Die Hamburgerin Nicole von Bredow lebt seit 20 Jahren in London – doch seit dem Brexit-Votum fühlt sie sich in ihrer Wahlheimat nicht mehr richtig willkommen

Am Montagmorgen vergangener Woche, also vier Tage nach dem Brexit, ging auch noch mein Boiler im Badezimmer kaputt. Jeder Brite ist mit diesem Pro­blem vertraut: Britische Boiler sind traditionell enorm reparaturanfällig, niemand weiß jedoch genau, warum, und bis vor ein paar Jahren bedeutete so ein kaputter Boiler eine echte Katastrophe, denn auch das britische Reparaturhandwerk genießt im Königreich den Ruf, mindestens ebenso unzuverlässig wie die Gasthermen zu arbeiten.

Doch dann kamen ja, dank der Osterweiterung der Europäischen Union, die Polen, und seitdem muss eigentlich niemand mehr wochenlang auf eine erfolgreiche (!) Reparatur warten. Mein Handwerker für alle Fälle heißt Hendryk, stammt aus Warschau, kam vor zehn Jahren ins Land und gehört der inzwischen größten Gruppe Europäer vom Kontinent (etwa 550.000 Personen) an, die es der Arbeit wegen auf die Insel gezogen hat. Diese geschickten Allround-Handwerker übernehmen viele Arbeiten, die Einheimische weder erledigen wollen, häufiger jedoch, jedenfalls im Sinne von Kundenzufriedenheit, nicht erledigen können. Das liegt auch daran, dass in Großbritannien jeder, der weiß, wie eine Rohrzange aussieht und sie bloß halten kann, sich offiziell als Klempner bezeichnen darf – eine Lehre, wie wir sie aus Deutschland (oder Polen) kennen, ist hier nämlich unbekannt.

Hendryk dagegen weiß genau, wie man mit einer Rohrzange hantieren muss sowie mit dem ganzen anderen Werkzeug. Er benötigte gerade mal eine halbe Stunde, um meinen Boiler wieder zum Laufen zu bringen. Aber an diesem Montag erschien er mir nicht so fröhlich wie sonst, und als ich ihn beim Begleichen der Rechnung nach dem Grund für seine Verstimmung fragte, antwortete er nur: „Ich bin mir gerade ziemlich unsicher, wie unsere Zukunft aussehen wird – ob sie uns nach dem Brexit jetzt vielleicht sogar rausschmeißen wollen?“

Dann zeigte er mir einen bedruckten kleinen Zettel, der am Morgen hinter dem Scheibenwischer seines Vans geklemmt hatte. Auf dem Zettel stand: „Leave Britain now!“ – „Hau ab aus Großbritannien!“ Hendryk sagte: „Ich fühle mich in den Hintern getreten.“ In diesem Moment durchzuckte mich ein Gedanke: Verdammt noch mal – als deutsche Staatsbürgerin bin ich ja auch eine Fremde, obwohl ich bereits seit fast 20 Jahren in London lebe.

London, die faszinierende Metropole der Kreativen

Als ich am 1. November 1996 meine erste Wohnung im Stadtteil North-Kensington bezog, hatte ich zunächst bloß ein einjähriges Sabbatical in London geplant. Es war die Stadt meiner Träume, in die ich mich während einiger Dienstreisen als Mode- und Gesellschaftsreporterin für Frauenmagazine regelrecht verliebt hatte. In diese „Alles-geht-Mentalität“ und in die ausgesprochene Höflichkeit der meist unaufgeregten Londoner, die so herrlich kultiviert warten können und in der Schlange stehen, statt zu drängeln; die es nicht nötig haben, sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen. Und dann war da auch diese unglaubliche Toleranz, die, in einen Rahmen von Traditionen gebettet, beispielhaft ist: Du trägst schräge Klamotten? – Niemand zuckt mit der Wimper. Du äußerst eigentümliche Ansichten? – Unterschiedliche Standpunkte werden respektiert. Du gibst dich gar exzentrisch? – Nur zu, Londoner finden das aufregend.

Selbstverständlich war ich auch vom internationalen Flair angefixt, das 365 Tage im Jahr über dieser Neun-Millionen-Einwohnerstadt schwebt; von dem sich vor allem die jungen, wilden Kreativen aus der ganzen Welt magisch angezogen fühlten, ganz gleich, ob sie Mode designen, Musik machen, malen, schreiben oder im Londoner Westend, dem Theaterviertel, arbeiten. Und die hervorragende internationale Küche, vom Inder in der Brick Lane bis zum überraschend preiswerten Sushi-Laden in der Innenstadt, muss ich wahrscheinlich nicht mal erwähnen. Dafür die unübersehbaren Minuspunkte wie die extrem teuren Mieten, ganz gleich, ob man in einem guten oder einem schlechten Viertel wohnt; die vornehm-gestelzte Zurückhaltung der Briten, wenn man Freundschaften, so wie ich es aus Deutschland gewohnt war, schließen möchte; die teilweise unverschämt hohen Lebenshaltungskosten und – wie erwähnt – das Handwerk …

Aber ich blieb. Ich blieb London treu. Meinem London. Nach neun Monaten verlängerte ich bereits meinen Mietvertrag (erst zwei Jahre später zog ich in die Wohnung, in der ich bis heute lebe), denn die Auftragslage als Freelancerin ermöglichte mir ein zwar arbeitsintensives, aber auch mehr oder minder zufriedenes Leben.

