Neun europäische Staaten grenzen an Deutschland. Thomas Frankenfeld stellt unsere Nachbarländer in dieser Serie vor, analysiert ihr Verhältnis zu Deutschland und wie sie mit Flüchtlingen umgehen. Heute, im letzten Teil: die Schweiz

    Am Anfang stehen die Legenden. Wie jene um Wilhelm Tell, der sich weigerte, dem entwürdigenden Befehl des habsburgischen Landvogts Gessler an seine Untertanen, seine auf eine Stange gesteckten Hut ehrerbietig zu grüßen. Worauf Gessler Tell dazu zwingt, mit der Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen. Tell entrinnt seinen Häschern und tötet den Landvogt schließlich mit einem Armbrustbolzen in der „Hohlen Gasse“.

    Wilhelm Tell, dessen Geschichte zum ersten Mal im „Weissen Buch von Sarnen“ um 1472 auftaucht und in verschiedenen Versionen überliefert wurde, ist wohl der weltberühmteste Schweizer, der nie gelebt hat. Eine zweite Legende, ebenfalls aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert stammend, knüpft hier unmittelbar an: Der Tyrannenmord an Gessler führt zum offenen Aufstand gegen die verhassten Habsburger Landvögte; und drei Vertreter der Urkantone Uri, Schwyz (dem Namensgeber des künftigen Staates) und Unterwalden schwören 1291 auf einer Wiese am Vierwaldstättersee, dem Rütli, einen Bundes-Eid. Diese legendenumwobene „Befreiungstradition“ in der Schweiz hat zwar nur einen sehr dünnen historischen Kern, ist aber spätestens im 19. Jahrhundert zu einem Nationalmythos geronnen, in dessen Mittelpunkt der „Rütlischwur“ und die allegorische Frauenfigur der „Helvetia“ als Identifikationsfigur der Eidgenossenschaft stehen.

    In den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den freiheitsliebenden Schweizern, (die mit ihrer damals hochmodernen Infanterietaktik zeitweise so erfolgreich waren, dass Papst Julius II. sich 1506 eine Schweizer Garde als Leibwache zulegte – eine Institution, die bis heute Bestand hat) sowie Habsburgern, Schwaben und Burgundern ertrotzten die Eidgenossen ihre politische Eigenständigkeit, die schließlich im Westfälischen Frieden am Ende des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) zur anerkannten Ausgliederung aus dem Römischen Reich und damit zur Souveränität führten.

    Als moderner Bundesstaat existiert die Schweiz erst seit 1848

    Ein Jahr zuvor hatten die Eidgenossen eine „immerwährende bewaffnete Neutralität“ beschlossen. Eben diese Neutralität wurde dann 1815 im Zweiten Pariser Frieden von den europäischen Großmächten den Schweizern geradezu verordnet – um die Schweiz, die Napoleons Armee 1798 besetzt hatte, dem Einfluss Frankreichs zu entziehen. Seit dem 12. September 1848 besteht die Schweiz in der heutigen Form als moderner Bundesstaat.

    Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet die Schweiz mit ihren eher nüchternen, bodenständig und pragmatisch veranlagten Bürgern zeitweise Schauplatz einer rigiden Theokratie war, einer christlichen Gottesherrschaft, die es in puncto Intoleranz, Freudlosigkeit und Grausamkeit fast mit den radikalislamistischen Regimen der Taliban oder des „Islamischen Staates“ aufnehmen konnte. Initiator war der in Frankreich geborene Reformator Jean (Johannes) Calvin. Er arbeitete in Genf eine Gemeindeordnung von archaischer Strenge aus, in der die Bürger einer lückenlosen Überwachung ausgesetzt waren, in der das öffentliche und private Leben minutiös reguliert, jegliche weltlichen Vergnügungen verboten und religiöser Gehorsam durch ein barbarisches Strafregiment sowie eine Atmosphäre der Angst und der Denunziation erzwungen wurden. Zunächst scheiterte Calvin damit, doch wurde er 1540 vom Rat der Stadt Genf zurückgeholt und konnte sein Programm umsetzen. Calvins Terror-Regime bediente sich Folter und auch diverser Todesurteile, wie jenes gegen den Arzt Michael Servetus, der einfach nur eine andere Ansicht als Calvin zur Dreifaltigkeitslehre hatte. Servetus wurde auf Betreiben Calvins auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Wie auch zahlreiche Frauen, deren Verfolgung Calvin als „Hexen“ vorantrieb.

