Mit Pauken und Trompeten, Flöten und Schlagzeug zogen die rund 100 Musikerdes NDR im vergangenen Herbst von der Laeiszhalle in die HafenCity. Die Elbphilharmonie ist für die kommenden zehn Jahre ihr musikalisches Zuhause

Das NDR Elbphilharmonie Orchester wird Residenzorchester des neuen Konzerthauses. Residenz, das klingt irgendwie nach Schloss und gekrönten Häuptern. Passt nicht schlecht zu dem Riesen-Edelstein, der da jetzt an der Hafenkante funkelt.

Als das NDR Elbphilharmonie Orchester Mitte November nach seinem Einzug die ersten Besucher im Konzerthaus empfing, da kannte das allseitige Staunen keine Grenzen. Staunen über die Großzügigkeit und Helligkeit nicht nur des Großen Saals, sondern auch der zahlreichen Zweckräume drumherum. Wer hat schon einen derart prominenten Arbeitsplatz? Der Blick aus dem zehnten, elften, zwölften Obergeschoss über Stadt und Hafen ist wahrhaft majestätisch. Nur das Lager für die orchestereigenen Instrumente – das ist zum überwiegenden Teil das enorme Arsenal an Schlagwerk – muss ohne Fenster auskommen.

Mit der „Residenz“ des NDR Elbphilharmonie Orchesters ist etwas anderes gemeint als ein herrschaftlicher Wohnsitz in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes. Eine Residenz im künstlerischen Sinne ist kein Gebäude. Sie bedeutet, dass jemand sein künstlerisches Tun über einen längeren Zeitraum mit einem Ort verbindet.

„Die räumlichen und akustischen Möglichkeiten der Elbphilharmonie sind für die weitere Entwicklung der Klangkultur des NDR Elbphilharmonie Orchesters von entscheidender Bedeutung“, sagt der Chefdirigent Thomas Hengelbrock. „Ich verspreche mir vom Großen Saal der Elbphilharmonie einen ähnlich positiven Einfluss auf das NDR Elbphilharmonie Orchester, wie ihn das Concertgebouw in Amsterdam oder der Goldene Saal im Wiener Musikverein auf die dort residierenden Orchester gehabt haben.“

So elegant und zukunftsorientiert das Gebäude ist, feudal soll es gerade nicht sein. Die Verantwortlichen im Rathaus werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Bau ein Konzerthaus für alle sei, ein demokratischer Ort. Wenn überhaupt ist das Orchester nach diesen Maßstäben ein Repräsentant der Hamburger, die den Bau schließlich mit vielen, vielen Steuermillionen bezahlt haben – freilich mit der Fußnote, dass das Orchester selbst gar kein städtischer Klangkörper ist, sondern vom NDR getragen wird und für dessen gesamtes Sendegebiet zuständig ist. Es hat Abonnementsreihen in Kiel und Lübeck und konzertiert regelmäßig in ganz Norddeutschland. Für das Philharmonische Staatsorchester dagegen, das seit mehr als 180 Jahren in Hamburg beheimatet ist, hat die damalige Intendantin Simone Young den Hut gar nicht erst in den Ring geworfen, als es um die Residenz ging.

Das NDR Elbphilharmonie Orchester untersteht der Klangkörperchefin des NDR, Andrea Zietzschmann – noch, denn Zietzschmann ist auf dem Absprung zu den Berliner Philharmonikern. Rund 100 Musiker gehören dem Orchester an. Dazu kommen bei jedem Projekt Aushilfen. Sie springen im Krankheitsfall ein, aber oft werden sie auch langfristig engagiert, wenn mehr Harfen, Schlagwerker oder Hornisten gebraucht werden, als das Orchester selbst hat, oder wenn Exoten wie das elektronische Instrument Ondes Martenot zum Einsatz kommen. Und selbst die gut 30 Geiger, die die größte Instrumentengruppe stellen, haben fast immer Gäste dabei.

