Angekommen in Hamburg: In einer Gesprächsreihe sprechen Hamburger mit Migrationshintergrund über Grenzgänge zwischen den Kulturen. Heute: NDR-Moderator und Schauspieler Yared Dibaba

    Peter Wenig

    Yared Dibaba, 47, besteht auf koffeinfreien Kaffee. „Ich muss diese Nacht gut schlafen, schließlich muss ich morgen wieder früh raus“, sagt der Moderator. Sein Arbeitsplatz, das Studio von NDR 90,3, liegt direkt vis-à-vis dem Café Funkeck an der Rothenbaumchaussee. Für das Thema Integration kann es kaum einen geeigneteren Gesprächspartner als Dibaba geben. Der gelernte Schauspieler wurde 1969 im Südwesten Äthiopiens geboren, kam mit vier Jahren nach Osnabrück, ging mit seiner Familie 1976 zurück nach Äthiopien. Drei Jahre später mussten die Dibabas fliehen. Ihr Anlaufpunkt: das Dorf Falkenburg im Oldenburger Land. Die vielen Umzüge in seinem Leben kann Dibaba kaum noch rekonstruieren: „30 waren es bestimmt, wahrscheinlich eher 35.“ Seit 2004 lebt er nun mit seiner portugiesischen Frau und zwei Kindern in Altona.

    Hamburger Abendblatt: Herr Dibaba, was bedeutet der Begriff Heimat für Sie?

    Yared Dibaba: Da habe ich viele Bilder im Kopf. Zunächst Oromia, die Region Äthiopiens. Das wunderbare Essen, die herrliche Landschaft. Dann Falkenburg, wo ich aufgewachsen bin. Ein Dorf mit 800 Einwohnern und vielen Freunden. Und jetzt Hamburg, die Elbe. Heimat ist für mich nicht nur ein Ort, sondern ein Gefühl. Wo ich mich wohlfühle, da ist meine Heimat, da sind meine Wurzeln. Unsere Kinder haben gleich drei Wurzeln. Norddeutschland, Oromia und Portugal, die Heimat meiner Frau.

    Sie sind mit Ihrem Bruder 1976 nach Äthiopien zurückgekehrt. Damals waren Sie gerade sieben Jahre alt. Waren Sie traurig, dass das Kapitel Osnabrück nach nur drei Jahren wieder endete?

    Dibaba: Nein, in Oromia …

    ... Entschuldigung, aber Sie sprechen immer von Oromia, nie von Äthiopien …

    Dibaba: … ja, meine Heimat war und ist Oromia. Im Südwesten Äthiopiens sowie im Norden Kenias leben 25 Millionen Oromos. Mein Volk wird dort seit Jahrzehnten brutal unterdrückt. In Oromia lebten damals meine Großeltern, meine Onkel, meine Tanten. Deshalb hatten wir uns auch wieder so auf die Rückkehr gefreut. Ich weiß noch genau, wie uns die ganze Familie am Flughafen abholte. Unsere Verwandten richteten ein großes Willkommensfest aus. Gelebt haben wir auf dem Land. Wir fanden das viel schöner als mitten in der Stadt wie in Osnabrück. Eingeschult wurden wir auf einer deutschen Schule.

    Gab es damals denn schon Anzeichen für einen Bürgerkrieg?

    Dibaba: Nein, dann hätten meine Eltern die Rückkehr niemals gewagt. Mein Vater hatte in Osnabrück studiert, jetzt sollte er in unserer Heimat einen christlichen Radiosender aufbauen. Doch schon nach ein paar Monaten wurde die Situation für uns gefährlich.

    Was war geschehen?

    Dibaba: Die kommunistische Militär­regierung ging immer rücksichtsloser gegen die Oromos vor. Wir durften unsere Sprache nicht mehr sprechen, jeden Tag wurden Leute verhaftet, gefoltert und ermordet. Ich habe als Achtjähriger Leichen auf den Straßen gesehen. Und unsere Familie war besonders gefährdet.

    Warum?

    Dibaba: Die kommunistische Regierung hat gezielt Oromos und Mitglieder der evangelischen Mekane Yesus Kirche verfolgt. Und mein Vater hat als Oromo für einen Radiosender gearbeitet, den diese Kirche betrieben hat. Zudem engagierte er sich für die Alphabetisierung der Landbevölkerung. Irgendwann haben sie seinen Chef verhaftet. Mein Bruder und ich haben jeden Tag gebetet, dass unsere Eltern gesund nach Hause kommen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es sie auch erwischt, der Name meines Vaters stand auf der Lis­te. 1979 sind wir dann über den Flug­hafen Nairobi geflohen.

    Ihre Odyssee endete in Falkenburg, in der tiefsten norddeutschen Provinz.

