Seit 2007 ist der Wiener Christoph Lieben-Seutter Chef der Elbphilharmonie. Lange war er der tragische Hausherr ohne Haus.Nun wünschen sich alle von ihm nur eines: Karten

Diesen bombigen Ausblick vor den Bürofenstern, den müsste ihm die Stadt eigentlich vom Lohn abziehen. Zehnter Stock, die Südwest-Ecke der Elbphilharmonie, unverbaubare Fototapete, den Hafentrubel unmittelbar vor der Nase, rechts geht’s zu den Landungsbrücken raus. Und vor seinem Schreibtisch ragen sehr dekorativ sehr schräge Säulen ins Amtszimmer, eine kleine Anspielung auf das extravagante Styling der Plaza des Konzerthauses, zwei Etagen tiefer.

Im vergangenen Jahrzehnt hat sich Christoph Lieben-Seutter, je nach Stand oder Stillstand der Krisenbaustelle Elbphilharmonie, mehrfach neu eingerichtet: am Valentinskamp, im Brahms-Quartier und natürlich auch oben hinten im klitzekleinen Verwaltungstrakt der Laeiszhalle. Jetzt aber ist der Wiener auch leibhaftig dort, wo der damalige Chef des Wiener Konzerthauses immer hinwollte, als er 2006 zusagte und 2007 mit Frau und Töchtern in Hamburg ankam. Platz der Deutschen Einheit, HafenCity. Nicht ganz oben im Gebäude, denn dort, ein Dutzend Stockwerke höher, residieren die Inhaber der Luxuswohnungen, aber ganz oben in der Hierarchie des spektakulärsten Konzerthauses, das man für Geld, für viel mehr Geld als einmal gedacht bauen konnte.

Gäbe es einen Balkon, könnte Lieben-Seutter dort den DiCaprio machen und die „König der Welt“-Szene aus „Titanic“ nachspielen. Sähe blöd aus, klar, aber wer sollte ihn hier aufhalten? Doch so scheint der Generalintendant von Elbphilharmonie und Laeiszhalle dann doch nicht zu ticken. Er freut sich offenkundig mehr nach innen, über die Verantwortung, die Aufgaben, die Möglichkeiten, die Perspektiven. Und diesen Ausblick gibt’s gratis dazu. Der Legende nach kann in Wien jeder Taxifahrer die Stabreime von Wagners „Ring“ rückwärts aufsagen, an der Elbe schimpfen manche eher und immer noch sehr pauschal über den „Prachtbau“, in dem Lieben-Seutter nun den Ton angibt.

Sein derzeitiger Vertrag läuft bis Sommer 2021. Restsehnsucht nach Wien, der wirklich klassischen Musikstadt, der ohne die skeptischen Wenns und Abers? Nö, gar nicht, antwortet Lieben-Seutter, ohne zu zögern. „Die war nie da, höchstens musikalisch, an die Dichte des Angebots“, meint er. „Wenn man die Lobby vom Hotel Imperial betritt und einem vier Weltklasse-Dirigenten gleichzeitig entgegenkommen, das war in Hamburg nie so und ist das Einzige, was mir hin und wieder gefehlt hat. Ansonsten gehen mir hier noch die Berge am Horizont ab. Alles andere ist mir sehr schnell ans Herz gewachsen.“

Warten hat schonganz andere mürbe gemacht

Obwohl am Kaiserkai ein kleines Kaffeehaus auf Alt-Wien macht, hat Lieben-Seutter es dorthin noch nicht oft geschafft. Die eigene Sozialisation beim Kleinen Braunen ist schon lange her, während der Schulzeit war das anders. Selbstverordnete Freistunden im Cafe Krugerhof, gegenüber im Kino liefen vormittags James-Bond-Filme. Nach dem Abitur arbeitete er in der Computerbranche und wurde die rechte Hand des umtriebigen Kulturmanagers Alexander Pereira in Wien und Zürich, bevor er selbst die Leitung des Wiener Konzerthauses übernahm, das in der Nachbarschaft des Musikvereins-Gebäudes steht.