    Der „Calvinismus“ dieses „Taliban von Genf“, wie ihn das Handelsblatt nannte – Stefan Zweig verglich ihn gar mit Adolf Hitler – hatte in der Folge jedoch, ausgehend von der Schweiz, enormen Einfluss auf mehrere Länder in Europa und danach vor allem auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Calvin vertrat die Ansicht, dass Gott die Menschen in zwei Gruppen aufgeteilt habe: Auserwählte und Nicht-Auserwählte. Erstere werden auferstehen, letztere in der Hölle landen. Da niemand weiß, ob er zu den Gewinnern gehört, sollte jeder Mensch so leben, als ob er auserwählt sei: Mit unbändigem Fleiß, ohne viel Zeitvergeudung durch Schlaf oder sinnentleertes Tun. Arbeit ist der von Gott vorgeschriebene Sinn des Lebens. Wenn jemand dann wirtschaftlichen Erfolg hat, Reichtum erwirbt, ist dies ein Hinweis auf den Gnadenstand. Diese rigide Arbeits- und Wirtschaftsethik, eben aus der Schweiz stammend, schaffte wesentliche geistige Voraussetzungen für den modernen Kapitalismus, wie er sich vor allem in den USA manifestierte.

    Und die Schweiz profitierte vom Reichtum der calvinistischen Staaten, indem das Bergland eine mächtige Bankenwirtschaft aufbaute und lange Zeit Betuchten per Nummernkonten Zuflucht vor der Steuer bot. Der britische Außenminister Lord George Brown prägte das berühmte, aber nicht sehr charmante Etikett für die im Schatten wirkenden Schweizer Bankiers, die er „die Gnome von Zürich“ nannte. Seit 2015 ist das Schweizer Bankgeheimnis für Ausländer jedoch ausgehebelt.

    Überhaupt ist der Bankplatz Schweiz in vollem Umbruch, zahlreiche ausländische Banken haben sich zurückgezogen, Milliarden an Kapital wurden abgezogen. In der Eurokrise 2009 bis 2011 war der Schweizer Franken dennoch die Fluchtwährung Nummer eins.

    Doch am 15. Januar 2015 traf die Schweizerische Nationalbank (SNB) überraschend eine folgenschwere Entscheidung und koppelte den Franken vom Euro ab, der Währung ihrer wichtigsten Handelspartner. Die SNB machte daraufhin 2015 den größten Jahresverlust ihrer Geschichte: 23 Milliarden Franken (21 Milliarden Euro). Der Franken gilt derzeit als eine der am meisten überbewerteten Währungen der Welt; Industrie und Tourismus leiden darunter. Ein Beispiel: Ein Big Mac kostet in der Schweiz satte 70 Prozent mehr als im Euro-Raum. Im „Global Competitiveness Report 2014-2015“ des Weltwirtschaftsforums liegt die Schweiz in puncto Wettbewerbsfähigkeit aber vor Singapur und den USA auf dem ersten Platz.

    Die kleine, multikulturelle Schweiz mit ihren deutschen, französischen, italienischen und rätoromanischen Sprach- und Kulturgebieten ist als „Willensnation“ weltweit einzigartig. Sie entsteht nicht aufgrund eines staatlichen Gründungsaktes von oben, sondern aufgrund des freien Willens von Bürgern unterschiedlicher ethnischer Herkunft von unten nach oben. Und obwohl die Schweizer Bevölkerung zwischen 1900 und 2015 von 3,3 auf 8,3 Millionen Menschen anschwoll, hält die Schweiz an der direkten Demokratie fest: Das Volk kann über Referenden und Initiativen unmittelbaren Einfluss auf die Regierungstätigkeit nehmen.

    Manche politischen Entwicklungen vollziehen sich dabei allerdings in geradezu geologischem Tempo: Erst 1971 führte die Schweiz offiziell das Wahlrecht für Frauen ein. Doch das galt noch nicht in den Kantonen. Im November 1990 musste das Bundesgericht den Kanton Appenzell-Innerrhoden dazu zwingen, Frauen endlich das Wahlrecht einzuräumen. Die Innerrhoder Männer hatten im April noch einmal mehrheitlich dagegen votiert.

