Vor 50 Jahren tobte unter Historikern eine beispiellose Kontroverse über die Frage, wer schuld am Ersten Weltkrieg sei. Im Mittelpunkt stand ein Hamburger Historiker, der seine eigene Biografie kräftig zurechtbog. Rebell oder Opportunist – wer war Fritz Fischer wirklich?

Wer sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt, hat irgendwann automatisch mit dem Namen Fritz Fischer (1908–1999) zu tun – jenem Historiker, der in seinem 1961 erschienenen Buch „Der Griff nach der Weltmacht“ der deutschen Reichsleitung 1914 „einen erheblichen Teil der Verantwortung für den Ausbruch des (...) Krieges“ zuwies. Mehr noch: Fischer gab letztlich den Anstoß zu einer noch heute andauernden Diskussion über eine gewisse Kontinuität deutschen Weltmachtstrebens in der gesamten Hälfte des 20. Jahrhunderts – einer durchgängigen Linie aggressiver Außenpolitik vom Kaiserreich bis zur NS-Zeit. Fischers Buch, ebenso verdienstvoll wie umstritten, machte den Hamburger Geschichtsprofessor weltberühmt. Er galt fortan als derjenige, der mit der These vom „Hineinschlittern“ in den Ersten Weltkrieg aufgeräumt hatte und durch sein akribisches Werk die Historikerzunft landauf und landab in ihre Schranken verwiesen hatte.

Doch Fischers Werdegang passt nicht zum Nimbus des kompromiss­losen, „linken“ Erneuerers. Der Hamburger Historiker Prof. Rainer Nicolaysen, der sich intensiv mit Fischer beschäftigt hat und dabei kürzlich auch viele unbekannte Quellen aus dessen Nachlass auswertete, zeichnet das Bild eines ungeheuer fleißigen, ehrgeizigen Wissenschaftlers, der seinen Weg zielstrebig und leidenschaftlich ging, der – wenn es um sein Vorankommen ging – aber auch zum opportunistischen Taktierer werden konnte. Dass Fritz Fischer im Dritten Reich um der Karriere willen in die SA und die NSDAP eintrat, ist schon länger bekannt und vor dem Hintergrund der „Gleichschaltung“ der Universitäten gerade für einen Nachwuchswissenschaftler auch kein ungewöhnlicher Schritt. Doch nur wenige wissen, wie weit zu gehen der Berliner Dozent bereit war, um endlich die begehrte Professur in Hamburg zu erlangen. Zweifel an seiner politischen Zuverlässigkeit? Die mussten ausgeräumt werden. Am weitesten ging Fischer dabei im Herbst 1941, als er in einem Brief an den stellvertretenden Leiter des „Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands“ unaufgefordert ankündigte, Vorträge „vor den Batterien“ halten zu wollen. Die Themen könnten sein: „Das Eindringen jüdischen Blutes in Kultur und Politik Deutschlands in den letzten 200 Jahren“ oder auch: „Die Rolle des Judentums in Wirtschaft und Staat der USA“. Ob Fischer diese Vorträge wirklich gehalten hat, ist unbekannt, letztlich ging es ihm offenbar vor allem darum, ein positives Parteigutachten für seine Bewerbung einzufädeln.

Damit nicht genug. 1943 skizzierte er in einem Schreiben an das Reichsinstitut seine Ziele für die Nachkriegszeit. Seine besondere Aufgabe werde darin bestehen, so Fischer, „die aus der preußisch-deutschen wachsende, neue europäische Welt gegen die westlich amerikanische abzugrenzen“.

Es gibt keine Beweise dafür, dass Fischer aus echter innerer Überzeugung handelte. Doch laut Nicolaysen sei seine Bereitschaft unverkennbar, „sich dem Nationalsozialismus nach und nach so weit in den Dienst zu stellen, wie es für den nächsten Karriereschritt notwendig war“. Mit diesem Schatten musste er nach 1945 leben.

