São Paulo . Seit fast drei Wochen touren Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg durch Südamerika. Stippvisite in São Paulo.

Was für eine Ansage. „Wenn Sie im Konzerthaus angekommen sind, bleiben Sie besser drinnen. Gehen Sie auf keinen Fall allein hinaus“, sagt der Fahrer, während er den klimatisierten Bus durch das Verkehrsgewühl manövriert. „In diesem Viertel bringen die Leute Sie für ein Paar Schuhe um.“

„Land des Crack“, so nennen Einheimische die Gegend. Mittendrin liegt die Sala São Paulo wie eine Insel der Hochkultur, ein früherer Bahnhof, dessen Architektur mit majestätischer Geste an den Reichtum der Kaffeebarone erinnert.

Sao Paulo, Brasilien. Fußballplatz in einer Favela
Sao Paulo, Brasilien. Fußballplatz in einer Favela © © epd-bild / Werner Rudhart | Werner Rudhart

Auf den paar Metern vom Bus zum Eingang mischen sich Kinder in fleckigen alten T-Shirts unter die Musiker. Wie Mörder schauen sie nicht drein, eher neugierig. „Die Armut hier beeindruckt mich sehr. Da wird mir erst klar, wie gut es uns geht“, sagt Ralph van Daal, Oboist und Englischhornist des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. „Ich denke viel darüber nach. Aber vor dem Konzert muss ich es ausblenden.“

Das hier ist eben etwas anderes als ein Konzert daheim in der Laeiszhalle. Wie überhaupt die ganze Tournee anders ist als das gängige City-Hopping innerhalb Europas. Sie führt heraus aus der Komfortzone.

Die Reiseroute führt durch Südamerika

Für knapp drei Wochen sind das Orchester und sein Chefdirigent Kent Nagano in Südamerika unterwegs. Sie haben verschiedene Programme im Gepäck, darunter Brahms’ Erste, aber auch Strauss und Bruckner, mit deren Werk das Orchester eine lange Aufführungstradition verbindet.

Die Reiseroute führt im Zickzackkurs über den Kontinent. In Montevideo und Santiago de Chile waren die Künstler schon, Buenos Aires und Bogotá folgen noch. Am heutigen Sonnabend beschließen sie die Tournee mit einem Konzert in der kolumbianischen Hauptstadt.

São Paulo ist die dritte Station. Zum fünften Mal schon spielen sie das Programm des 1. Philharmonischen Konzerts, das auch in Hamburg zu hören war. Doch von Routine ist nichts zu merken, im Gegenteil. „Es gibt Stücke, die bekommt man nie satt“, sagt der Soloklarinettist Rupert Wachter.

30 Minuten erlaubt der Tarifvertrag nur für die Anspielprobe. Nagano nutzt jede einzelne. Gibt den Einsatz zum ersten Satz Brahms und hüpft dann wie eine Gämse vom Podium, prüft die Wirkung im Saal, scheint überall gleichzeitig zu sein. „Geben Sie nicht zu viel“, sagt er, „hören Sie auf den Gesamtklang.“ Er stimmt hier einen Akkord an, ändert da eine Phrasierung, hochkonzentriert und guter Laune. „Sind wir zu laut?“, fragt er seinen Assistenten, der hinten im Parkett zuhört, und dreht sich zu dem Cellisten Gautier Capuçon, der in Richard Strauss’ Tondichtung „Don Quixote“ die Solopartie spielt: „Sind Sie zu laut?“

Freundliche Eleganz als Kontrast

Ein Witz, klar, der Solist hat immer Recht. Alle lachen. Die Stimmung ist beflügelt. Das Staunen der Musiker über die warme, feine Akustik ist auf ihren Gesichtern zu lesen. In diesem Haus ist alles Großzügigkeit und Raffinesse, vom Licht über die modulare Holzdecke bis zur gekonnten Verbindung von alter Bausubstanz mit modernen Elementen. Die freundliche Eleganz lässt den Kon­trast zur Umgebung rasch vergessen.

Doch genau dieser Kontrast ist typisch für die Metropole, die mit rund 21 Millionen Einwohnern in der Region das schlagende Herz Brasiliens ist. Hin und wieder finden sich in diesem Meer von Hochhäusern noch Kolonialvillen mit blühenden Sträuchern im Garten. Je teurer die Gegend, desto schwerer bewacht die Hauseingänge.

