Ihr Sohn Jonte starb 2010 wegen eines mutmaßlichen Arztfehlers. Seither warten Angela und Iven Twellmeyer auf den Prozess, um endlich abschließen zu können

Jeden Morgen geht Angela Twellmeyer zum Briefkasten. Sie öffnet ihn hoffnungsvoll und schließt ihn mutlos. Warum sie noch immer hofft, dass ein Schreiben vom Gericht drinliegt, weiß sie selbst nicht so recht. Vielleicht weil Angela Twellmeyer gar nichts anderes bleibt als die Hoffnung.

Seit sechseinhalb Jahren warten sie und ihr Ehemann auf den Prozess gegen den Arzt, der den Tod ihres Sohnes Jonte verschuldet haben soll. Viel Lebenszeit, viel Nerven, viel Geld hat das Verfahren die Twellmeyers bislang gekostet. Verloren haben sie aber noch mehr: ihr Vertrauen in das Rechtssystem.

Bedauert haben mehrere Stellen, was sich am und nach dem 2. Januar 2010 abgespielt hat. Die Asklepios Klinik Altona, wo der wegen fahrlässiger Tötung angeklagte Arzt tätig war, verlieh ihrem Bedauern über den „schrecklichen Verlust der Familie“ in drei dürren Sätzen Ausdruck; die Kriminalpolizei bedauerte, dass sich die Ermittlungen so lange hinzogen, und die Justizbehörde bedauerte, dass der Fall so lange bei der Staatsanwaltschaft lag. „Die Länge des gesamten Strafverfahrens bedeutet für die Hinterbliebenen eine zusätzliche Belastung, die wir sehr bedauern“, sagt auch Gerichtssprecher Kai Wantzen.

Verständnis und Mitgefühl allenthalben. Doch es ist nicht das, was die hinterbliebenen Eltern des im Alter von 23 Jahren verstorbenen jungen Mannes wollen. Sie wollen Fakten. Und sie wollen Gerechtigkeit.

Angela und Iven Twellmeyer sitzen am Esstisch ihres Einfamilienhauses in Tostedt. Beide waren jahrzehntelang im medizinischen Bereich tätig: Iven Twellmeyer als Unfallchirurg, seine Frau als Krankenschwester. Vor ihnen liegen zwei prall gefüllte Aktenordner. Dutzende gerahmte Fotos der Familie stehen auf einem weiteren Tisch: Fotos der beiden Töchter und Fotos von Jonte – ein junger Mann mit schmalem Gesicht und wachen Augen.

Das Paar hat lange gezögert, mit dem Thema an die Öffentlichkeit zu gehen. Doch nach 78 Monaten ist es das Zuwarten, das Leisesein leid. „Wir bekommen unseren Sohn nicht zurück“, sagt Angela Twellmeyer, „aber die Tatsache, dass eine solche Fahrlässigkeit unter den Tisch fallen soll, ist für uns nicht akzeptabel“, sagt sie. „Es geht uns einzig darum, dass wir einen Schlussstrich ziehen können.“ Zumindest einen juristischen Schlussstrich. „Stellen Sie sich vor, Sie verlieren Ihr Kind, und ich meine: Sie verlieren es für immer“, sagt Angela Twellmeyer. „Und dann potenzieren Sie diese Vorstellung mit 1000. So fühlt es sich an für uns. Jeden Tag.“

Gegen 5.40 Uhr erleidet Jonte den ersten Erstickungsanfall

Es ist traurig mitanzusehen, wie es die Eheleute innerlich zerreißt. Sie will nicht weinen, sagt Frau Twellmeyer. Dann weint sie doch. Mal ist die Trauer etwas ferner, jetzt ist sie wieder ganz nah, jetzt, da sie an Jonte denkt, ihren Jüngsten. Ihr Mann Iven war mit ihm häufig allein auf Reisen. Im Gespräch jetzt flüchtet er sich in medizinisches Fachvokabular, leitet seine Emotionen in eine Philippika über die Missstände im Gesundheitssystem um. Dabei ist diesem starken Mann selber zum Heulen zumute, das sieht man gleich.

