Der Altonaer Kaufmann Heinrich Witt, der in Peru reich wurde, schrieb im 19. Jahrhundert ein Manuskript mit 11.000 Seiten. Ulrich Mücke hat das Werk in zehnjähriger Kleinarbeit geordnet

Vom dänischen Philosophen Søren Kierkegaard stammt der Satz, der Mensch könne zwar nur vorwärts leben, erst in der Rückschau aber werde sein Leben verständlich. Nur vom Ende her betrachtet, so der Glaube des protestantischen Denkers, lasse sich in der Existenz jedes Einzelnen ein Sinn erkennen. Vermutlich ist Kierkegaards Ausspruch ein Leitgedanke, der auch Biografen antreibt, die sich rückblickend über die Leben längst Verstorbener beugen und bisweilen fast schon besessen alles zusammentragen, was an Spuren von ihnen geblieben ist. Dabei geht es Historikern allerdings in der Regel nicht um religiöse Sinnsuche, sondern darum, eine vergangene Zeit zu verstehen, um für die Gegenwart aus ihr zu lernen.

Egal, welcher dieser beiden Aspekte ihn nun besonders motiviert hat – ein sattes Maß an Besessenheit muss auch den Hamburger Historiker Ulrich Mücke angetrieben haben, als er vor fast zwölf Jahren begann, sich mit dem Leben des Altonaer Kaufmanns Heinrich Witt zu befassen. Anders lässt sich kaum erklären, was folgte, nachdem Mücke im Jahr 2005 in der peruanischen Hauptstadt Lima den ersten Blick auf ein paar Tagebuchnotizen dieses Mannes warf, der 1823 als junger Erwachsener von Altona aus erst nach London und dann nach Peru ging und dort reich wurde.

Zehn Jahre seines (Forscher-)Lebens widmete der mittlerweile 51 Jahre alte Professor der Universität Hamburg hernach dem Kaufmann Witt und investierte damit fast seine ganze Kraft in ein Projekt, das immer wieder aus dem Ruder zu laufen drohte – und schließlich doch gelang: die Abschrift und Publikation eines der umfassendsten Tagebücher, die aus dem 19. Jahrhundert erhalten geblieben sind.

In Peru werden die Tagebücher zum nationalen Kulturerbe

Der 1799 in Altona geborene Heinrich Witt hatte nämlich nicht nur ein bisschen nebenbei Tagebuch geschrieben. Nein, auch er war ein Besessener. Schon während seiner Kindheit in Altona begann sich Witt Notizen über seine Erlebnisse zu machen – und er schrieb immer weiter, sein Leben lang. Als er schließlich im gesegneten Alter von 93 Jahren 1892 in Lima starb, hinterließ der Mann seiner Familie ein 13-bändiges Tagebuch mit rund 11.000 Manuskriptseiten. Er beschreibt darin das Leben in Altona, seine Zeit in London, den Aufstieg in Peru als Exporteur des als Dünger begehrten Vogelkots Guano, seine internationalen Wirtschaftsbeziehungen und seine Reisen durch die Welt und immer wieder zurück nach Altona.

Der Wert dieses Tagebuchs eines weltgewandten Kaufmanns wurde viele Jahrzehnte lang nicht erkannt. Erst in den 1970er-Jahren witterte der erste peruanische Historiker, wie wertvoll die Witt-Chroniken für die europäische und lateinamerikanische Geschichte sein könnten. Ein erster Versuch, das schier überbordende Material zu ordnen, Abschriften zu machen und die Tagebücher vollständig zu publizieren, scheiterte in den 1990er-Jahren an den hohen Kosten. Dann aber gelangten die Chroniken des besessenen Tagebuchschreibers Witt an den besessenen Historiker Mücke.