In den Seitenstraßen des Boulevards Avenida Paulista reihen sich die Nobelboutiquen aneinander, während in der Altstadt die Allerärmsten in Hütten aus Karton und Filzlappen kampieren.

Am Morgen haben einige der Musiker ein Brasilien kennengelernt, das von der Weltläufigkeit einer Sala São Paulo denkbar weit entfernt ist. Gut 40 Minuten braucht der Bus vom Businesshotel, in dem das Orchester untergebracht ist, zu der Favela Heliópolis im Süden der Stadt. Er quält sich durch enge Sträßchen bergauf, an einem armdicken, fransigen Wust von Stromkabeln entlang und vorbei an Häusern, die sich so zufällig stapeln wie gelbe, pastellgrüne oder rosafarbene Bauklötze. Die Menschen sind ähnlich bunt gekleidet. Ein Mann schwingt sich an Krücken bergauf, er hat nur ein Bein, sein Fuß steckt in einem Flipflop.

So richtig wissen die Musiker nicht, was sie im Instituto Baccarelli erwartet. „Master Class“ hieß der Programmpunkt. Unterrichten also. Aber was? Was spielen Kinder aus einem Slum?

Zunächst einmal sind es keine Kinder, sondern Jugendliche und junge ­Erwachsene. Und dann überraschen sie die Hamburger zur Begrüßung mit einem veritablen Konzert. Sinfonieorchester Heliópolis nennt sich der größte Klangkörper des Instituts, voll besetzt bis in die dritte Posaune, und spielt Wienerisches von Franz von Suppé und Brasilianisches von Chiquinho de Moraes mit einem Schwung, dass die Gäste unwillkürlich mitgehen.

Die Gruppen stehen beim Spielen abwechselnd auf, Marke La Ola, was nicht nur witzig ist, sondern auch musikalisch überzeugend. „Na, dann gehen wir mal wieder, die können ja schon alles“, scherzt ein philharmonischer Kontrabassist anschließend und fasst so die Verblüffung der Hamburger bündig zusammen. Dieses Niveau hatten sie nicht erwartet. In einer Favela?

Ja doch, einerseits. Schon die unterschiedlichen Hauttöne verraten die ­soziale Mischung. Weiß ist oben, das ist gesellschaftliche Realität in Brasilien. Das Institut ist an diesem Ort errichtet worden, eben weil hier niemand die Mittel für Musikunterricht hat. Der ist ­umsonst, manche Schüler bekommen zusätzlich Geldstipendien. Das Ganze wird über Spenden und Sponsorenverträge ­finanziert. Der Staat schießt keinen Real zu.

Ein heterogenes Gebilde

Andererseits ist eine Favela ein ­heterogenes soziales Gebilde. Wer in dem ausgeklügelten pädagogischen System des Instituts vom Kinderchor als Einstiegsangebot bis zum Erlernen eines Orchesterinstruments auf fortgeschrittenem Niveau dabeibleibt, stammt eher nicht aus einer Ziegelhütte mit Wellblechdach. „In diesem Viertel leben auch Familien, die wenig Geld haben, aber trotzdem zur Mittelschicht gehören“, sagt der Dozent Pedro Visockas, im Hauptberuf Bratscher im städtischen Opernorchester.

Der Vater seiner Schülerin Mariana etwa ist Restaurantmanager. Die 21-Jährige gehört zu denen, die im Losverfahren eine der kurzen Unterrichtseinheiten bei dem Bratscher Thomas Rühl gewonnen haben. Die Bratschenkollegen drängen sich in dem kleinen Raum, die Luft sirrt förmlich vor gespannter Aufmerksamkeit. Einige schreiben jedes Wort von Rühl mit. Und der holt aus den 20 Minuten pro Teilnehmer heraus, was geht. Visockas übersetzt zwischen Portugiesisch und Englisch, aber eigentlich verstehen sich alle sowieso über Töne und Gesten.

Doppelgriffe werden stabiler

Mariana hat sich „Elégie“ von Strawinsky ausgesucht. „Was stellst du dir vor, wenn du dieses Stück spielst?“, fragt Rühl. Sie lächelt, schluckt und sagt dann leise: „Jemanden, der verletzt ist, aber seine Gefühle nicht zeigen will.“ Rühl lobt das Bild und steigt dann systematisch ein. Nach 20 Minuten hat die „Elégie“ ein Gesicht, und Marianas Doppelgriffe klingen deutlich stabiler.

