Angekommen in Hamburg: In einer Interviewreihe sprechen Hamburger mit Migrationshintergrund über Grenzgänge zwischen den Kulturen. Heute: Schanzenbäcker Gürol Gür

    Herr Gür, was ist für Sie typisch deutsch?

    Gürol Gür: Diszipliniert sein, gut organisierter Erfolg ...

    Wir dachten, Sie sagen an dieser Stelle Brot essen­ ...

    Gür: Das tun die Türken auch ...

    Dann gelten immer noch die Klischees vom arbeitsamen, strebsamen Deutschen?

    Gür: Natürlich. Und das ist auch gut so. Ich habe meinen Kindern immer gesagt, wenn ihr etwas erreichen wollt im Leben, dann müsst ihr fleißig sein.

    Klingt tatsächlich ziemlich deutsch. Wo bleibt der Türke in Ihnen?

    Gür: Zu Hause.

    Was heißt das?

    Gür: Bei den Türken ist die Frau zu Hause der Chef, und draußen tut der Mann so, als ob er es alleine ist ...

    In mancher deutschen Familie ist das ähnlich ...

    Gür: Im Ernst: Uns ist das Familienleben sehr wichtig. Wir essen mindestens einmal am Tag warm zusammen, meistens abends, weil dann alle Zeit haben. Drei unserer Kinder wohnen nicht mehr zu Hause, aber zwei- bis dreimal in der Woche kommen sie vorbei, oft zum Frühstück. Und an unseren Feiertagen, also Ramadan oder dem Schlachtfest, treffen sich möglichst viele Familienmitglieder. Das ist so wie Weihnachten in Deutschland, was wir natürlich auch feiern, nur dass bei uns zwischen 30 und 40 Leute zusammenkommen. Dieses Beisammensein genießen wir sehr.

    Die typische deutsche Familie ist eher eine Kleinfamilie. Gab es bei so viel sozialem Treiben nie Probleme mit den Nachbarn?

    Gür: Wir wohnen in der Schanze, wo Multikulti immer schon selbstverständlich war und immer noch ist. Wir fühlen uns dort wohl, angenommen und angekommen.

    Sie haben nie Rassismus erfahren? Haben nie gehadert, in einem fremden Land zu leben, in dem nicht jeder die Fremden willkommen heißt?

    Gür: Ich war nie verzweifelt, wenn Sie das meinen. Mit so einem Gefühl kann man sich nicht integrieren. Aber ich hatte Angst. Damals, als die Brandanschläge in Solingen und Mölln passierten. 1992 war das, glaube ich. Da habe ich mich gefragt, was mache ich, wenn der Aus­länderhass größer wird? Wenn noch mehr Menschen verbrennen?

    Sie sind geblieben. Warum?

    Gür: Es kamen Kunden zu mir, die das angesprochen haben. Die sagten „bleiben Sie hier. Wir brauchen Menschen wie Sie.“ Das war ja damals hier wie auf dem Dorf. Man kannte sich, man grüßte sich. Diese Anteilnahme hat mir meine Ängste genommen.

    Was fühlen Sie, wenn Sie heute Bilder von Flüchtlingen und ihrem Elend sehen?

    Gür: Ich habe natürlich Mitleid. Klar. Aber viele von diesen Menschen kommen mit völlig falschen Vorstellungen hierher. Wir hatten Kontakt zu einer syrischen Familie, um die sich mein Bruder in Stellingen gekümmert hat. Bei einem Essen haben wir sie getroffen, und ich habe mir ihre Geschichte angehört. Sie haben alles hinter sich gelassen, sind unter Lebensgefahr nach Europa, nach Deutschland geflüchtet. Und dann mussten sie feststellen, sie kamen aus Zelten und landeten in Zelten. Das hat sie frustriert.

    Viele machen Kanzlerin Merkel für dieses falsche Bild verantwortlich, weil sie zu Beginn der Flüchtlingskrise gesagt hat „kommt her, wir empfangen euch mit offenen Armen.“

    Gür: Diese Frau macht vieles richtig. Und was man als Ausländer in Deutschland erreichen kann, sieht man ja an mir und meiner Familie. Ich habe mich weiterentwickelt, seit ich nach Deutschland gekommen bin.

    Sie waren aber kein Flüchtling ...?