    Dibaba: Für uns war es dennoch sofort Heimat. Am 18. Juni 1979, einem herr­lichen Sommertag, sind wir dort an­gekommen. Die Nachbarn hatten uns Fahrräder bereitgestellt, mein Bruder und ich sind sofort los, um die Umgebung zu erkunden. Der Tag ging überhaupt nicht zu Ende, erst gegen 22.30 Uhr, als es langsam dunkel wurde, sind wir zurück. Das kannten wir ja nicht – in Oromia wurde es um 18 Uhr dunkel. Unsere Eltern waren vor Sorgen völlig durch den Wind. Die wollten schon die Polizei holen, weil sie Angst hatten, uns wäre etwas passiert.

    Ist Integration auf dem Dorf einfacher als in der Großstadt?

    Dibaba: Für uns damals auf jeden Fall. In Falkenburg kennt jeder jeden. Ich habe im Fußballverein gespielt, im Kinderchor gesungen. Frau Schauer, meine Lehrerin, hat mich dann sogar animiert, bei einem plattdeutschen Lesewettbewerb mitzumachen.

    Sie haben mal gesagt, dass Sie als Entwicklungshelfer für Plattdeutsch nach Norddeutschland gekommen seien.

    Dibaba (lacht): Das stimmt. Plattdeutsch gehört für mich zur gelebten Tradition, zu den Wurzeln unserer Heimat. Ich finde es so schade, dass diese Werte bei uns so wenig gepflegt werden. Was sollen diese ganzen Anglizismen, warum sprechen wir von Meetings und Briefings? Es ist doch viel lässiger, unsere plattdeutschen Wörter zu verwenden. Warum heben wir uns damit nicht von der Masse ab? Wenn ich im Norden unterwegs bin, spüre ich, wie schon ein schlichtes „Moin, Moin“ Türen öffnet.

    In meiner Heimat Oromia ist es genauso. Wenn dort ein Besucher unsere Sprache spricht, erreicht er die Herzen, auch wenn er noch so viele Fehler macht.

    Was ist Ihr wichtigster Rat an die Menschen, die jetzt nach ihrer Flucht in Deutschland ankommen?

    Dibaba: Vorab möchte ich sagen, dass wir damals in doppelter Hinsicht privilegiert waren. Wir konnten mit dem Flugzeug ausreisen, mussten nicht wie die Flüchtlinge jetzt über lebensgefährlichen Routen fliehen. Und wir konnten die Sprache. Aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen: Die Sprache ist der Schüssel zu allem. Ihr müsst Deutsch lernen, je schneller, desto besser.

    Bleibt die Frage, wie motiviert die Flüchtlinge sind.

    Dibaba: Wer sein Leben aufs Spiel setzt, um nach Deutschland zu kommen, will es hier schaffen. Deshalb wünsche ich auch mehr Zuversicht. Diese Zuwanderung ist für Deutschland eine große Chance. Und ich wünsche mehr Toleranz, von beiden Seiten. Nicht immer nur auf Integrationsgipfel verlassen. Lieber ganz normaler Umgang. Und dazu gehört, dass wir angstfrei aufeinander zugehen, offen sagen, was hier geht. Und was eben nicht. Es geht um Offenheit, um die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen.

    In dieser Hinsicht macht Ihnen so schnell niemand etwas vor. Sie sind nicht nur zigmal umgezogen, Sie haben mehrfach überraschend den Beruf gewechselt. Stimmt es, dass Sie vor Ihrer Karriere in der Unterhaltungsbranche als Kaffee­tester gearbeitet haben?

    Dibaba: Ja, nach meiner Lehre zum Groß- und Außenhandelskaufmann bei Jacobs Kaffee in Bremen. Ich habe dort jeden Tag Kaffee aus verschiedensten Ländern probiert und getestet. Kaffeebohnen sind ein Naturprodukt, da müssen Sie genau prüfen, ob die angebotenen Bohnen den Qualitätsansprüchen auch genügen und ob die Mischung stimmt. Für mich passte das ideal. Denn ich war schon immer passionierter Kaffeetrinker, schließlich ist die Kaffeebohne der Legende nach in Oromia entdeckt worden.

    Wie kam dann der Wechsel ins Schauspielfach?

    Dibaba: Ein Kumpel von mir hat mich überredet, zur Schauspielschule zu gehen. Der hat gespürt, dass ich die Leute gerne unterhalte. Schon als Kind habe ich in der Schule Theater gespielt.

    Ihre Eltern waren bestimmt begeistert. Da kündigt der Junge für so eine unsichere Sache einen krisenfesten Job …

    Dibaba: Falsch, meine Eltern haben mich unterstützt. Aber im Freundeskreis hat sich schon der eine oder andere gedacht, der Yared hat einen Sockenschuss.

    Finanziell werden Sie sich nicht verbessert haben.