Natürlich gab es Krisen – vor allem finanzieller Natur – , in denen ich mich gefragt habe, ob ich meine Zelte in London vernünftigerweise nicht doch lieber abbrechen sollte: Als etwa 2001 das britische Pfund auf einen Lifestyle-Killerkurs stieg und der Wert von 100 Euro gerade mal 60 Pfund entsprach und somit fast meine ganzen Honorare, die ich ja aus Deutschland bezog, allein für monatliche Fixkosten draufgingen. Aber ich war einfach happy hier. Ich habe die Zähne zusammengebissen und auf manches angenehme Lebensaccessoire verzichtet. Nicht wenige meiner Freunde und Kollegen sind damals zurück nach Deutschland gegangen und haben, auch dank ihrer Londoner Auslandserfahrung, die sich in einem Lebenslauf gut liest, Karriere gemacht. Dann pendelte sich der Wechselkurs endlich auf rund 75 Pfund für 100 Euro ein, es ging finanziell aufwärts – und aufgrund des Brexits habe ich jetzt sogar eine unfreiwillige „Gehaltserhöhung“ von immerhin zehn Prozent bekommen. Meine Miete ist zurzeit also weniger belastend, das Leben überhaupt ist wieder bezahlbarer – aber das Ausgehen ist seit dem Referendum für uns Ausländer innerhalb von wenigen Tagen tatsächlich zu einer echten emotionalen Herausforderung geworden. Auch für uns Deutsche. Leider.

Das musste ich noch am selben Vormittag erfahren, als ich an diesem Montag – nach erfolgter Boiler-Reparatur – erst mit der U-Bahn, dann mit dem Bus zu einem Termin fuhr. Im Bus kam ich zufällig mit einer Frau mittleren Alters ins Gespräch. Wir plauderten, so wie es sich gehört, kurz über das Wetter, als sie auf die Titelseite des „Guardian“ blickte, den ich auf dem Schoß liegen hatte, sich vorbeugte und in einer Art konspirativem Flüsterton sagte: „Ich bin so froh, dass wir jetzt aus der EU rausgehen. Diese Angela Merkel ist die Pest. Die will die Weltmacht! Die ist gefährlich.“ Als ich lächelnd erwiderte, dass ich mir dies keinesfalls vorstellen könne und ich überdies Deutsche sei, die schon seit beinahe zwei Jahrzehnten in London lebt, wurde mir dies mit energischem Kopfschütteln, augenblicklich eisigem Schweigen und Abscheu im Blick gedankt. Die Frau wechselte den Sitzplatz und ließ mich zugegebenermaßen ratlos zurück.

Diese Begebenheit erzählte ich wenig später auf dem Termin einer deutschen Kollegin; ich nenne sie mal Susanne. Ihr Kommentar: „Ach weißt du, Nicole, ich habe mich heute Morgen spontan entschlossen, in der Öffentlichkeit lieber nicht mehr Deutsch zu sprechen. Als ich nämlich eben kurz im Supermarkt war, habe ich genau gehört, wie die Kassiererin zu einem englischen Kunden, der hinter mir an der Kasse war, mit einem Blick auf mich halblaut sagte, ‚Fuck off, you bloody foreigner!‘“– „Verpiss dich, du Ausländerschlampe!“