Es ist der Neujahrstag 2010. Jonte, 23, hat auf dem Kiez gefeiert und sich beim Tanzen böse auf die Zunge gebissen. Die Zunge schwillt an, er kriegt irgendwann kaum noch Luft. Zu Hause wirft Iven Twellmeyer einen kurzen Blick auf ihn und weiß: Der Junge gehört ins Krankenhaus, sofort. Seine Ehefrau setzt sich am Abend mit ihrem röchelnden Sohn ins Auto, Glatteis auf der Straße, und rast los. Am näher gelegenen Asklepios Klinikum Harburg fährt sie vorbei, sie entscheidet sich für das AK Altona, weil sie glaubt, dass ihr Sohn dort die bestmögliche Behandlung erfährt. Sie ist kurz vor Mitternacht da, Jonte kommt gleich auf die Intensivstation, eine Computertomografie wird gemacht. „Fahren Sie ruhig nach Hause“, hört sie, es ist zwei Uhr morgens. „Wir kümmern uns, ihr Sohn ist bei uns sicher.“ Den Satz hat sie bis heute nicht vergessen.

Gegen 5.40 Uhr erleidet Jonte einen ersten Erstickungsanfall, die Atemwege sind extrem verengt. Zuständig für ihn als diensthabender HNO-Arzt ist K., damals 32 Jahre alt und seit anderthalb Jahren in der Ausbildung zum Facharzt. Der junge Mann saugt einen Schleimpfropf ab, dann verlässt er die Station wieder. Eine Stunde später kommt es zur Epikrise: Jonte kriegt erneut keine Luft. In dem ärztlichen Protokoll heißt es: „Patient plötzlich (6.50 Uhr) sehr unruhig, spuckt Blut, Zunge dick geschwollen und bläulich. Cyanose, HNO Arzt cito informiert sowie Oberarzt“. Dann setzt K. den verhängnisvollen Luftröhrenschnitt.

Am Morgen klingelt das Telefon, es ist der Assistenzarzt. „Ich habe schlechte Nachrichten: Ihr Sohn ist tot“, sagt er. Es habe Komplikationen gegeben.Wenig später treffen die verzweifelten Eltern im Krankenhaus ein. Der Vater sieht seinen toten Sohn, er sieht ihn auch mit der Brille des Fachmanns. Jontes Wangen und der Bauch sind unnatürlich aufgeplustert. „Wie ein Ballon, so sah mein Sohn aus“ , sagt er heute. So deformiert sieht nur jemand aus, bei dem der Luftröhrenschnitt falsch gesetzt wurde und die zugeführte Luft den falschen Weg genommen hat, weiß Twellmeyer. Was zur Hölle hat hier wer gemacht? fragt er sich. Wer hat das meinem Sohn angetan? Er besteht auf einer Obduktion.

Jontes Leichnam wird vom Leiter der Hamburger Rechtsmedizin, Professor Klaus Püschel, untersucht. Wenige Tage später ist sein Gutachten fertig, in dem es sinngemäß heißt: Der Tod sei aktiv durch einen Fehleingriff hervorgerufen worden; es sei völlig unverständlich, dass der Assistenzarzt nicht den zuständigen Facharzt gerufen, sondern den Luftröhrenschnitt selbst durchgeführt habe. Ein Gutachter aus München, ebenfalls HNO-Arzt, kommt zu einem ähnlichen Schluss. „Unstrittig ist, dass durch eine richtige Intubation oder einen Luftröhrenschnitt das Leben des Patienten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte gerettet werden können“, resümiert er. Der Atemtubus sei zwischen Speise- und Luftröhre eingesetzt worden, die Lunge kollabiert.

„Die haben überhaupt nicht begriffen, was sie da gemacht haben“, sagt der Vater. Aus seiner Sicht hätte es eines erfahrenen Arztes bedurft, um den Schnitt richtig zu setzen – und zwar bevor es zum Äußersten kam. Das Äußerste, damit meint Iven Twellmeyer das Ersticken. Eine qualvollere Art des Sterbens ist schwer vorstellbar. Jonte strampelte in Todesangst mit den Armen und den Beinen, sein ganzer Körper bebte und bäumte sich auf. Als Iven Twellmeyer davon erzählt, glänzen Schweißperlen auf seiner Stirn, aufhören will er jetzt aber nicht. „Unter den bei dieser Ausgangslage erwartbaren Bedingungen einen potenziell lebensbedrohlichen Schnitt zu setzen, das war unverantwortlich“, sagt der 68-Jährige. „Es ist aus meiner Sicht völlig unstrittig, dass hier massive Fehler gemacht worden sind“, sagt er. „Herr K. hätte gleich bei Jontes Einlieferung, aber spätestens nach dem ersten Erstickungsanfall seine vorgesetzten, erfahrenen Kollegen verständigen müssen.“