Vor gut einem Jahrzehnt hätte man bei der Erwähnung seines Namens in Hamburg auch von vielen Musikfreunden nur ein erstauntes „Lieben wer!?“ zu hören bekommen. Das hat sich geändert. Jetzt kennt praktisch jeder den hochgewachsenen Mann mit der Brille, und wenn schon nicht namentlich, dann zumindest wegen seines tragischen Schicksals. Jahrelang war er hier: der in der Warteschleife. Der Hausherr ohne Haus. Der Pechvogel. Alles, was dazu zu sagen war in den vergangenen Jahren, ist längst und mehrfach gesagt. Auch von ihm, in allen Stimmungsabstufungen. Als Lieben-Seutter ganz frisch war hier, hatte er als der Neue von außen Hamburg zum Einstand abgesprochen, Musikstadt zu sein; das kam nicht so gut an. Als es gerade mal wieder finster stand um sein Projekt, frustete es den Begriff „Lachnummer“ aus ihm heraus.

Kann man alles verstehen. Warten hat schon ganz andere mürbe gemacht. Obwohl er als Konzerthaus-Chef ja nicht zum Nichtstun verdammt war. Er hatte die Laeiszhalle zu leiten und vorzubereiten, und ein anderes Gebäude musste er wahr werden lassen, im Rahmen seiner Möglichkeiten. Er hat neue Konzertkonzepte ausprobiert und manche sogar etabliert, hat kleinere und größere Festivals ins Sortiment gestellt, als wäre das Hamburger Musikleben eine Versuchsküche, in der man durch verspieltes Würzen und energisches Umrühren ganz viele Menschen mal eben auf ganz neue Geschmacksrichtungen bringen könnte. Sofort hat das nicht geklappt, immer auch nicht. Doch in den vergangenen Spielzeiten immer öfter. Die Wartezeit, unter der Lieben-Seutter litt, war sein Nachteil, der schließlich doch noch zum Vorteil wurde.

Keinen Teil seines Wechsels von der Donau an die Elbe hat er bereut. „Die Zeit am Wiener Konzerthaus war großartig, trotzdem musste ich nach zehn Jahren weiterziehen“, sagt er, „und bin zum spannendsten Projekt gegangen, das meine Branche zu bieten hat, auch wenn es dann länger als erwartet gedauert hat und nicht immer erfreulich war. Ausgezahlt hat es sich in jedem Fall.“

Nun scheint alles ganz einfach. Die Karten für alles und jeden in den ersten elbphilharmonischen Monaten wurden ihm buchstäblich aus den Händen gerissen. Für die erste vollständige Elbphilharmonie-Saison, deren Programm im Frühjahr präsentiert werden wird, dürfte es ähnlich weitergehen. Beim Orakeln über kommende Attraktionen bleibt Lieben-Seutter, wenig überraschend, so vage wie nötig: „Es ist klar, dass wir die Grundkonzeption so weiterführen. Die wirklich spannende Aufgabe ist, den Riesenansturm nicht einfach nur für den Kartenverkauf zu nutzen, sondern Geschichten über Musik zu erzählen. Und damit den Zigtausenden Besuchern eine Welt zu erschließen, die über den ersten und einmaligen Besuch dieses Konzerthauses hinausgeht.“

Dass jetzt, von heute an, die Hamburger Schonfrist an ihr letztes Ende kommt, ist für Lieben-Seutter kein Pro­blem. Liefern? Kein Thema. „Super. Dafür sind wir da, das ist eine große Chance und eine große Verantwortung.“ Die Elbphilharmonie wird sich nie rechnen, aber immer rentieren? „Das stimmt sicher. Sie ist unbezahlbar, weil sie eine Wirkung für Hamburg und darüber hinaus hat, die nachhaltig sein und viele Jahre anhalten wird. Deswegen ist verglichen damit jede finanzielle Kalkulation irrelevant.“

Ob die Eröffnung das Erlebnis der ersten Probe toppen wird?

Jetzt gilt es, die ersten Konzert­monate oberhalb vom Kaispeicher A möglichst reibungsfrei über die Bühnen zu bringen. Falls nicht alles komplett seinen Privatgeschmack trifft, wäre ja mal interessant, was er wirklich liebend gern im neuen Konzerthaus erleben würde. „Musik, mit der ich groß geworden bin, und die spielt sich vor allem im 20. Jahrhundert ab: Messiaens Oper ,Saint François‘, Nonos ,Prometeo‘, große Stockhausen-Werke, die Vierte von Ives – da gibt’s Dinge, nach denen schreit der Saal. Auf die freue ich mich.“