Fritz Fischer konnte seine Karriere nach dem Ende des Dritten Reichs rasch fortsetzen. 1947 wurde er aufgrund seines guten Leumunds und zahlreicher Entlastungsschreiben problemlos entnazifiziert und als „entlastet“ eingestuft. Allerdings überließ er auch hierbei nichts dem Zufall. Hatte Fischer in seinem Bewerbungsschreiben für den Hamburger Lehrstuhl 1941 noch seine Nähe zu rechtsradikalen und völkischen Organisationen unterstrichen und unter anderem seine geschichtlichen Vorträge als historischer Referent in der SA herausgestellt, betonte er 1947 flugs seine „religiös-liberale“ Prägung. Er habe während der NS-Zeit enge Beziehungen zu christlichen Sozialisten unterhalten und im Übrigen bis 1933 SPD gewählt. Auffällig auch: Über den Zeitpunkt und die Umstände seines Beitritts in die NSDAP machte er noch in den späten 1980er-Jahren in Interviews falsche Angaben – möglicherweise unbewusst.

Fritz Fischer wandelte sich erneut – nun also zum kompromisslosen Auf­klärer, mit der Zeit dann sogar zum viel zitierten „Rebellen“ seiner Zunft. Der Ertrag seiner jahrelangen, intensiven Forschungen war schließlich ein mehr als 1000 Seiten starkes Manuskript mit höchst brisantem Inhalt.

Wie Rainer Nicolaysens Recherchen ergaben, war sich Fitz Fischer – anders als später von ihm behauptet – der Sprengkraft seiner Forschungsergebnisse völlig bewusst. Mag er auch von der Heftigkeit einiger Reaktionen überrascht gewesen sein – dass es kräftigen Gegenwind geben würde, hatte er lange einkalkuliert.

„Der Griff nach der Weltmacht“ sorgte schon vor seinem Erscheinen bei nationalkonservativen Historikern für helle Aufregung. Gegen Fritz Fischer, der die Hauptthesen seines Werks bereits bekannt gemacht hatte, wurde eine beispiellose Kampagne losgetreten. Kollegen brachen den Kontakt zu ihm ab, man brandmarkte ihn sogar als „Vaterlandsverräter“. Die „Fischer-Kontroverse“ begann, die während der gesamten 1960er-Jahre andauerte und auch danach immer wieder aufflammte. Das Erscheinen schien unter keinem guten Stern zu stehen und die Stimmung war mies. Angeblich auch die des Verfassers. Wie saures Bier habe er das Manuskript überall anbieten müssen, behauptete Fritz Fischer im Rückblick, kein Verlag habe zugreifen wollen.

In Wahrheit trifft das gefällige Bild vom ignorierten Außenseiter, der durch den riesigen Erfolg seines Werks dann völlig überrascht wurde, gar nicht zu. Im Gegenteil: Die Fachverlage rissen sich von Anfang an geradezu darum, die Arbeit zu publizieren, und Fischer lagen schon früh, so weist es Rainer Nicolaysen nach, drei Zusagen namhafter Verlagshäuser vor. Um auch hier wieder nichts dem Zufall zu überlassen, hatte Fischer schon 1960 persönlich damit begonnen, nach Rezensenten für das noch gar nicht vollendete Buch zu suchen und die wichtigsten Zeitungen schon vorab dafür zu interessieren. „Die Zeit“, „Die Welt“ und die „FAZ“ sicherten ihm bald größere Besprechungen zu, ein halbes Jahr später waren auch Zusagen des Hamburger Abendblatts, der „Neuen Zürcher Zeitung“ und der „Süddeutschen Zeitung“ hinzugekommen.

Der Erfolg ließ dann auch nicht lange auf sich warten: „Griff nach der Weltmacht“ erlebte vier Auflagen und zahlreiche Nachdrucke, unter anderem wurde es ins Französische, Italienische und sogar Japanische übersetzt.

Fritz Fischer war vom Erfolg seines Buches stets überzeugt gewesen – nicht zuletzt deshalb, weil er ihn strategisch geschickt vorbereitet hatte.

Als Fischers anhand des Nachlasses deutlich gewordene Verstrickung in den NS-Apparat seit 2003 öffentlich thematisiert wurde, war der Wissenschaftler längst zu einer Ikone geworden. Seine zahlreichen Schüler, sonst nicht eben zimperlich, wenn es um NS-Biografien geht, zeigten sich in seinem Fall erstaunlich verständnisvoll. Letztlich habe er mit dem Lostreten der nach ihm benannten Kontroverse – so eine häufige Argumentation – das Dritte Reich für sich gleich mit verarbeitet.

Fritz Fischer hat als erster etablierter Historiker in der Bundesrepublik die historische Verantwortung seines Landes für den Beginn des Ersten Weltkrieges thematisiert. Den Kampf gegen seine Zunft hat er dafür gezielt und bewusst aufgenommen. Ein Rebell wider Willen war er aber nicht.