Ein Jahr nach Angela Merkels „Wir schaffen das“: Raaft Albassous und seine aus Syrien geflüchtete Familie fühlen sich in Hamburg zu Hause. Sie hoffen auf eine Wohnung in wenigen Wochen. Ein Rückblick auf ein bewegendes Jahr

Die kleine Revan hat heute in der Grundschule an der Haubachstraße in Altona ihren Geburtstag gefeiert. Neun Jahre ist sie geworden. In ihrer dritten Klasse haben sie eine kleine Party für sie organisiert. Jetzt sitzt sie mit ihren Eltern in einer Bäckerei um die Ecke vor einem Berliner mit Zuckerguss und einer Ca­pri-Sonne und freut sich, dass ihre Eltern mit ihr am Wochenende endlich mal wieder zu Hagenbecks Tierpark fahren wollen.

Manchmal, wenn Raaft Albassous seine Tochter anschaut, dann kann er es kaum glauben, wie leicht ihr das alles fällt. Er selbst spricht noch immer kaum Deutsch, von einem geregelten Arbeitsalltag ist er weit entfernt. Seine Tochter hat ihn, was das Deutsch-Niveau angeht, längst überholt. Sie ist gut in der Schule und hat schon fünf gute Freunde, wie sie stolz erzählt. Zwei sind türkisch, zwei kommen aus Afghanistan und ein Mädchen kommt aus Russland. Wenn Papa Raaft sie so sieht, dann hofft er, dass sie irgendwann vielleicht vergessen kann, dass sie einmal sehr genau wusste, was das Wort Krieg bedeutet. „Das macht mich so unfassbar traurig, dass so ein kleines Mädchen das miterleben musste“, sagt der 49-Jährige.

Bis Ende Juni 2013 lebte Raaft mit seiner Frau Maryam und seiner Tochter Revan in einer kleinen Stadt rund 14 Kilometer von Damaskus. Er arbeitete als Ingenieur im Maschinenbau, seine Frau Maryam als Grundschullehrerin. Dann kam der Krieg, und sie waren plötzlich mittendrin. „Wir lebten in der Trennlinie zwischen Assads Truppen und der Befreiungsarmee. Da waren jeden Tag Bomben und Furcht und Tote“, sagt Raaft. „Jeden Tag, wenn ich zur Arbeit gefahren bin, hatte ich Angst, dass meine Familie nicht mehr da ist, wenn ich heimkomme.“ Und irgendwann wusste er auch nicht mehr, welche Truppe gerade einen Erfolg erzielt hatte oder nicht. Aber sie verstanden, dass der Krieg nicht wieder von alleine gehen würde – und entschlossen sich zur Flucht.

Wenn Raaft den Routenverlauf schildert, dann ist es erst mal nur eine Folge von Ländernamen: Libanon, Bulgarien, Türkei, Schweden, Deutschland. Aber hinter jeder einzelnen Station stehen Geschichten, über die Raaft heute nicht mehr gern erzählt. Nur kurz deutet er an, dass sie auf ihrem Weg bestohlen wurden, sich mehrere Tage und Nächte lang allein im Wald verstecken mussten, dass sie erwischt wurden, ins Gefängnis kamen und zwischendurch immer wieder vor dem Nichts standen.

Der kleine Raduan kommt in Hamburg auf die Welt

Vom Fluchtbeginn in Syrien zur Ankunft am Hamburger Hauptbahnhof vergehen zwei Jahre. Hier soll es jetzt endlich klappen. Und das ist gerade jetzt so wichtig: Raafts Frau Maryam ist schwanger, bald soll ihr erster Sohn auf die Welt kommen. Es ist der Sommer 2015. Die Monate also, die später einmal als der Sommer der Flüchtlinge in die Geschichte Deutschlands eingehen werden. Nach offiziellen Schätzungen sind zu dieser Zeit weltweit 15,1 Millionen Menschen auf der Flucht. Und viele von ihnen wollen nach Deutschland. Hier, so heißt es, gibt es diese Willkommenskultur. Ein Wort, das unter den Flüchtlingen schnell die Runde macht. Aber es ist auch dieser Satz, der es zu Bekanntheit geschafft und inzwischen sogar einen eigenen Eintrag im Online-Nachschlagewerk Wikipedia hat: Am 31. August 2015 sagt Angela Merkel auf einer Bundespressekonferenz in Hinblick auf die Flüchtlingskrise: „Wir schaffen das.“

Dieser Satz spiegelt in diesen Monaten das Selbstverständnis vieler Hamburger wider. Auch hier kommen jetzt jeden Tag Hunderte Flüchtlinge an. Schneller als die Politik reagieren kann, reagieren die Bewohner der Stadt. In Windeseile organisieren sie sich, Ehrenamtliche schieben Schichten am Hauptbahnhof, um die Ankommenden in Empfang zu nehmen, geben Deutsch- und Integrationskurse und spenden Geld, Gegenstände und Kleidung, die jetzt überall gebraucht werden. Allein an der Hilfsaktion des Hamburger Abendblatts am 20. Juli 2015 nehmen rund 10.000 Menschen teil. Die Stadt scheint vor Kraft zu strotzen.

„Wir waren von der Stimmung hier total begeistert. Nirgendwo in Europa waren die Menschen so nett zu uns wie hier“, sagt Raaft. Und nirgendwo standen die Chancen besser, nicht gleich wieder abgeschoben zu werden, heißt es in den Facebook-Gruppen unter den Flüchtlingen jetzt. Und Hamburg ist besonders beliebt. Sogar US-Präsident Barack Obama lobt bei einer Uno-Generaldebatte das Engagement für Flüchtlinge in der Hansestadt. „Wir spüren, dass es noch einige Menschen gibt, die andere Menschen lieben“, sagte er.

