter standesgemäß während seines Hamburg-Besuchs logiert. Am Abend werden ihn 1000 Menschen im ausverkauften Schauspielhaus lesen sehen. So etwas schaffen die allermeisten Schriftsteller nicht, und die, die es schaffen, nennt man, siehe oben: Erfolgsautor. Oder noch griffiger: Bestsellerautor. Die Spezies, die seltener vorkommt, als man glauben könnte, und die wir heute besichtigen wollen. Suter, der mit Romanen wie „Small World“, „Die dunkle Seite des Mondes“, „Montecristo“ und den Allmen-Krimis bekannt wurde, ist ein feiner, soignierter Herr, der Krawatte und Einstecktuch trägt. Er ist überraschend klein, aber das denkt man dann ja oft bei berühmten Leuten, die man von Leinwand, Bühne oder Fotos kennt. Suter trinkt einen Jasmintee, im Hintergrund spielt ein Klavier. Das richtige Ambiente für die großen Themen.

Das Schreiben, sagt Suter, „gibt mir vor allem anderen Freiheit, es gibt mir eine gewisse Macht, nämlich die des Erzählers, der eine Welt erfindet und sie nach seinem Gusto funktionieren lässt“.

Und das Schreiben gibt ihm, weil es einträglich ist, auch finanzielle Freiheit. Der ehemalige Werber und Verfasser einer viel gelesenen Manager-Kolumne hat nun als Romanautor, der von seinem Tun leben kann, keinen Chef, keine Deadlines, keine Vorschriften.

Freiheit bringt der Beruf also mit sich, Macht; und auch den großen Auftritt, den das Schreiben in Suters Falle nach sich zieht, aber das sagt er nicht. Über die Gesamtauflage seines Werks macht der Diogenes-Verlag in Zürich keine Angaben, sie dürfte deutlich in die Millionen gehen. Suter wird in 34 Sprachen übersetzt, und in der kommenden Ausgabe des „Spiegels“ wird sein neues Buch, „Elefant“, wie selbstverständlich auf Platz eins der Bestsellerliste stehen. Wie wichtig ist ihm das? „Es ist nicht entscheidend, aber ich schaue durchaus auf die jeweils neuen Zahlen“, sagt Suter.

Abends im Schauspielhaus, wo er auf Einladung der Buchhandlung Heymann liest und sein Blick von der Bühne in einen bis unter die Decke gefüllten Saal geht, wird die gute Bestsellerlisten-Nachricht dem Publikum überbracht, es quittiert sie mit wohlwollendem Applaus. Suter nickt zufrieden. Das Publikum frisst ihm, der hier nicht nur der Geschichtenversorger, der viel mehr als ein Literaturdienstleister ist, nämlich ein glänzender Unterhalter, Anekdotenerzähler und in mancherlei Hinsicht typischer Abkömmling seines Landes, aus der Hand. Suter liest aus „Elefant“, jenem wieder einmal genial pointierten Gesellschaftsroman, in dem es um Genforschung und einen leuchtenden, rosafarbenen Dickhäuter geht. Er liest, wie er spricht. Ruhig, bedächtig, mit einer den Schweizern eigentümlichen lingualen Behäbigkeit, die man nicht mit geistiger Trägheit verwechseln sollte. Der nordische Hochdeutschsprecher liebt ihn in jedem Moment für die Abweichung vom Normaldeutsch. Es ist jedenfalls eine willkommene Besonderheit, wenn Suter bei den „Laborschweinen“ das „Labor“ beharrlich auf der ersten Silbe betont.

Eine öffentliche Lesung ist grundsätzlich die seltsamste aller Kulturveranstaltungen, weil Lesen eigentlich der wohl privateste, einsamste aller Kunstgenüsse ist. Man hört dem, der ein Buch geschrieben hat, beim Vorlesen desselben zu. Dem Text, jenem sagenhaften Transportmittel der Fantasie und Imagination, gewinnt dieser Vortrag nichts hinzu, aber es ist die Stimme seines Erfinders, die man trotzdem hören möchte, und sie ist an diesem Abend eine schweizerisch gefärbte Verheißung, die in das altehrwürdige Schauspielhaus schallt.

