Nah vor das Paradies hat der liebe Gott die Nordostseebahn gelegt. Mal kommt Hamburgs Sylt-Anschluss als mobiler Meditationsraum daher, mal eher als Vorhölle. Mittags unter der Woche ziehen die einsamen Marschen des Nordens mit ihren schwarz-bunten Tupfern am Fenster vorbei, unterbrochen von Ortschaften mit so lustigen Namen wie Lunden, Langenhorn oder Klanxbüll; auf halber Strecke versucht sich der Zug als Flugzeug und schwebt über den Nord-Ostsee-Kanal.

    Eine Zugfahrt kann herrlich sein. Oder das komplette Gegenteil davon. Rund ums Wochenende, wenn lärmende Schulkinder, bierselige Junggesellen oder grölende Fußballfans die Großraumabteile entern. Und sich die 220 Kilometer in die Länge ziehen. Drei Stunden im Zuge vergehen wie im Fluge oder wie ein französischer Autorenfilm im Original ohne Untertitel. Aber spätestens auf dem Hindenburgdamm ist alles egal. Endlich Nordsee, endlich Luft, endlich Weite!

    „Alle Sinne sind im Augenblick des Betretens der Insel von dieser vollauf in Anspruch genommen und ausgefüllt, und das Gemüt ist entweder verschüchtert oder betäubt oder beseligt“, schwärmte einst der Verleger Peter Suhrkamp. „Die Insel kann wüst, öde und lichtlos angetroffen werden, auch in einer hellen Nüchternheit, einer frühen Klarheit, auch als seliger Spiegel überirdischer Schönheiten, aber nie ist sie nur einfach schön und gar lieblich ... Sie ist nie dieselbe und doch stets unverkennbar die Insel.“

    Leider hat sich Sylt heute für öde und lichtlos entschieden. Der Regen fällt fein-fisselig aus nebelgrauen Wolken, die Insel ist trotzdem gut gebucht. Sehr gut gebucht. Zu gut gebucht. Ein Zimmer zu finden, gestaltet sich schwieriger als gedacht – trotz Nebensaison. Nach mehreren Fehlversuchen werde ich in der Westerländer Elisabethstraße fündig, im Haus Diana aus den 50er-Jahren. Aus Westerlands Wirtschaftswunderjahren, als die Insel boomte, Hochhäuser in Beton gegossen wurden und Lokalpolitiker vom „St. Tropez der Nordsee“ halluzinierten.

    Haus Diana ist norddeutsch-backstein-bodenständig. Familiengeführt, unprätentiös und mit 69 Euro inklusive Kurzbucherzuschlag erstaunlich günstig. Die Frage „Was tun beim Regen“ regiert an der Rezeption. Hotelmitarbeiterin Angelika Biegel rät zur Therme oder zum Bummel in der Friedrichstraße. „Einkaufen geht immer, zumindest für Frauen. Ich käme ja nicht darauf, bei dem Wetter einen Strandspaziergang zu machen.“

    Ich schon, Regenjacke raus und los. Nur wohin? Im Grau auf Westerlands Strandpromenade würde man im Schatten der grotesken Bausünden der Vergangenheit schwermütig. Die schönsten Strände liegen im Norden, auf dem wild-urwüchsigen Ellenbogen und zwischen List und Kampen. Wo die Strände Namen wie Abessinien, Samoa, Sansibar tragen, träumt sich Sylt seit Jahrzehnten in südlichere Sommer.

    Nur wirkt der Bus, der am Bahnhof steht und nach List fährt, eher wie ein Linienbus in Pinneberg: Menschen mit Koffern, Schulklassen und Senioren in Jack-Wolfskin-Jacken drängen nordwärts. Zwischen List und Kampen entkomme ich der deutschen Durchschnittlichkeit und verlasse den Bus.

    Schon wenige Meter abseits der Straße liegt ein anderes Sylt da – durch eine menschenleere Einsamkeit bummele ich zur Uwe-Düne. Ihre 52,5 Meter habe ich für mich ganz allein. Alfred Kerr lobte einst auf Sylt das immer gleiche Gefühl: „Kein Mensch, aber zwei Meere.“

    Hier oben beginnt man zu ahnen, was er meinte. Über das rote Kliff führt der Weg zurück in die Zivilisation, der Nordwind beschleunigt den Wanderer. An dieser Stelle trifft der Geestkern, dem die Insel ihr Dasein und Noch-Sein verdankt, direkt auf die See. Hier knabbert der Blanke Hans Meter um Meter, hier spült der nordfriesische Regen Kilo um Kilo ins Meer. Das permanente Schaffen und Vergehen machen das Kliff zu einem magischen Ort – und zaubert den wenigen Wanderern ein versonnenes Lächeln ins Gesicht.

    Die Prankenschläge der See sind es, die Sylt so besonders machen; die wilde Urkraft der Nordsee hat der Insel ihre eigenartige Form verliehen. Sylt atmet eine besondere Vergänglichkeit, die den Reiz ausmacht. Erst mit jedem weiteren Meter Richtung Skyline von Westerland verweht das Mystische, werden die frei fliegenden Gedanken eingefangen. Aber am Ende einer langen Strandwanderung hadert man nicht zu sehr mit ein wenig Zivilisation: Ein gezapftes Bier, ein frischer Fisch und ein Abend in der Sylter Welle haben auch ihr Gutes.

    Bisherige Ausgaben (Gesamtbudget 500 Euro): Zugfahrt 9,50, Übernachtung 69,00, Verpflegung 17,50.

    Restbetrag: 404 (Stand 16 Uhr).