Serie, Teil 2: Auch in der Hansestadt wird es zukünftig immer mehr Pflegebedürftige geben. Doch schon jetzt werden Fachkräfte dringend gesucht. Welche Wege führen aus der Krise?

Die Betten stehen dicht gedrängt, Bettlaken teilen die Schlafnischen notdürftig ab. Verhärmte alte Menschen schlurfen in Notunterkünften über nackte Fußböden. Andere planen nebenan den Widerstand. Als Kommando „Zornige Alte“ stören sie die Partys der Oberschicht, werfen mit aus Schönheitskliniken gestohlenen Silikonschichten. Sie brechen in Apotheken ein, um irgendwie noch an Medikamente zu kommen. Die Kassen zahlen sie nicht mehr – und von der Einheitsrente von 560 Euro kann sich niemand mehr teure Pillen leisten. Wer auf ein Zimmer in einer Seniorenresidenz hoffen will, ist entweder gut betucht oder hat Kinder, die den Pflegeplatz finanzieren.

Der ZDF-Dreiteiler „2030 – Aufstand der Alten“ elektrisierte 2007 die TV-Nation, löste eine Welle von Diskussionen aus. Wird der Generationenvertrag einfach aufgekündigt? Müssen arme alte Menschen in Elendsquartieren vor sich hin vegetieren? Kippt das Rentensystem? Inzwischen ist das Jahr 2030 ein Jahrzehnt näher gerückt. Und die alles entscheidende Frage bleibt: Wie bewältigen wir den demografischen Wandel? Dass der Anteil alter Menschen immer weiter steigen wird, bestreitet niemand. Schon jetzt leben in Hamburg über 243.000 Senioren zwischen 65 und 80 Jahren sowie 91.000 Hochbetagte über 80. Bis 2030 wachsen beide Altersgruppen rasant: Insgesamt werden dann fast 390.000 Hamburger das 65. Lebensjahr überschritten haben, jeder fünfte Bürger der Hansestadt!

Die Werbung mag zwar das Bild vom fitten Senior pflegen, der auch hochbetagt noch zügig radelt und rege diskutiert. An einem Grundsatz ändert das nichts: Mit dem Alter steigt unweigerlich das Risiko der Pflegebedürftigkeit. Dies gilt vor allem für die Demenz. Schon jetzt leiden 31.200 Hamburger an Alzheimer oder einer anderen Form der Demenz, 2030 werden es fast 40.000 sein.

Angesichts dieser Zahlen wäre ein Run auf Pflegeheime eigentlich eine logische Folge. Die bundesweite Auslastung zeigt indes ein anderes Bild, sie sinkt seit Jahren. 2014 meldete die Caritas-Tochter „Wohnen & Soziale Dienstleistungen GmbH“, Betreiber von fünf Altenheimen in Hamburg, sogar Insolvenz an. Als Grund wurde der Verdrängungswettbewerb angeführt, in Hamburg gäbe es ein Überangebot an Pflegeplätzen.

In der Tat waren in Hamburg 2015 zehn Prozent der insgesamt 18.051 Betten nicht belegt. „Um die Wahlfreiheit der Nutzer zu gewährleisten, wären vier Prozent freie Plätze ausreichend“, heißt es in der aktuellen „Rahmenplanung der Pflegerischen Versorgungsstruktur bis 2020“ des Senats.

Pflegebedürftige wollen möglichst daheim bleiben

Zudem geraten immer wieder Heime in die Schlagzeilen wegen gravierender Pflegefehler. Im Juli ordnete die Wohn-Pflege-Aufsicht des Bezirksamts Nord die sofortige Schließung des Langenhorner Altenheims Röweland an. Die Einrichtung mit 140 Plätzen war schon zuvor wegen schwerwiegender Mängel bei der Betreuung, Pflege und Hygiene negativ aufgefallen. Angehörige berichten, dass die Heimbewohner nicht einmal ausreichend zu trinken bekamen.

„Wir brauchen nicht mehr, wir brauchen andere Heime“, fordert der Freiburger Sozialforscher Thomas Klie und plädiert vor allem für Quartierskonzepte: „Heime können wichtige Infrastruktureinrichtungen in Gemeinden und Städten sein. Sie können Gastfamilien, die Pflegebedürftige aufnehmen, unterstützen und die nächtliche Assistenz gemeinsam mit ambulanten Diensten gewähren.“ Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks sagt: „Das Pflegeheim der Zukunft ist eine Art Gemeinschaftszentrum für alle im Stadtteil.“