    Den Schweizern wird neben ausgeprägter Heimatliebe eben ein gewisses Beharrungsvermögen bezüglich ihrer sehr eigenen Lebenskultur nachgesagt. Mit Misstrauen beäugt man selbst die Deutschen, die in erheblicher Zahl zum Arbeiten in die Schweiz kommen.

    Dennoch ist auch die Schweiz – wie die meisten wohlhabenden Staaten in Europa – ein Einwanderungsland. Tatsächlich liegt der Anteil der Ausländer mit 23,3 Prozent sogar deutlich über dem der meisten europäischen Nachbarn. In Deutschland sind es neun Prozent, in Italien acht, in Frankreich sechs. Die meisten Ausländer in der Schweiz kommen aus Italien (15,4 Prozent), Deutschland (15,1) und Portugal (13,1). Die Schweiz unterscheidet zwischen Ausländern ohne Bürgerrecht und Bevölkerung mit Migrationshintergrund, aber Bürgerrecht. Für Ausländer der zweiten Generation hat sich der Begriff Secondo eingebürgert. Deutsch ist mit knapp 65 Prozent die meistverbreitete Sprache in der Schweiz, vor Französisch (22,6) Italienisch (8,3) und Rätoromanisch (0,5).

    Ungeachtet des traditionell multikulturellen Charakters ihrer Gesellschaft äußert rund die Hälfte der Schweizer in Umfragen akute Ängste vor Überfremdung im Zuge der Flüchtlingsströme, vor Verlust von Arbeitsplätzen und steigender Kriminalität. Dabei gehen die Flüchtlingsströme weitgehend an der Schweiz vorbei: Gerade 40.000 Asylgesuche sind im vergangenen Jahr eingegangen – zumeist von Menschen aus Eritrea, Syrien, Afghanistan und Somalia. Für das laufende Jahr werden kaum mehr erwartet.

    Doch auch in der Schweizer Flüchtlings-Debatte ist der Ton rauer geworden. Die mit zwei Ministern an der Regierung beteiligte rechtspopulistische, islamfeindliche und EU-kritische Schweizerische Volkspartei (SVP), die nach Sitzen inzwischen stärkste Partei im Nationalrat, spricht von einem „Asylchaos“ im Land. Hugo Fasel, Chef der Schweizer Caritas, weist das zurück und kritisiert, dass die Flüchtlingsfrage in der Schweiz „politisch intensiv bewirtschaftet“ werde.

    AfD-Politikerin Frauke Petry sieht hier in der Islam-Frage eine Art Modellstaat

    Diese erhitzte Debatte wurde kürzlich noch zusätzlich befeuert durch einen Vorfall an der Sekundarschule in Therwil: Zwei muslimische Schüler, Brüder aus einer radikalislamisch geprägten Familie, weigerten sich unter Hinweis auf ihre Religionskultur, ihrer Lehrerin die Hand zu geben – wie es die Schweizer Gepflogenheiten verlangen. Die überforderte Schulleitung erteilte den Brüdern für diese Verweigerung schließlich eine Ausnahmegenehmigung, was zu heftigen Protesten führte und selbst Beat Kemp, den Präsidenten des schweizerischen Lehrerverbandes, zu der Bemerkung veranlasste, dass dies „keine gute Idee“ gewesen sei: „Der Händedruck ist Teil unserer Kultur.“

    Die umstrittene deutsche AfD-Politikerin Frauke Petry pilgerte vergangene Woche in die Schweiz – für die AfD in der Islam- und Flüchtlingsfrage eine Art Modellstaat – und betonte vor mehreren Hundert SVP-Anhängern in Interlaken: „Deutschland braucht schweizerische Verhältnisse.“

    Dabei übersieht die AfD-Politikerin ein wesentliches und ganz besonderes Merkmal der eidgenössischen Politikarchitektur. Die Schweiz ist eine Konkordanzdemokratie. Das heißt, möglichst viele Kräfte werden an der Regierungskoalition beteiligt und das Amt des Regierungschefs wechselt unter den sieben Kabinettsministern. Dieses Prinzip verhindert, dass eine Partei, selbst wenn sie noch so gut bei einer Wahl abgeschnitten hat, die ganze politische Macht für sich beanspruchen kann. Regiert wird dann im Konsens.

    Eine Politik, wie sie die AfD fordert, könnte sich in der Schweiz kaum durchsetzen.