„Ich hörte von einem Freund, dass Aufzeichnungen des Altonaer Kaufmanns privat bei dessen Nachkommen in Lima liegen würden“, erzählt Mücke heute. „Erst dachte ich: Ich nehme das Material mit und publiziere es in zwei, drei Jahren. Erst danach habe ich begriffen, was ich da vor mir hatte.“ Tagelang stand Mücke danach in einem Copyshop in Lima und ließ jede einzelne Seite kopieren – bewacht von einem Aufpasser der Witt-Nachkommen, die um ihr wertvolles Erbe fürchteten. „Beruflich war das Projekt für mich wie Lottospielen“, so Mücke. „Du machst es, obwohl es eigentlich nicht klappen kann.“ Angelehnt an dieses Bild muss man wohl sagen: Der Historiker und seine Mitstreiter haben sechs Richtige gelandet. Trotz aller Widrigkeiten gelang es dem Sohn eines protestantischen Pfarrers, der seit 2007 lateinamerikanische Geschichte in Hamburg lehrt, Witts Aufzeichnungen in Form zu bringen. Ein gutes Dutzend freier Mitarbeiter arbeitete mit ihm an dem Werk, rund 200.000 Euro kostete das Projekt am Ende. Mücke, selbst verheiratet mit einer Peruanerin, wandte über zehn Jahre alle freien ihm als Professor zur Verfügung stehenden Forschungsmittel für die Witt-Tagebücher auf und verbrachte immer wieder lange Wochen in Lima. 2015 schließlich wurde das Opus magnum publiziert: zehn Bände mit 7240 Druckseiten und einem Gesamtgewicht von 12,4 Kilogramm.

Der Aufwand hat sich gelohnt. Jetzt sollen die Witt-Tagebücher in Peru zum nationalen Kulturerbe erklärt werden, bei der Präsentation von Mückes Arbeit 2016 in der Nationalbibliothek in Lima waren nicht nur der deutsche Botschafter, sondern auch renommierte lateinamerikanische Forscher anwesend. Am Donnerstag (26. Januar) werden die Witt-Aufzeichnungen nun auch in Hamburg der Öffentlichkeit vorgestellt (siehe Info).

Die Veröffentlichung der Chroniken legt dabei erst die Grundlage für eine künftige Auswertung dieser umfassenden Erinnerungen durch Historiker in aller Welt. Vereinfacht wird die globale Forschung an diesem Mammut-Tagebuch durch die Tatsache, dass Witt seine Einträge durchweg auf Englisch verfasste. „Witt hat schon damals Englisch als internationale Verkehrssprache betrachtet“, so Mücke. „Und er hat auf viele Leser gehofft.“

Auch wenn die Detailarbeit an dem unerschöpflich wirkenden Wortwerk noch aussteht – schon heute lässt sich aus diesem Protokoll eines Kaufmannslebens einiges lernen. „Witt ist auch Protagonist einer frühen und erfolgreichen Globalisierung“, sagt Prof. Mücke. Als Altonaer mit zunächst dänischem und später deutschem Pass arbeitet er für eine englische Firma, lebt in Peru, treibt bald Handel mit aller Welt und hält Anteile an europäischen Handelshäusern. Ein Protektionismus à la Trump wäre für Witt „vollkommen unsinnig“, so Mücke. „Protektionismus argumentiert immer mit Land A gegen Land B. Schon bei Witt sieht man, dass das Unsinn ist. Alle international agierenden Handelshäuser sind quer über die Landesgrenzen verflochten.“