Unverkennbar ist der Wunsch, so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Entsprechend begehrt sind Pflegehilfskräfte aus dem Ausland, Experten schätzen ihre Zahl auf 300.000. „Dann holen wir uns eben eine Polin“, zählt zu den geflügelten Worten unter betroffenen Angehörigen. Prinzipiell ist gegen diese Form der Betreuung nichts einzuwenden. „Wenn man die gesetzlichen Vorgaben erfüllt, die Mitarbeiter vernünftig sozialversichert und vernünftig bezahlt, ist das vollkommen in Ordnung“, sagt Pflege-Staatssekretär Karl-Josef Laumann. Allerdings ist genau dies keineswegs die Regel. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) prangert ein System der „Überforderung und Ausbeutung“ an: „Die Frauen aus Osteuropa unterwerfen sich, die wenigsten kennen ihre Rechte.“

Das Problem: Wer mit einem deutschen Pflegedienst eine legale 24-Stunden-Pflege organisieren wollte, müsste mit der entsprechenden Zahl von Vollzeitstellen sowie Sonntags- und Nachtzuschlägen mit Kosten von rund 15.000 Euro im Monat rechnen – für fast alle deutschen Haushalte utopisch. Sozialforscher Klie sagt: „Die osteuropäischen Pflegekräfte fungieren als Schockresorber, als Pflegepuffer, sie stabilisieren die häuslichen Pflegearrangements und kompensieren die fehlende oder überforderte Familie.“

Die überforderte Familie ist ein gutes Stichwort. Rund 1,5 Millionen Angehörige kümmern sich in Deutschland um ein pflegebedürftiges Familienmitglied – kein anderes nord- oder westeuropäisches Industrieland verfügt über einen so hohen Anteil pflegender Angehöriger. „In der Altenpflege sind die Familien die Dienstboten der Nation, ein Skandal“, sagt Klie. Viele pflegende Angehörige werden selbst krank, selbst dann, wenn sie sich von ambulanten Pflegediensten unterstützen lassen. Nach Studien liegt die Zahl entsprechender Diagnosen wie depressive Störungen, Knie- und Rückenbeschwerden, Magenprobleme oder Herz- und Kreislaufleiden um bis zu 51 Prozent höher als im Durchschnitt der deutschen Bevölkerung.

Klie ist skeptisch, ob der Dienstleistungsbetrieb familiäre Altenpflege so weiter funktionieren wird: „Das Pflegepotenzial schrumpft, und die Zahl der Pflegebedürftigen steigt. Denn die Familien werden kleiner, Frauen werden sich viel stärker der Berufstätigkeit öffnen.“ Hinzu kommt der Trend zur Patchwork-Familie und zur beruflichen Mobilität. Wie soll ein Arbeitnehmer in München sich um seinen in Hamburg lebenden pflegebedürftigen Vater kümmern?

Dennoch bleibt zu konstatieren: Hamburg hat auf dem Weg zu einer besseren Zukunft für alte Menschen viele Weichen richtig gestellt – vor allem deshalb, weil in Hamburg viele Wege zum Ziel führen.

Zu nennen sind hier etwa die Wohn-Pflege-Gemeinschaften, die Prüfer-Storcks finanziell und personell besonders fördert. Pflegebedürftige leben hier in einer überschaubaren WG, Tag und Nacht betreut von einem ambulanten Pflegedienst. Die Angehörigen organisieren den Alltag weitgehend selbst, packen auch im Wechsel im Haushalt mit an. Eine eigens eingerichtete Koordinierungsstelle für diese WGs sucht nach geeigneten Immobilien, verhandelt mit Haus- und Grundstückseigentümern und unterstützt die Angehörigen im schwierigen Prozess der Gründung.

Das Thema Immobilie beschäftigt auch die Pflegebedürftigen, die in ihren eigenen vier Wänden bleiben möchten. Nach einer Studie der Kreditanstalt für den Wiederaufbau (KfW) gibt es schon jetzt viel zu wenig barrierefreie oder zumindest barrierearme Wohnungen oder Häuser in Deutschland. Einem Angebot von 700.000 Wohneinheiten steht ein Bedarf von 2,7 Millionen Wohneinheiten gegenüber. Bis 2030 wird dieser Bedarf auf 3,6 Millionen Wohneinheiten steigen. Um diesen Bedarf zu decken, wären Investitionen der Wohnungswirtschaft von 50 Milliarden Euro nötig.