Der Sog entwickelt sich nämlich auch hier. Suter ist ein Erzähler, dem man die eigentlich maximalbekloppte Behauptung, es könnte so etwas wie rosafarbene Miniaturelefanten geben, jederzeit abnimmt. Plakativer als mit dem Tier, um dessen Existenz Suter in seinem Roman eine handfeste Thrillerhandlung webt, kann man die Sorgen, die mit der Genforschung verbunden sind, nicht abbilden. „Was in der Genforschung gemacht werden kann, wird gemacht“, erklärt Suter. Und er sagt einen Satz, den er gerne sagt: „Es geht mir mit meinen Büchern darum, jemanden aus seiner Wirklichkeit zu entführen und ihn für kurze Zeit zu einem untauglichen Mitglied der Gesellschaft zu machen.“ Das ist die Agenda des Leseverführers, der unterhalten will, keine Debatten führen – und dennoch mit seinen Büchern auf verblüffende Weise immer so die Gegenwart por­trätiert, dass sie unbedingt erkennbar ist.

Heute ist Suter, der über sich sagt, er könne eine Person wie Donald Trump niemals zur Hauptfigur einer Geschichte machen, weil sie ihm zu vulgär sei, ein Big Player im Literaturgeschäft. Er liest nur noch in großen Häusern und nicht mehr fünf-, sechsmal die Woche wie vor einigen Jahren noch, als er auf schriftstellerische Ochsentour durch die Provinz ging. Sein Verlag habe, erzählt Suter, von Anfang an darauf gedrungen, dass er eine Verbindung zum Leser aufbaue.

Und das tut er nun beharrlich, auch, weil er weiß, dass er „einen introvertierten Beruf“ gewählt hat; „wer als Schriftsteller nie rausgeht, der trifft nie diejenigen, die das lesen, was man schreibt“. Suter kennt das große Privileg, das sein Arbeitsleben mit sich bringt: Er lebt gut von dem, was er gerne macht. In seinem Roman „Lila, lila“ gibt es Szenen, die den Alltag eines noch unbekannten Autors vor leeren Stuhlreihen zeigen. Suter hat das selbst kennengelernt. „Einmal las ich in Innsbruck, vier Personen waren da – drei von der Buchhandlung, einer war der Freund der Auszubildenden“, erinnert er sich.

Heute gilt bei Suter-Lesungen die Regel: Unterschrift ja, Widmung nein. Er kommt ja sonst nach Lesungen gar nicht mehr zurück ins Hotel, sagt die Diogenes-Pressedame. Das Signieren, könnte man fast meinen, ist die Rache des Literaturgottes an allen Auflagenkönigen. Signieren ist anstrengend, und oft würde Suter gerne mehr als nur die üblichen paar Worte mit seinen Lesern wechseln. Es geht aber nicht, es sind zu viele, die sein Autogramm wollen. Am Signiertisch ist er Fließbandarbeiter. „Es berührt mich noch immer, wenn mir jemand sagt, dass er durch mich wieder zum Lesen gekommen ist“, sagt Suter.

Womit wir das Thema „Lesekultur“ wieder aufgreifen. Suter verzichtet bei aller Komplexität, was etwa die Zeitebenen seiner Romane betrifft, auf ästhetische Wagnisse. Wahrscheinlich ist auch das sein Erfolgsgeheimnis. Er weiß, wie seine Romane aussehen sollen, nämlich so, dass sie ihm selbst gefallen. Suter sagt: „Ein Komponist klassischer Musik wird nicht plötzlich zum Freejazzer.“ Genau mit dieser Art von Werktreue hat er sich eine riesige Leserschaft erschrieben. Eine Leserschaft, die immer wieder das gute, alte Buch den Verlockungen von Fernsehen und Internet vorzieht. Film und Kino, findet Suter, „werden nie die ‚Kopfabenteuer‘ ersetzen, die sich zwischen zwei Buchdeckeln abspielen“.

Wenn man so schreibt wie er, stimmt das.

Oft wird ja behauptet, Suter-Romane wirkten, als seien sie spielerisch leicht entstanden. Dabei kostet es viel Mühe, etwas Geschriebenes einfach wirken zu lassen. Fast keiner seiner Sätze bleibt einfach stehen, es wird gestrichen, neu formuliert, umgestellt. Suter zitiert Marcel Reich-Ranicki, der sinngemäß einmal sagte, dass der Autor es sich gefälligst schwer machen solle, damit es hernach der Leser leicht habe. Kann man es besser ausdrücken?