Für die Residenz zahlt das NDR Elbphilharmonie Orchester schnöde Miete. Über die Höhe schweigen sich die Beteiligten aus, aber man spricht seit dem Vertragsschluss 2007 von einer Größenordnung von 800.000 Euro pro Jahr, darin eingeschlossen das Vorbuchungsrecht, das dem Orchester für Verhandlungen mit anderen Interessenten eine gewichtige Machtposition gewährt. Der Vertrag läuft über zehn Jahre ab Aufnahme des Spielbetriebs, dann wird neu verhandelt. Das gilt auch für die „Elbphilharmonie“ im Namen, das Orchester heißt ja nicht Hohenzollern oder Hannover oder was Deutschland sonst so an Erbdynastien aufzubieten hat.

Als Oligarchen wären die rund 100 Musiker ohnehin denkbar ungeeignet. Orchester sind andauernd mit der eigenen Willensbildung beschäftigt. Zu ausgeprägt und zu unterschiedlich sind die Persönlichkeiten, die da versammelt sind, immer gilt es zwischen Neugierigen und Bremsern zu vermitteln, da bildet das NDR Elbphilharmonie Orchester keine Ausnahme. Nur der Umzug in die Elbphilharmonie, den müsste noch der verknöchertste Traditionalist begrüßen. „Zurzeit ist sehr viel Energie zu spüren“, sagt die junge Cellistin Katharina Kühl. „Es herrscht eine sehr wache, kreative Atmosphäre. Viele bringen sich mit Ideen ein, längst nicht nur musikalisch.“

Neben der Vorstandsarbeit, die ist in jedem Orchester unerlässlich, engagieren sich die Musiker für die Orchesterakademie wie Katharina Kühl oder nehmen eins der vielen anderen Ehrenämter wahr. Jemand muss schließlich das Archiv pflegen oder sich um Orchesterfeste und andere gesellige Gelegenheiten kümmern. Rainer Castillon, Ehrenmitglied des Orchesters und von 1974 bis 2010 als Bratscher dabei, hat noch Jahre nach seiner Pensionierung an der Gestaltung des Backstagebereichs in der Elbphilharmonie mitgewirkt. Von ihm stammt unter anderem der Entwurf für ein neuartiges Regalsystem hinter der Bühne des Großen Saals, in dem die Musiker in der Konzertpause ihre Instrumente ablegen können.

Die viel beschworene Aufbruchseuphorie einmal beiseite: Hier zeigt sich eine neue Kultur der Teilhabe. Ein Sinfonieorchester ist zwar auch im Jahre 2016 notwendig ein hierarchisches Gebilde. Der Dirigent sagt, wo’s lang geht, und jede Gruppe hat ihren Stimmführer. Doch der Unterschied zu den Maestri vom Schrot und Korn eines Karajan oder Furtwängler liegt in der Art der Verständigung. Heutige Dirigenten inszenieren sich weniger als Halbgötter, sie sind nahbarer, kollegialer im Umgang. Viele von ihnen sind geprägt von der basisdemokratisch wilden Zeit der 80er-Jahre, als sich Gruppen wie die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen oder das Freiburger Barockorchester gründeten. Die haben mit ihrem Ungestüm Weltkarriere gemacht und nebenbei das Klima im Musikbetrieb unumkehrbar verändert – spät genug, wenn man etwa an die 68er-Bewegung denkt.

Beim NDR Elbphilharmonie Orchester ist dieser frische Wind erst mit Verzögerung angekommen. Die Biografie des Orchesters reicht zurück bis in die Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Gegründet auf Ruinen, ist es kaum älter als die Bundesrepublik. Seine Entwicklung spiegelt das mühevolle Erwachsenwerden der Nachkriegsgesellschaft.

Das hieß im Jahre 1945 zunächst einmal, mit der Hypothek der gerade untergegangenen Diktatur fertig zu werden. Hans Schmidt-Isserstedt, Jahrgang 1900 und einigermaßen unkompromittiert durch das Dritte Reich gekommen, suchte im Auftrag der britischen Besatzungsmacht für den Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) Musiker für ein neues Sinfonieorchester zusammen. Probte mit den vom Krieg Gezeichneten, formte sie zu einem Klangkörper, machte Rundfunkaufnahmen und wagte am 1. November 1945 den ersten Liveauftritt in der Musikhalle, wie sie damals hieß.