Langfristig würde sich das gesellschaftlich sogar rechnen, da Pflegebedürftige in einem geeigneten Wohnumfeld länger daheim gepflegt werden könnten – die stationäre Pflege ist deutlich teurer. Dennoch haben die Experten der KfW kaum Hoffnung, dass sich dieses Ziel auch nur ansatzweise erreichen lässt: „Vermieter haben häufig je nach Lage auf dem lokalen Wohnungsmarkt keine ausreichenden Investitionsanreize für den altersgerechten Umbau.“ Dies gelte erst recht bei einem „überhitzten Wohnungsmarkt“ wie in Hamburg: „Dort lässt sich eine Wohnung auch ohne Umbau leicht vermieten.“

Immerhin gibt es in Hamburg sowohl von den Pflegekassen als auch von der Hamburgischen Investitions- und Förderbank Zuschüsse für einen Umbau. Wer sich mit solchen Gedanke trägt, findet an der Richardstraße im Beratungszentrum für Technische Hilfen und Wohnraumanpassung, finanziert von der Stadt, sehr gute Expertise. Mitarbeiter des Vereins „Barrierefrei Leben“ erklären, was man beachten sollte und wie man es finanziert. Der Clou: Viele Dinge, wie etwa einen Treppenlift, ein Pflegebett oder eine behindertengerechte Badewanne, kann man in aller Ruhe in der 200 Quadratmeter großen Dauerausstellung testen, was vor teuren Irrtümern schützen kann.

Flankiert wird der Hamburger Weg durch das 2017 in Kraft tretende zweite Pflegestärkungsgesetz, der größten Reform der Pflegeversicherung. Mittelfristig sollen 500.000 Menschen erstmals Leistungen der Pflegeversicherung erhalten. „Damit bekommen alle Pflegebedürftigen einen gleichberechtigten Zugang zu Pflegeleistungen – unabhängig davon, ob sie an körperlichen Beschwerden oder an einer Demenz erkrankt sind“, sagt Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe. Die neuen Pflegegrade, die die Pflegestufen ablösen, erlauben eine viel feinere Zuordnung. Mit der rein minutenfixierten Erfassung der Pflegebedürftigkeit ist Schluss, Gradmesser ist zukünftig allein die Selbstständigkeit des Betroffenen. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung orientiert sich dabei am Unterstützungsbedarf des Betroffenen in den Bereichen Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Bewältigung von therapiebedingten Anforderungen und der Gestaltung des Alltagslebens. Zudem verbessert die Pflegeversicherung die Leistungen, durch die Beitragserhöhung stehen den Pflegekassen pro Jahr zwei Milliarden Euro mehr zur Verfügung.

An dem größten Problem wird allerdings auch dieses Gesetz nichts ändern: dem Personalmangel. Schon jetzt suchen Pflegeheime und ambulante Pflegedienste händeringend nach Fachkräften. Und die Lage wird sich verschärfen: Die Bertelsmann-Stiftung prognostiziert, dass 2030 etwa eine halbe Million Vollzeitkräfte fehlen könnten.

Senatorin Prüfer-Storcks spricht von einem „Wettbewerb um die klügsten Köpfe“ zwischen den Branchen: „2030 werden Jugendliche grundsätzlich davon ausgehen können, dass sie in der Wirtschaft als künftige Fachkräfte mit ihren innovativen Ideen gebraucht, geschätzt und umworben werden. Für die pflegerische Versorgung bedeutet das, dass die Konkurrenz um den Berufsnachwuchs noch schärfer werden wird.“ Allerdings werde Hamburg davon profitieren, dass die Stadt attraktiv sei: „Durch den Zuzug junger Leute und die Geburtenrekorde, die ich jedes Jahr verkünden darf, wird Hamburg erst 2030 so alt sein wie Deutschland jetzt schon ist.“

Zudem hat die Hansestadt ein Pro­blem beseitigt, das in anderen Bundesländern nach wie vor existiert: Ausgerechnet die Ausbildung in einem Mangelberuf wie der Altenpflege kostet die Schüler auch noch Geld. Laumann stört dies seit Jahren: „In Deutschland kann man bundesweit gebührenfrei Medizin oder Pharmazie studieren. Dagegen müssen in sechs Bundesländern Altenpflegeschüler noch immer Schulgeld zahlen. Das ist ein Unding.“

Ausbildungsumlage sorgt für mehr Plätze in Hamburg

Hamburg profitiert dagegen von der Ausbildungsumlage. Das Prinzip: Die Pflegeeinrichtungen zahlen eine Umlage. Je höher die Ausbildungsleistung ist, umso mehr Geld gibt es für die betreffende Einrichtung aus diesem Topf. „Auch dadurch sind unsere Ausbildungszahlen in diesem Bereich um 30 Prozent gestiegen“, sagt Prüfer-Storcks. Sie plädiert zudem für eine Stärkung des Ehrenamts – ein weiterer Mosaikstein für die Pflege im Quartier: „Dem Nachbarn hilft man in der Regel doch eher als einem völlig Unbekannten.“

Sicher ist: Der Kampf um eine bessere Pflege ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Und dieser Marathon wird teuer, keine Frage. Die Beiträge zur Pflegeversicherung steigen 2017 um 20 Prozent, noch nie wurden Beiträge für eine Sozialversicherung binnen einer Legislaturperiode so stark angehoben. Und niemand kann realistisch prognostizieren, wie lange diese Erhöhung reichen wird.

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