Raaft und seine Familie kommen zunächst in die Erstaufnahme an der Schnackenburgallee. Anschluss finden sie aber erst einmal kaum. Oft ziehen sie jetzt gemeinsam durch die Stadt, von der sie hoffen, dass es bald ihre neue Heimat wird. Und die Streifzüge helfen auch gegen die Langeweile in der Unterkunft. „Am liebsten gehen wir zum Hafen, in den Stadtpark oder durch Planten un Blomen. Ich mochte Hamburg sofort“, sagt er. Auch Merkels „Wir schaffen das“ trägt die Familie jetzt. „Ich habe der deutschen Kanzlerin mehrfach auf Facebook gedankt. Diese Aussage hat uns und vielen anderen Kraft gegeben.“

Wenige Tage bevor sie in die Folgeunterkunft wechseln, kommt ihr Sohn Raduan auf die Welt. Mit ihm zieht die kleine Familie dann an die Eiffestraße im Bezirk Mitte. Hier hat die Familie ein Zimmer für sich, vier mal fünf Meter groß, eine Gemeinschaftsküche und ein Gemeinschaftsbad. Und tagsüber oft Langeweile. Wie Tausende andere auch, müssen sie jetzt lernen, mit wenig klarzukommen. „In unserer Heimat habe ich oft von morgens früh bis abends spät gearbeitet. Ich war immer unterwegs, ein Machertyp“, sagt Raaft. „Gerade deswegen war dieses Nichtstun manchmal unerträglich.“ Aber er will nicht klagen oder sich beschweren. „Besser als hier hätten wir es nirgends gehabt. In der Unterkunft ist es sauber und gut organisiert. Mehr kann man nicht erwarten.“

Dann kam die Silvesternacht und damit die Serie von sexuellen Übergriffen in Köln und Hamburg. Davon erfahren auch Raaft und seine Frau. „Ich war traurig, als ich das gehört habe“, sagt er. „Das ist nicht unsere Kultur und nicht unsere Tradition.“ Er liest jetzt auch viel davon, dass die Stimmung im Land kippt, dass aus „Willkommenskultur“ Angst und Misstrauen wird. Er selbst spürt davon nichts. Auch nach Silvester habe er sich willkommen gefühlt. Aber er selbst hat sich verändert. „Vor der Silvesternacht hatte ich mehr Selbstbewusstsein und bin einfach auf die Menschen zugegangen. Inzwischen bin ich unsicher geworden. Das finde ich sehr schade.“

Inzwischen ist es der Familie gelungen, dem Leben hier mehr Struktur zu geben. Raaft engagiert sich seit Neuestem beim Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation (ikm) als Lotse für neu angekommene Flüchtlinge. „Da kann ich mein Wissen weitergeben, kann erklären, wo man einen Arzt findet, wo die wichtigen Anlaufstellen sind und wie man da hinkommt, und kann von meinen Erfahrungen berichten.“ Ein schöner Nebeneffekt: „Über die ehrenamtliche Arbeit habe ich mir ein Netzwerk aufbauen können und Bekanntschaften geschlossen.“

Ansonsten bringt er seine Tochter jeden Tag in die Schule, versucht sich selbst etwas Deutsch beizubringen und hat sich bei Sportspaß angemeldet. Er wirkt gesund und sportlich. Nur um die Augen sieht er etwas müde aus. Auch seine Frau kommt immer mehr an. Maryam hat über eine private Initiative einen Deutschkurs für Frauen gefunden, der eine separate Kinderbetreuung anbietet. Der ist zwar nur einmal pro Woche. „aber das ist alles besser als nichts“, sagt sie.

Deutsch sprechen Raaft und seine Frau nur wenig. „Weil wir noch nicht als Flüchtling anerkannt sind, haben wir noch keinen Anspruch auf einen Deutschkurs“, sagt er. Aber dank einiger Ehrenamtlicher, die Deutschkurse in der Unterbringung angeboten haben, kann er sich zumindest ein bisschen verständigen. „Das Einzige, das ich an Deutschland kritisieren kann, ist, dass der Deutschunterricht viel zu spät startet. So verliere ja nicht nur ich wertvolle Zeit, sondern auch die Stadt.“ Raaft und Maryam rechnen damit, dass sie in wenigen Wochen als Flüchtlinge anerkannt werden. Und dann haben sie viele Ziele: Deutsch lernen, eine eigene Wohnung suchen, wieder einen Job finden. Was die größte Sorge ist? „Dass wir hier nicht bleiben dürfen. Aber wenn das Thema endlich durch ist, dann habe ich keine Sorgen mehr. Wer erlebt hat, was wir erlebt haben, der ist einfach dankbar, wenn er wieder in Sicherheit leben kann.“

Der 49-Jährige blickt mit Zuversicht in die Zukunft. „Wir sind gut ausgebildet und haben den Willen, es zu schaffen. Hamburg ist uns so ans Herz gewachsen, dass wir gerne hierbleiben möchten.“ Während Papa Raaft erzählt, turnt Tochter Revan durch die Bäckerei, spielt und tobt und nimmt stolz Geburtstagsglückwünsche entgegen. Sie findet Deutsch „nur ein bisschen schwer“. Mathe, sagt sie, ist in der Schule ihr Lieblingsfach. Später möchte sie Ingenieurin werden, wie Papa. Manchmal darf sie jetzt auch ihren kleinen Bruder Raduan auf den Arm nehmen. Der hat fröhliche Augen, die die Welt ohne Scheu anstrahlen. „Ein echter Hamburger“, sagt Papa Raaft.