Auf der Bühne im Schauspielhaus fragt der Moderator Kester Schlenz Suter, ob er Schreibkrisen kenne. Früher, als er noch jung und arrogant war, erzählt Suter, habe er stets geantwortet: Ein Schreiner kann sich ja auch keine Hobelkrise erlauben. Heute antworte er lieber: „Es gibt Tage, an denen das Schreiben besser geht, und welche, an denen es schlechter geht.“

„Montecristo“, das vorletzte Buch des beneidenswert produktiven Schriftstellers Suter, handelte von Bankern und dem, was sie tun, wenn ihnen keiner auf die Finger schaut. Es handelte von Geld. Und von Geld ist in den jüngeren Interviews Suters auch immer wieder die Rede. Er gibt es gerne aus, also muss er es verdienen. Suter ist keineswegs verschwiegen bei dem Thema, im Gegenteil. Die meist anzutreffende Verkniffenheit hinsichtlich des Monetären ist ihm fremd, er sagt: „Was machen Menschen, nachdem sie morgens aus dem Haus gegangen sind, womit verdienen sie ihr Geld – das sind doch wichtige Informationen.“ Suter findet es „pervers“, dass das Thema Geld eines der letzten Tabus sein soll. Und er findet, dass auch in der Literatur geradezu verkrampft damit umgegangen wird. Das war ja nicht immer so, wie Suter mit Verweis auf Thomas Manns „Buddenbrooks“ feststellt. Dann geniert er sich sogleich etwas für den Suter-Mann-Vergleich. Oder er tut zumindest so.

Es hat etwas merkwürdig Entschuldigendes, wenn Suter einmal nebenbei sagt, es habe in seinem Leben auch Misserfolge gegeben. Was man kaum glaubt, denn bei erfolgreichen Menschen kennt man, so gerne man sie von Zeit zu Zeit fallen sieht, eigentlich vor allem die Höhen. Das härtere Brot der frühen Jahre ist für Suter mittlerweile nur mehr eine ferne Erinnerung.

Wer würde aber infrage stellen, dass dieser Mann, der mit Frau und Tochter seit zwei Jahren und Lebensabschnitten in Guatemala und auf Ibiza wieder fest in seiner Geburtsstadt Zürich lebt, auch dunkle Stunden erlebt hat. 2009 starb sein dreijähriger Sohn bei einem Unfall. Ein Schicksalsschlag, der alles andere, auch den Erfolg, relativiere, sagt Suter – „ein Effekt, den jeder Mensch auf eine mehr oder minder drastische Weise kennt: Gerade dann, wo alles so wunderbar läuft, passiert das.“

Der Gedanke könnte naheliegen, dass es eine besonders bittere Volte des Schicksals ist, wenn ein Schriftsteller, der in seinen Büchern selbst die Schicksalsmacht über seine Figuren innehat, von einem Unglück getroffen wird. Suter sagt dazu lediglich, dass er von therapeutischer Literatur nichts hält. Er hält nichts vom „Ich“ in Romanen, er hält nichts davon, wenn der Autor in seinen Büchern quasi auf der Couch liegt. Er habe nichts gegen Autoren wie den radikalen Selbstentblößer Karl Ove Knausgård, sagt Suter, „aber sie erreichen mich nicht“.

Wer wen erreicht, wie man die Aufmerksamkeit von jemandem bekommt: ein großes Thema. Nach der Lesung im Schauspielhaus sitzt Martin Suter, der begnadete Gegenwartserklärer und Literaturunterhalter, an einem Tisch im Marmorsaal im ersten Rang dieses großen Hamburger Theaters. Neben ihm steht ein Glas Rotwein, der Stift ist gezückt, der Blick freundlich. Jetzt liegen sie vor ihm, seine Bücher, eines nach dem anderen, dargereicht von den Menschen, die ihn lesen.

Er wird erst nach mehr als anderthalb weiteren Stunden seinen Arbeitstag beenden. Die Schlange derer, die sein Autogramm wollen, reicht bis weit ins Foyer.