Als Konzerthaus-Chef in Wien hatte er eine große Baustelle unter sich, als Hoffnungsträger in Hamburg eine monströs große vor sich. Was kann da im Lebenslauf noch kommen? „Keine Baustelle mehr“, flachst er zurück. „Das war eine interessante Erfahrung, denn mir hat das Wissen von der ersten Baustelle bei der zweiten kaum genutzt, außer, um etwas Kassandra zu spielen“, erinnert er sich. „Viele Fehler sind hier wiederholt worden, die ich schon im Konzerthaus erlebt habe. Aber hier war ich nicht der Bauverantwortliche. Und nur weil dieser für die Musik zuständige Intendant eine Meinung zu Bauthemen hat, heißt das noch lange nicht, dass die Fachleute auch zuhören. Das hat mir eine Zeit lang zu denken gegeben. Hätte ich mehr sagen müssen, hätte ich anders auf den Tisch hauen sollen? Doch wenn so ein Dampfer in eine Richtung fährt, kann ein Einzelner nicht so leicht den Kurs ändern.“

Vor einigen Monaten hat Lieben-Seutter, Vorgesetzter von mittlerweile rund 49 Mitarbeitern bei der HamburgMusik gGmbH, eingestanden: „Mein Fehler ist, ich lobe zu wenig.“ „Ja, aber ich gelobe Besserung“, sagt er jetzt zu seiner Verteidigung. „Ich glaube, hier in der Elbphilharmonie habe ich schon ausführlich gelobt. Denn was mein Team bei der Vorbereitung, beim Einzug und danach geleistet hat, ist ganz fantastisch.“ Und wenn es dennoch hakt und klemmt, ist er nicht der Cheftyp, den man noch im geschlossenen Fahrstuhl toben hört. „Ich werde leise und werfe höchstens mal mit zynischen Sprüchen um mich.“

Mit Lampenfieber am Abend der Eröffnung, vor den vielen Prominenten und den Kameras kann Lieben-Seutter nur bedingt dienen. Das mit dem Reden liege ihm zwar nicht so, meint er, „aber ich habe es in den letzten 20 Jahren gründlich gelernt, und es bringt mich auch gar nicht mehr aus der Ruhe. Allerdings überlege ich mir blöderweise immer erst in der letzten halben Stunde vor dem Auftritt, was ich eigentlich sagen will. Und das ist manchmal Stress.“ Einen sehr speziellen Stress der letzten Monate hat er gut verarbeitet, denn die vielen freundlichen Kontakte und Mails wegen Karten für die Eröffnungsgalas prallten an ihm ab. Kaufen konnte man die Tickets ohnehin nicht, deswegen dachten sich manche interessante Begründungen aus, warum ausgerechnet sie vom Intendanten in den kleinen Kreis der 4200 Ehrengäste aufzunehmen wären. Verweise auf die eigene Wichtigkeit gab es reichlich. Viele hatten freundlich angefragt, ob es nicht doch noch irgendeine kleine Chance auf Karten in den ersten Wochen gebe. Und besonders hübsch war der Verweis auf den 50. Hochzeitstag, am 11. Januar 2017.

„Dann bin ich heiser und hab Kreuzweh“, prophezeit Lieben-Seutter seinen körperlichen Zustand für die Stunden nach dem Ende des ersten Eröffnungskonzerts. „Ich bin gespannt, ob die Eröffnung das Erlebnis der ersten Orchesterprobe und der Feier mit den Projektbeteiligten noch toppen kann. Da waren knapp 1000 Menschen, von denen ganz viele viel Herzblut ins Projekt gesteckt haben. Manche waren zu Tränen gerührt, es schien für sie fast so, als ob sie ihr Kind aussetzen müssten. In einer kurzen Ansprache habe ich versichert, dass wir sehr auf ihr Haus aufpassen würden. Das macht einen irgendwie demütig. Es ist fantastisch geworden, viel besser, als ich erwartet habe – und das waren all diese Leute.“

Obwohl wahrscheinlich jeder gut sortierte Künstler-Agent und jedes große Orchester der Musikwelt in den letzten Monaten in Lieben-Seutters Leitung oder Mail-Eingang auftauchte: Hollywood hat noch nicht angerufen, um Tom Cruise hier eine Runde auf der Glas­fassade klettern zu lassen. „Bislang war es mehr die deutsche Til-Schweiger-Liga“, sagt der Neubau-Hausherr amüsiert. „Aber ich gehe davon aus, dass so etwas noch kommt.“