26 Jahre blieben der Gründervater und seine Musiker zusammen. Daheim muteten sie ihrem Publikum unbekanntes Repertoire zu – Mahler! Strawinsky! – und trugen auf ihren Konzertreisen ein neues Bild von Deutschland in die Welt. Ähnlich tief und doch ganz anders hat Günter Wand in den 80er-Jahren das Orchester geprägt und das Hamburger Publikum gleich mit. Seine Lesarten von Bruckner, Brahms und Beethoven haben die Wände im Saal der Laeiszhalle förmlich imprägniert. „Er war ein großer Meister. Er konnte mit ganz wenigen Mitteln einen Klang hervorzaubern“, erinnert sich Rainer Castillon. „Bei ihm hatte man das Gefühl, dass eine Achte von Bruckner in 20 Minuten vorbeiging. Da vergaß man, wie unangenehm und exzentrisch er sein konnte.“

Wands unkalkulierbare Launen und die Kräche mit ihm sind Legende. Aber Krach und vorzeitige Abgänge konnten auch andere Chefs. Wands Vorgänger Klaus Tennstedt ließ das Orchester während einer Konzerttournee im Stich, mit dem englischen Originalklangexperten John Eliot Gardiner, der auf Wand folgte, wurde man nicht warm, und Christoph von Dohnányi ging im Streit mitten in der Saison, sodass das Orchester bis zu Hengelbrocks Amtsantritt 2011 ein gutes Jahr ohne Chefdirigent war.

Auch in der Beziehung mit ihm hat es Höhen und Tiefen gegeben. Wie in einer Ehe, könnte man sagen, hatte doch bei seinem Amtsantritt die Metapher von der Liebesheirat in vielen Spielarten Konjunktur. „Konflikte bergen aber auch die Chance, sich weiterzuentwickeln“, sagt Katharina Kühl dazu. „Bei uns passiert gerade so viel Neues.“

Man hört es. Unter Hengelbrock hat das Orchester einen farbenreichen, nuancierten Klang entwickelt, es spielt immens lebendig und stilistisch variabel. Der Unterschied zu Dohnányi könnte kaum größer sein. „Dohnányi hat unglaublich präzise gearbeitet“, sagt der Hornist Dave Claessen, „aber unter ihm wurde vielleicht nicht so gelöst musiziert wie unter Hengelbrock.“

Seit Günter Wands Weggang 1991 befinde das Orchester sich in einer Selbstfindungsphase, sagt Claessen aber auch. Und die Außenwahrnehmung? Rundfunkorchester haben es generell schwerer mit dem Image, jedenfalls solange nicht „Bayerischer Rundfunk“ draufsteht. Das Verdikt „zweitrangig“ ist unter Musikkritikern schnell bei der Hand, aber das NDR Elbphilharmonie Orchester hat von seinen Tourneen immer wieder hymnische Kritiken mitgebracht.

Wie es sich im Vergleich mit der internationalen Spitze behauptet, das wird die Akustik des Großen Saals zeigen. Klar sei sie, hört man von denen, die sie bereits erlebt haben, und um einiges weniger schmeichelhaft als die der Laeisz­halle. „Die Chancen, dass sich unser Orchester durch die Residenz in der Elbphilharmonie in seiner Klangkultur noch weiter steigert und zu den großen Weltorchestern aufschließt, stehen sehr gut“, hat Thomas Hengelbrock im Frühjahr gesagt. Das Orchester ergreift ja gerade erst Besitz von seiner Residenz.

Ein Zeichen hat es freilich schon viel früher gesetzt. Im Juni 2005, die Pläne für die Elbphilharmonie nahmen allmählich Gestalt an, feierte das NDR Sinfonieorchester sein 60-jähriges Bestehen in einem leer stehenden Bürogebäude am Sandtorkai. Der Ort war damals mit Bedacht nahe am Kaispeicher gewählt. Von dessen Dach aus, der heutigen Plaza, schickten NDR-Blechbläser eine Fanfare zu den versammelten Festgästen hinüber. Von Residenz sprach damals noch keiner.