    Dibaba: Der Anfang war hart. Erst habe ich nebenbei gekellnert, aber leider habe ich zwei linke Hände. Direkt am ersten Abend habe ich einem Gast ein Tablett mit Rotweingläsern über die Hose gekippt. Peinlich, peinlich. Ich habe dann lieber Stadtrundfahrten gemacht. Wurde gut bezahlt. Und sabbeln konnte ich schon immer.

    Aber Sie kannten Hamburg doch kaum.

    Dibaba: Ich habe mir alles angelesen. Und ich konnte dort mein Entertainer-Gen ausspielen, habe auch mal was gesungen. Den Leuten hat’s gefallen. Das Trinkgeld war jedenfalls sehr ordentlich.

    Als Schauspieler sind Sie dann beim Ohnsorg-Theater gestartet. War Heidi Kabel eine strenge Chefin?

    Dibaba: Überhaupt nicht. Zu den Proben hat sie Kaffee und Erdbeerkuchen mitgebracht. Ich war so stolz, dass ich an ihrer Seite spielen durfte.

    Wer Sie jetzt googelt, findet bei YouTube unter YARED.TV witzige Filmchen von Ihnen als Plattdeutschlehrer und Kaffee-erklärer mit Yareds Kaffeesatz. Das wirkt alles wie eine Bilderbuchkarriere. Haben Sie in Deutschland auch die dunkle Seite des Rassismus erlebt?

    Dibaba: Ja, leider. Es gab Situationen, da musste ich wegrennen vor kahlgeschorenen Leuten in Springerstiefeln. Und einmal haben Glatzen uns über Silvester ihren Besuch angekündigt. Zum Glück waren ausreichend Freunde von uns da.

    Wie engagieren Sie sich für Flüchtlinge?

    Dibaba: Ich moderiere entsprechende Veranstaltungen. Derzeit überlege ich mit der „Gesellschaft für bedrohte Völker“, wie wir auf die Not der Oromos aufmerksam machen können. Leider weiß kaum jemand in Deutschland, wie sehr die Oromos in Äthiopien leiden. Es ist auch kaum ein Thema in den Medien, weil es kaum unabhängige Reporter im Land gibt. Nach außen heißt es, Äthiopien sei eine Demokratie. Aber das stimmt nicht, die Opposition wird brutal unterdrückt. Während wir hier reden, sterben in meiner Heimat wieder Menschen, darunter Kinder und Jugendliche, weil sie für ihre Rechte auf die Straßen gehen.

    Müssen wir mehr tun, dass es den Menschen insgesamt auf diesem Planeten besser geht?

    Dibaba: Auf jeden Fall. Das ist der einzige Weg, wenn man erreichen will, dass die Menschen in ihrer Heimat bleiben. Niemand verlässt freiwillig und unter großen Gefahren sein Land, wenn es ihm dort gut geht. Kein Hamburger würde doch auf einen solchen Gedanken kommen.

    Aber wie könnte eine solche Hilfe in Ihrer Heimat konkret aussehen?

    Dibaba: Den Oromos wird systematisch das Land geraubt. Dort entstehen dann riesige Felder, wo Rosen für den Export angebaut werden. Diese Blumen dürfen wir nicht kaufen. Es gibt genügend Blumen aus fairem Handel. Bei Textilien gilt das Gleiche. Die Regierung verkauft das Land der Oromos an riesige Konzerne, die dann dort Baumwolle anbauen. Auch diese Erzeugnisse müssen wir boykottieren.

    Plädieren Sie für ein militärisches Eingreifen?

    Dibaba: Das weiß ich nicht. Wichtig ist zunächst, dass die demokratischen Nationen den Druck auf die Regierung in Äthiopien erhöhen, damit sich dort endlich etwas ändert.

    Wann waren Sie das letzte Mal in Oromia?

    Dibaba: Das ist leider viel zu lange her, 1994. Aber es ist einfach zu gefährlich für mich, dort jetzt einzureisen.

    Können Sie die Muttersprache noch?

    Dibaba: Oromiffa kann ich perfekt. Wir pflegen die Sprache ja auch. Wenn ich mit meinen Verwandten, die in Deutschland leben, zusammen bin, sprechen wir nur Oromiffa.

    Und Ihre Kinder?

    Dibaba: Die können leider nur ein paar Brocken, genau wie beim Plattdeutsch. Die wichtigsten Begriffe wie „guten Morgen“ oder „auf Wiedersehen.“ Aber sie haben zumindest einen Grundstock.

    Haben Sie die Hoffnung, dass Sie Ihren Kindern Ihre Heimat zeigen können?

    Dibaba: Wenn ich die nicht hätte, hätte ich den Kampf längst aufgegeben. Aber es wird noch ein weiter Weg.