Dabei kann das Leben von Heinrich Witt auch als exemplarisch für einen Aufstieg durch Wagemut und Disziplin gelesen werden – oder dafür, dass Menschen bisweilen nach dem Lateinerwort „Per aspera ad astra“ durch äußere Widrigkeiten zu ihrem Glück gezwungen werden. Denn Witts Jugend im seinerzeit noch dänischen Altona verläuft zunächst keinesfalls glücklich. Sein Vater verliert Vermögen und Geschäft in den napoleonischen Kriegen und stirbt, als Heinrich gerade 14 ist. Wenig später ist auch seine Mutter tot. Von dem Geschäft, das er erben sollte, ist bis auf ein kleineres Erbe kaum etwas übrig – und schließlich verweigert dem nun verarmten Jungkaufmann auch noch seine große Liebe die Ehe. Also verlässt Witt das Altona seines Unglücks und geht nach London, wo er beim Handelshaus Antony Gibbs and Sons anheuert. Für ein paar Monate langweilt er sich in der Gibbs-Buchhaltung, bis die Firma ihm 1824 anbietet, nach Arequipa im Süden Perus zu gehen. Er nimmt an – und bleibt schließlich mit Unterbrechungen bis ans Ende seiner Tage dort. In Arequipa kümmert sich Witt für Gibbs zunächst um den Export von Edelmetallen und Wolle, bis er 1833 in Lima ins Management der Firma aufrückt. Als er 1842 ausscheidet, ist er, auch aufgrund von Erfolgsbeteiligungen und privaten Geschäften, bereits ein gemachter Mann. Fortan tritt er als Investor auf und steigt in den Export des in Europa als Dünger heiß begehrten Guano ein. Er wird Kapitalgeber der ersten peruanischen Banken und hält Anteile an europäischen Handelshäusern. Schon 1831 heiratet er Maria de la Sierra Velarde, eine Frau aus den besten Kreisen Südperus, die drei Kinder mit in die Ehe bringt. Marias gute Beziehungen unterstützten Witts weiteren Aufstieg als Geschäftsmann.

Den zunehmenden Wohlstand investieren die Eheleute auch in lange Reisen. In den Jahren 1843 bis 1884 unternimmt Witt insgesamt fünf zum Teil jahrelange Touren durch Europa und Nordafrika. Natürlich berichtet er auch darüber in seinen Tagebüchern – genauso wie über Kriege in Asien oder Nordamerika und politische Verwicklungen in Europa oder Peru.

„Man sieht an dem Tagebuch, dass Witt für die Nachwelt ein Abbild seiner Zeit liefern will“, sagt Mücke. „Zugleich soll es möglichen späteren Lesern aber auch das erfolgreiche Leben des Autors vor Augen führen.“ Dabei bleibt Witt auch im Urteil des Mannes, der sein Lebenswerk nun zugänglich gemacht hat, ein gespaltener Charakter. Einerseits ist er ein allseits interessierter Mensch, der es auch ohne Hochschulbesuch als Autodidakt zu einer umfassenden humanistischen Bildung bringt. So liest er bereits in seinen jüngeren Jahren sieben Sprachen (Deutsch, Dänisch, Englisch, Spanisch, Italienisch, Französisch sowie Latein­). Andererseits zeigt ihn sein Tagebuch keinesfalls als modernen Humanisten, sondern als erfolgsorientierten norddeutschen Kaufmann mit bisweilen starren Prinzipien und einem wenig menschenfreundlichen Ehrbegriff. So findet er immer wieder lobende Worte dafür, dass gescheiterte Geschäftsleute sich der Ehre halber das Leben nehmen.

Es gibt in seinen Aufzeichnungen viele antisemitische und rassistische Passagen. Witt verachtet alle, die nicht zu seinen Kreisen zählen, und blickt auf alle Ungebildeten, auf Afrikaner, Asiaten oder Muslime herab. Dabei ist er durchweg bemüht, der Nachwelt zu zeigen: Seht her, ich bin vielleicht in Altona gescheitert – aber ich habe auch in der Ferne stets das Leben eines ehrbaren Altonaer (oder Hamburger) Kaufmanns geführt. Und dabei habe ich all meinen Wohlstand meiner eigenen Arbeit zu verdanken, also auch den Tugenden meiner protestantischen Heimat: Fleiß, Ehrgeiz und Disziplin.

Wie tief die Zuneigung zu Hamburg und Altona Zeit seines Lebens bleibt, zeigt ein Tagebucheintrag während eines Hamburg-Besuchs in den 1860er-Jahren. Beim Blick aus dem Hotelzimmer auf die Alster stellt er fest: „Von allen Städten, die ich gesehen habe – und das sind viele –, bietet keine innere Stadt einen so schönen Anblick wie die, auf die ich gerade schaute.“ Seiner Frau gefallen besonders die Besuche auf dem Landsitz eines Freundes in Eppendorf. Dass Witt doch nie ganz nach Hamburg zurückkehrt, liegt an seiner Ehefrau Maria, die das Leben einer Quasi-Adligen in Peru niemals gegen ein bürgerliches Dasein in Hamburg eingetauscht hätte.