    Gür: Nein, wir waren damals keine Flüchtlinge. Wir hatten sogar ein gutes Leben in der Türkei. Unser Vater schickte regelmäßig Geld, das er in Deutschland verdient hatte. Ich hatte fünf Geschwister, unsere Mutter war der Chef, hat uns großgezogen. Uns hat es an nichts gefehlt. Nur unser Vater fehlte. Er kam einmal im Jahr für sechs Wochen. Wenn er wieder wegfuhr, haben wir alle geweint.

    Wenn alles gut war in Ihrem Heimatland, warum sind Sie dann nach Deutschland gegangen?

    Gür: Wenn eine Familie getrennt ist, dann ist das nicht gut. Für keinen. Ich könnte das nicht machen, so wie mein Vater. In ein fremdes Land gehen und die Familie zurücklassen. Das ist doch kein Leben. Aber, um Ihre Frage zu beantworten, wir waren eine angesehene Familie, die aus Tradition eher politisch links orientiert war. Ich hatte Abitur, wollte studieren und Lehrer werden. Um 0,5 Punkte habe ich den Schnitt nicht geschafft. Mein Vater sagte damals, dann „komm doch hierher, nach Deutschland. Hier hast du alle Möglichkeiten, etwas aus deinem Leben zu machen.“

    Und, was war Ihre erste Wahrnehmung?

    Gür: Es war ein großer Schock, als ich am 14.2.1982 nach Hamburg kam. Ich stamme aus einem kleinen Ort in der Türkei mit damals 20.000 Einwohnern. Ich verstand plötzlich niemanden mehr. Und niemand verstand mich. Das ist wie bei einem Fisch im Wasser. Holst du ihn an Land, stirbt er. Kannst du die Sprache nicht, hast du keine Chance.

    Wie ging es weiter?

    Gür: Ich wollte unbedingt heimisch werden. Also habe ich einen Zehn-Wochen-Crashkurs in Deutsch gemacht, danach ein Jahr lang Maßnahmen zur Berufsvorbereitung und sozialen Eingliederung junger Ausbilder mitgemacht. Anschließend habe ich eine Lehre als Bauschlosser gemacht. Sogar ein Studium habe ich angefangen. Nebenbei arbeitete ich bei einem Bäcker. Das hat mit so gut gefallen, und ich habe vom dortigen Back­stubenleiter so viel gelernt, dass der nächste Schritt für mich fast selbstverständlich war. Ich wollte eine eigene Bäckerei aufmachen.

    Ganz schön mutig.

    Gür: Mein Chef wollte mich auch davon abhalten. Er sagte, was willst du? Du verdienst genug Geld, kannst dir ein Auto leisten, eine Familie ernähren. Warum willst du so ein Risiko eingehen? Aber ich wollte unbedingt mein eigener Chef sein. 1992 habe ich in der Schanze meinen ersten Laden eröffnet. Mein Chef hat vor der Eröffnung sogar seine Frau vorbeigeschickt, damit wir von ihr lernen konnten, wie man verkauft. Inzwischen gibt es 30 Filialen vom Schanzenbäcker, davon sechs als Franchise-Unternehmen. Und zwei meiner Söhne sind auch schon ins Unternehmen eingestiegen.

    Wie setzt sich Ihre Belegschaft zusammen? Sie haben etwa 300 Mitarbeiter. Beschäftigen Sie auch Flüchtlinge?

    Gür: Ich beschäftige Türken, Deutsche, weitere europäische Mitbürger, Asiaten sowie zehn ehemalige Flüchtlinge aus Afghanistan, die schon lange in meinem Betrieb integriert sind. Außerdem sind wir in Kontakt mit dem Arbeitsamt und geben jedem eine Chance, in unserer Firma zu arbeiten.

    Wie nehmen Sie die Stimmung gegen Ausländer wahr?

    Gür: Am Anfang waren die Deutschen sehr stark. Auch wir waren mit Nachbarn in den Messehallen und haben gespendet. Aber inzwischen ist die Stimmung gekippt. Viele haben Angst vor den Fremden, vor allem seit die AfD diese Ängste schürt. Die Menschen sind un­sicher. Sie wissen nicht, was auf sie zukommt. Und natürlich fürchten sie, dass ihnen die Zuwanderer etwas weg­nehmen.

    Und Sie? Was fühlen Sie?

    Gür: Ich bin auf der Seite von Frau Merkel, die gesagt hat „wir schaffen das.“ Ich unterstütze ihre Politik voll und ganz. Wir werden nicht verlieren. Wir brauchen diese Menschen. Wir brauchen Arbeitskräfte. Ich habe jetzt schon Pro­bleme, gute Kräfte zu finden. Das muss sich ändern.

    Denken die Türken in Ihrem Umfeld wie Sie?