Verzweifelt wendet sich die Familie an die Bürgerschaft

Der Verlust von Jonte reißt ein tiefes Loch in die Familie. Die Trauer lähmt sie über Wochen und Monate. Heute mag sie etwas verblasst sein, vergangen ist sie nicht. Jahr für Jahr am 25. November ist das Haus der Twellmeyers in Tostedt ein offenes Haus. Dann kommen 15 gute Freunde von Jonte, um mit den Eltern seinen Geburtstag zu feiern. „Wir lachen und weinen“, sagt Angela Twellmeyer. „Wobei es ein zunehmend fröhliches Gedenken ist.“ Seine letzte Ruhe hat ihr Sohn im Familiengrab der Twellmeyers in Ohlsdorf gefunden.

Für die Eltern ist es kaum zu ertragen, dass sie über Jonte in der Vergangenheitsform sprechen müssen. Die Mutter erinnert sich an ihn als „lebensfrohen, kreativen, herzlichen jungen Mann“. Bis zu seinem Tod lebte er zu Hause, von dort hatte er es nicht weit bis nach Buchholz, wo er eine Ausbildung zum Werbetechniker begonnen hatte. In seinem Zimmer sieht es noch so aus wie zu seinen Lebzeiten. Seine drei Gitarren und ein Bass stehen dort, an den Wänden hängt ein Poster der Punk-Band Vorkriegsjugend. Jonte selbst hatte viel übrig für Musik, spielte Schlagzeug in einer Band.

Kurz nach seinem Tod leitet die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen den jungen Assistenzarzt ein. Die Ermittlungen erstrecken sich zunächst auch auf den verantwortlichen Anästhesisten, werden aber ein Jahr später eingestellt. Mitte 2010 liegt das erste ausführliche unabhängige Gutachten in der Sache vor, im August 2011 ein zweites. Doch die Ermittlungen ziehen sich hin; Zeugen werden einvernommen, Ärzte, Krankenpfleger, die Dezernenten der Staatsanwaltschaft wechseln. 2011 passiert kaum etwas; ein Jahr darauf wird es den Twellmeyers zu bunt: Sie wenden sich an die Hamburger Justizbehörde, drängen darauf, dass der Fall endlich vor Gericht verhandelt wird. Der damalige Amtsleiter antwortet im Oktober 2012: Die Verärgerung der Familie sei „nachvollziehbar“, aber noch seien wichtige, für die Aufklärung des Falls essenzielle Zeugen nicht vernommen worden. Für die Twellmeyers ein schwacher Trost. Sie lassen nicht locker, setzen auch die Hamburger Bürgerschaft in Kenntnis. Am 7. März 2013 dann der nächste, für die Eltern enttäuschende Zwischenstand aus der Justizbehörde: „Leider kann ich ihnen keinen wesentlichen Fortschritt der Ermittlungen mitteilen.“

Unterdessen macht der Assistenzarzt Karriere. Bevor er das AK Altona in Richtung Berlin verlässt, stellen ihm seine Vorgesetzten ein exzellentes Zeugnis aus. Auch über ihm schwebt das Verfahren seit mehr als sechs Jahren wie ein Damoklesschwert. „Ein Wort der Entschuldigung haben wir bis heute nicht von ihm gehört“, sagen Jontes Eltern.

Es ist nicht selten, dass strafrechtliche Ermittlungen gegen Ärzte Zeit brauchen. Das liegt vor allem an den aufwendigen Gutachten, die die Staatsanwaltschaft bei unabhängigen Sachverständigen in Auftrag gibt. „In der Regel reicht der juristische Sachverstand allein nicht aus, um solche Fälle zu lösen, deshalb ist die Staatsanwaltschaft auf medizinische Gutachten angewiesen, deren Erstellung wir nicht beschleunigen können“, sagt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Nana Frombach.

Ein Silberstreif am Horizont erscheint für die Twellmeyers im Dezember 2013: Endlich steht die Anklage wegen fahrlässiger Tötung. Die Staatsanwaltschaft klagt K. an, es nach der ersten Komplikation gegen 6 Uhr am 2. Januar 2010 „entgegen den Regeln der ärztlichen Kunst“ versäumt zu haben, die Atemwege durch Intubation oder einen Luftröhrenschnitt zu sichern. Stattdessen habe er die Station verlassen – ohne den diensthabenden Oberarzt über die Situation zu informieren.