Lima erscheint in Witts Aufzeichnungen dabei meist als langweilige Stadt ohne Charme. Das Familienleben mit den drei Stiefkindern erfüllt ihn hier dennoch (eigene Kinder zeugt er nicht). In seinem Tagebuch berichtet Witt immer wieder über die Familie – aber auch dabei geht es oft darum, den eigenen Wohlstand darzustellen. So beschreibt er etwa, wie bei der Feier zum zwölften Geburtstag seiner Stiefenkelin Amalia an alle Kinder Champagner ausgeschenkt wird – und diese schließlich abends „glücklich wie Prinzen“ nach Hause wanken.

Witt hält für die Nachwelt ein „Abbild seiner Zeit“ fest

Trotz allen Wohlstands und der bis zum Tode Marias offenbar erfüllenden Ehe verläuft Witts Leben keinesfalls nur glücklich. Von den 1850er-Jahren an kann er aufgrund einer schweren Augenerkrankung kaum noch lesen. 1859 entschließt er sich, sein Tagebuch zu systematisieren, das bisher aus unterschiedlichen Notizbüchern besteht. Er lässt sich alle bisherigen Aufzeichnungen von einem Sekretär vorlesen und diktiert sie neu. Erst mit 91 Jahren beginnt ihn die Kraft zur Protokollierung seines Lebens zu verlassen. „Ich habe gehofft, bis zu meiner letzten Stunde Tagebuch zu schreiben“, lässt Witt am 26. August 1890 in seinem Haus in Lima deprimiert vom Sekretär notieren. „Nun aber bin ich so schwach, dass ich kaum noch ein paar Zeilen schaffe.“

115 Jahre später gelangt Ulrich Mücke nicht weit entfernt erstmals an Witts Tagebücher. 125 Jahre nach diesem melancholischen Eintrag werden die Aufzeichnungen von Witts Lebens erstmals herausgegeben – vollständig bis auf drei verschollene Bände der späten Jahre.

Der Mann, der Witts Erbe für die Nachwelt gerettet hat, wurde zwischenzeitlich in Peru schon selbst als „Herr Witt“ angesprochen. Natürlich frage er sich nach all den Jahren mit diesem Mann des 19. Jahrhunderts bisweilen, „wie viel von Witt in mir ist“, sagt Ulrich Mücke. „Bedauerlicherweise gibt es tatsächlich­ einige Ähnlichkeiten, vor allem einen pedantisch-protestantischen Fleiß.“ Auch er betreibe „Sachen um ihrer selbst – unabhängig davon, was der Rest der Welt dazu sagt“.

Für Witt dürfte es ein Glück sein, dass einer mit ähnlichen Tugenden sich seiner Sache angenommen hat.

Gleichwohl ist Mücke dem Schicksal entgangen, das manche Biografen ereilt: das Objekt der eigenen Arbeit unbewusst zu idealisieren, weil sich der Biograf mit dem Biografierten in eine sinnstiftende Symbiose hineinbewegt – ganz im Kierkegaard-Sinn. Der Historiker aber fällt auch nach all den Jahren ein in der Summe durchaus kritisches Urteil über Witt. „In diesem Mann zeigen sich viele negative Seiten norddeutscher Bürgerlichkeit und hanseatischer Kaufmannschaft, die es bis heute gibt. Dazu gehört ein gewisser Hochmut“, sagt Ulrich Mücke. „Witts Tagebuch belegt auch, wie tief der bürgerliche Kosmopolitismus einen modernen Rassismus und Eurozentrismus in sich trägt.“

Am Donnerstag, dem 26. Januar 2017, wird das für die Geschichtswissenschaft in Hamburg und Peru wertvolle zehnbändige Tagebuch des Altonaer Kaufmanns Heinrich Witt der Öffentlichkeit vorgestellt – um 18.30 Uhr im Vortragsraum der Staatsbibliothek, Von-Melle-Park 3. Der Eintritt ist frei. Weitere Infos zu dem Tagebuchprojekt gibt es unter www.heinrich-witt.de.