    Gür: Alle, die wie wir hierhergekommen sind, um etwas aus ihrem Leben zu machen, haben es geschafft. Es gibt in meinem Bekannten- und Freundeskreis keine Arbeitslosen. Die meisten Kinder studieren, und auch ihre Eltern haben angesehene Berufe, sind Ärzte, Rechtsanwälte oder wie ich Unternehmer. Sie sehen zwar aus wie Türken, innerlich sind sie aber Deutsche. Das merken wir besonders, wenn wir in der Türkei zu Besuch sind oder im Urlaub.

    Wie meinen Sie das?

    Gür: Wir gelten ja als Deutschtürken, und als solche werden wir wie andere Touristen behandelt. Das heißt, man muss ziemlich aufpassen, dass man nicht übers Ohr gehauen wird, wenn man beispielsweise auf dem Markt einkauft. Ich kenne alle Tricks.

    Denken Ihre Kinder wie Sie?

    Gür: Wenn ich frage, was seid ihr? Türken, Deutsche oder Europäer? Dann antworten sie, wir sind Deutsche. Dann sage ich provokativ, nein, ihr seid Europäer. Aber davon wollen sie nichts wissen.

    Was raten Sie Flüchtlingen, die in Deutschland bleiben wollen?

    Gür: Ihr dürft nicht nur mit dem Körper hier sein, vor allem im Kopf müsst ihr ankommen. Und ihr müsst lernen und euch integrieren. Anders geht es nicht. Deshalb ist Arbeit wichtig für die Flüchtlinge. Nur wer etwas zu tun hat, kommt nicht auf dumme Gedanken.

    Ein großes Problem ist die Religion. Kopftuch, ja oder nein, Radikalisierung von jungen Migranten, Hassprediger sind einige der Themen, die polarisieren und ängstigen.

    Gür: Ich bin selbst Moslem. Im vergangenen Jahr habe ich eine Woche Urlaub genommen, um erstmals nach Mekka zu fahren. Ein Freund hat mich begleitet. Und wissen Sie was? Es war schrecklich. Die Lehre, die dort verbreitet wurde, passt nicht in unsere Welt. Ich kann nicht akzeptieren, dass Frauen unterdrückt werden, dass im Namen Allahs Verbrechen gutgeheißen werden, dass Menschen unterdrückt werden. Mein Glaube gebietet mir, andere Menschen zu respektieren. Ich lehne die saudi-arabische Sichtweise des Islam entschieden ab. Ich bin sicher, auch der liebe Gott möchte so etwas nicht.

    Haben Sie keine Angst, wegen Ihrer Ansichten verfolgt zu werden?

    Gür: Warum? Ich sage nichts Unrechtes. Ich beleidige niemanden. Und ganz ehrlich: Deutschland ist ein sicheres Land. Sicherer als die Türkei zurzeit. Ich habe kürzlich meine Eltern in Antalya besucht. Und ich muss sagen, mir war unwohl. Wir waren, zumindest am Anfang, vorsichtig, haben große Einkaufszentren gemieden und die Menschen um uns herum beobachtet. Dennoch fliegen wir demnächst dorthin in Urlaub. Zimmer zu bekommen ist ja kein Problem. Die Touristen kommen derzeit nicht. Das ist bitter für unsere Wirtschaft.

    Können Sie sich vorstellen, im Alter zurück in die Türkei zu gehen? So wie Ihr Vater?

    Gür: Fragen Sie mich das noch mal, wenn ich Rentner bin. Ich weiß aber eines, was ich mir als Rentner jetzt schon wünsche: schönes Wetter und eine andere Esskultur.

    Wieso?

    Gür: Wir Türken lieben gutes Essen, und wir sind gerne Gastgeber. Das vermisse ich manchmal in Hamburg.

    NÄCHSTE FOLGE:

    Mehmet Yildiz, Abgeordneter der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft

    Matthias Iken

    Dass er mit den 30 Filialen seiner Schanzenbäckerei inzwischen ein großer Player auf dem Backwaren-Markt ist, sieht man dem Geschäftssitz von Gürol Gür nicht an. Auf dem Gelände des ehemaligen Schlachthofs an der Lagerstraße hat er nur ein Minibüro für sich abgeteilt. Wollen drei Menschen darin Platz finden, ist ein bisschen Organisation beim Betreten nötig. Doch türkische Gastfreundlichkeit geht auch auf kleinstem Raum. Im hintersten Winkel bereitet der Chef persönlich den Tee für seine Gäste zu.