Sie möchte Orchestermusikerin werden wie viele ihrer Mitschüler. Das ist nicht abwegig: In den brasilianischen Orchestern sitzen durchaus Absolventen dieses erstaunlichen Instituts. „Es gibt Menschen hier in Heliópolis, die können kaum lesen und schreiben“, sagt Pedro Visockas. „Aber ihre Kinder treten eines Tages in der Sala São Paulo auf. Und die ganze Familie ist dabei.“

Sala São Paulo, der Name hat etwas Magisches. Die Stadt ist stolz auf die vielgerühmte Akustik. Der Konzertsaal zähle zu den zehn besten der Welt, dieser Satz fällt immer wieder. Hamburgern könnte er bekannt vorkommen.

Auch Janosch Henle ist zufrieden mit dem Haus. Ihm als Orchesterwart geht es vor allem um die Infrastruktur. „Es ist perfekt hier“, sagt er, während im Saal die Anspielprobe läuft. Alle 64 In­stru­mentenkisten – für die Geigen und Bratschen gibt es Sammelkisten – hat er so aufgebaut, dass jeder drankommt. „Man kann den Lkw bis ganz ranfahren. In Santiago mussten wir alles in kleine Autos umladen, weil der Lkw nicht in die Tiefgarage passte, und jede Kiste in einen Lastenaufzug packen.“

Flüge für mehr als 100 Musiker

Die Logistik für eine solche Tournee ist schlicht haarsträubend. Flüge und Hotels für mehr als 100 Leute buchen und koordinieren, zwischendurch jede einzelne Frage beantworten (und das sind viele), über Nacht ein Podest für den Cellisten Gautier Capuçon schreinern lassen, das einerseits lang genug für ihn ist und andererseits in die Kisten passt, die beim Zoll bereits deklariert wurden. Und erst die Instrumentenpässe!

Jedes Instrument, das einen Holzanteil hat, braucht eine Bescheinigung, dass keine Tropenhölzer oder artgeschützten Hölzer verwendet wurden. Da mussten Wirbel und Saitenhalter ausgetauscht werden und die Elfenbeinplättchen am oberen Ende der Bögen sowieso – sofern die Musiker sich nicht gleich für moderne Karbonbögen entschieden.

Ein Jahr lang hat das Team des Orchesters die Tournee organisiert, knapp genug. Die ersten Sondierungsgespräche waren schon 2013, danach lief erstmal die Akquise. Und das Orchester verdient unterm Strich nicht mal Geld; die Kosten überwiegen die Honorare bei Weitem. Ohne die Hilfe der Klaus-Michael Kühne Stiftung wäre die Reise nicht möglich gewesen.

Der Gewinn liegt woanders. „Für uns ist es wichtig, uns als Ensemble sozial enger zusammenzuschließen, außerhalb der normalen professionellen Routine“, sagt Nagano. „Eine Tournee stellt unsere Arbeit in einen völlig anderen Zusammenhang. Solche Impulse sind für kreative Arbeit sehr wichtig.“

Das Publikum jubelt

Man hört es. Der Abend wird ein Fest. Das Orchester klingt silbrig und nuanciert und so lebendig wie ein atmendes Wesen. Als der Don Quixote, verkörpert vom Solocello, nach einem langen Abwärtsglissando verschieden ist, bleibt es sekundenlang still – bei Brahms’ Erster am Konzertende dagegen fällt schon in den Schlussakkord ein „Bravo“. Die Leute rufen, erheben sich, klatschen rhythmisch, bis Nagano mit einer Handbewegung um Ruhe bittet. „Muito obrigado“, bedankt er sich auf Portugiesisch und erntet den nächsten Jubel. Ein Pärchen macht ein Selfie mit dem Orchester im Hintergrund. Einige Hörer filmen die Zugaben.

Die Gesichter der Musiker leuchten noch, als sie in den Bus steigen. Auf dem Weg zurück ins Hotel rollt der Bus vorbei an einer Gruppe zerlumpter Gestalten. Deren Gesichter sind im Dunkeln kaum auszumachen. Sie stehen um jemanden herum, der auf der Seite liegt. Niemand rührt sich.

Der gespenstische Anblick gefriert in der Erinnerung zu einem Standbild, das sich über die Eindrücke aus dem Konzert legt. Es ist wie bei einem doppelt belichteten Foto: Das eine Motiv ist ohne das andere nicht zu haben. Jedenfalls nicht in São Paulo.