Gegen die Eröffnung des Verfahrens hat sein Verteidiger, der Hamburger Top-Anwalt Gerhard Strate, umfangreiche Einwendungen vorgebracht. So habe sich die Atmungsfunktion von Jonte Twellmeyer nach Abhusten des Schleimpfropfes stabilisiert, sodass sich K. völlig zu Recht wieder von der Intensivstation entfernt habe. Zudem habe sich sein Mandant an die in der Krankenhausverteilung angelegte Zuständigkeitsorganisation gehalten, indem er den Oberarzt erst kontaktiert habe, als der Notfall akut geworden sei.

Auch der missglückte Luftröhrenschnitt sei nicht ihm anzulasten: Die eingetretene „Dislokation der Trachealkanüle“ werde in der Fachliteratur als eine „typische, stets lebensbedrohliche Komplikation des Eingriffs“ beschrieben. Auf Abendblatt-Anfrage sagt Strate: „Ich habe schriftsätzlich ausführlich dargelegt, dass mein Mandant keine Schuld an dem tragischen Geschehen trägt.“

Einen Termin für den Prozess gibt es bis heute nicht

Es ist Anfang 2014. Die Twellmeyers ahnen nicht, dass sie noch nicht einmal die Hälfte des Weges gegangen sind – bis dahin sind aber bereits Anwaltskosten in Höhe von rund 15.000 Euro aufgelaufen. Im April telefonieren sie mit dem Gericht in Altona und erfahren: Eine Terminierung der Hauptverhandlung sei für August/September vorgesehen. Im Oktober werden sie als Nebenkläger zugelassen. Danach passiert: nichts mehr. Seither wartet und hofft Angela Twellmeyer darauf, dass endlich dieser verdammte Brief vom Gericht in ihrem Briefkasten liegt.

Schon jetzt steht fest: Der damalige Vorgesetzte des Angeklagten, der Chef der HNO-Abteilung Professor Thomas G., wird sich nicht vor Gericht verantworten müssen. Gegen ihn ermittelte die Staatsanwaltschaft von Dezember 2013 an wegen „fahrlässiger Tötung durch Unterlassen“. Er habe, so der Verdacht, den Bereitschaftsdienst einem unerfahrenen Kollegen übertragen und keinen HNO-Facharzt vorgehalten. Mitte 2015 stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein: Professor G. sei nicht „hinreichend tatverdächtig“, mithin treffe ihn kein „organisatorisches Mitverschulden“. Die Twellmeyers ließen abermals nicht locker, erhoben Beschwerde gegen die Einstellung und schließlich Klage. Vergebens: Ihren Klageerzwingungsantrag hat das Oberlandesgericht letztinstanzlich vor wenigen Tagen verworfen.

Was wollen die Twellmeyers? Dass sich K. vor Gericht verantwortet, dass er ihnen erklärt, wie es zu der Tragödie kam, warum er nicht seine erfahrenen Kollegen informierte. Ihnen sei klar, dass der 39-Jährige am Ende freigesprochen werden könnte. An einer Aufklärung des Falls ist auch den Asklepios-Kliniken gelegen. „Eine abschließende, gründliche juristische Bewertung der Vorgänge von damals liegt auch in unserem Interesse“, sagt Asklepios-Sprecher Rune Hoffmann auf Abendblatt-Anfrage.

Ein Termin für den Prozess steht weiterhin aus. Es ist gut möglich, dass der Fall ins siebte Jahr geht. Allein die überlange Verfahrensdauer wäre wohl ein Grund für eine deutliche Strafmilderung – sofern der Arzt überhaupt verurteilt wird. Ihm droht Haft bis zu fünf Jahren oder eine Geldstrafe

Als Gründe für die Verzögerung nennt Gerichtssprecher Wantzen die Komplexität des mit vielen medizinischen Sachfragen einhergehenden Verfahrens. Im Fall von Jonte habe das Gericht mehrfach die Bearbeitung zurückstellen müssen, weil es mit besonders eilbedürftigen und grundsätzlich vorrangigen Haftsachen befasst worden sei. Wantzen: „Der für den Fall zuständige Richter setzt alles daran, dass das Verfahren jetzt möglichst bald abgeschlossen werden kann.“ Das würden die Twellmeyers auch gerne glauben.

Sie können es bloß nicht.