Damit Sie mich an dieser Stelle bitte nicht falsch verstehen: Ich akzeptiere und respektiere das Wahlergebnis meiner britischen Gastgeber, obwohl ich es weder nachvollziehen kann noch dass es mich wirklich überrascht hätte, dass 51,9 Prozent für „Leave“ – „Verlassen“ – gestimmt haben. Der schmutzige, von Halb- und Unwahrheiten geprägte Wahlkampf der Brexit-Befürworter, allen voran Nigel Farrange, Chef der rechtskonservativen Unabhängigkeitspartei (Ukip), hatte schließlich gezündet: Vor allem die bereits in der Maggie-Thatcher-Ära entwurzelte und identitätskrisengeschüttelte Unterschicht hatte sich von den Milchmädchenrechnungen der Populisten überzeugen lassen. Schlagwörter wie „Flüchtlingskrise“, „Terrorgefahr“, „Überfremdung“, „Wohnungsnot“ und „unkontrollierte Einwanderung über offene Grenzen“ loderten im Feuer wie das sprichwörtliche Öl; denn die meisten Briten sind der Auffassung, dass die EU-Kommission im Grunde nur für die Regulierung und Vereinheitlichung des Stromverbrauchs von Glühbirnen und Staubsaugern oder dem Krümmungsgrad von Bananen zuständig sei – für unsinnigen Verwaltungskram, für den Großbritannien jährlich Milliarden zahlen müsse. Nicht zuletzt hatte auch die deutliche Kritik von Premierminister David Cameron an der Grenzöffnungspolitik Angela Merkels mit dazu beigetragen, dass man im klassischen Einwandererland Großbritannien nun Panik vor Immigranten und Asylanten heraufbeschwor – vor allem, was fremd ist, eben. Wohin steuert mein geliebtes, ehemals so weltoffenes England?

Einer Deutschen schmierten sie Hundekot an Tür und Fenster

Dabei wurde schon immer gestichelt. Frivole Partys in SS-Uniformen – natürlich nur „ironisch“ gemeint – gehören selbst in den höchsten Kreisen zur beliebten Freizeitgestaltung; die zahlreichen Anspielungen auf die „Good-Old-Germany-Nazi-Vergangenheit“ sorgen immer wieder für gesteigerte Auflagen in der britischen Boulevardpresse, ganz gleich ob die „Sun“ oder der „Daily Mirror“ über Handtuchkriege zwischen Briten und Deutschen auf Mallorca berichten oder sich über „deutsche Effizienz“ mokieren. Auch dass der Mini endlich pannenfrei fährt, seit er von BMW gebaut wird, hat auf der Insel noch keinen Jubelsturm entfacht – außer bei den Briten, die diesen britischen Exportschlager in Oxford zusammenbauen dürfen. Binnen einer Woche ist aus der neuen Akzeptanz für die Deutschen spürbare Ablehnung geworden: Vor wenigen Tagen, am 28. Juni, rief beispielsweise eine deutsche Rentnerin aus Chester, die sich als „Karin“ vorstellte, bei einer Londoner Radiostation an. Sie erzählte, dass sie die Witwe eines britischen Arztes sei, seit 43 Jahren in England lebe – und dass nun ihre Haustür und Fenster mit Hundekot beschmiert worden seien. Sie weinte, als sie sagte: „Ich habe solche Angst! Ich bin seit drei Tagen nicht vor die Tür gegangen. Denn meine Nachbarn haben mir unmissverständlich klargemacht, dass ich verschwinden soll, zurück nach Deutschland. Aber dort habe ich doch gar keine Familie mehr.“

Ich hoffe sehr, dass es sich hierbei nur um einen eklatanten Einzelfall handelt. Aber sicher kann ich mir wohl nicht sein: Tatsächlich zeigen die Briten jetzt ihre fremdenfeindliche Seite, ein Charakterzug, den ich offenbar bisher nicht wahrnehmen wollte. Aber die BBC-Nachrichten sowie die seriöse Presse sind voll von Berichten und Reportagen über Proteste, Pöbeleien, auch gewalttätige Übergriffe gegen Ausländer: Graffiti an Häuserwänden („Hier wohnen ausländische Sozialschmarotzer“), anonyme Zettel, die Polen wie mein Klempner Hendryk neuerdings in ihren Briefkästen finden; die Ohrfeigen, die der Pakistaner Sadig Kamal aus York von zwei Engländern auf der Straße ohne erkennbaren Grund kassierte. Viele Politiker, besonders der noch amtierende Premierminister Cameron, kommen aus den offiziellen Entschuldigungen gar nicht mehr raus. Denn Fakt ist: Die Zahl solcher Übergriffe und Straftaten haben sich laut einer Meldung der britischen Polizei nach dem Brexit verfünffacht!

Ich selbst fühle mich nicht direkt in der Schusslinie, jedenfalls noch nicht. Ich bin eine von 297.000 Deutschen, die in England leben; eine von etwa 50.000 in London. Ich zahle meine hohe Miete, führe Einkommenssteuer ab, arbeite (ohne Anspruch auf Rente übrigens). Aber die aufgeheizte Stimmung führt dazu, dass ich mich zunehmend unwohl fühle. Ja, beinahe unerwünscht, so, als ob man mich aus meinem liebevoll gezupften Nest schubsen möchte, obwohl ich mir doch vorgenommen hatte, hier in England, in London, alt zu werden.

Ob ich mich mit dem Siegel der „unerwünschten Person“ arrangieren muss oder kann, wird sich zeigen. Es hängt auch davon ab, ob die Attacken zu- oder abnehmen. Bis dahin kann ich nur sagen: „Keep calm and love the rain.“