Als er erfuhr, dass in seiner Nachbarschaft in Poppenbüttel ein Flüchtlingsheim gebaut wird, begann Jan Melzer, ein Tagebuch zu schreiben. Gedanken eines Bürgers. Teil 13

Tagebucheintrag 74 –

Hamburgische Wasserfolter

Piep-piep-piep-piep-piep … Ich schlage auf den Wecker, aber das Piepsen hört nicht auf. Die Waschmaschine macht üblicherweise auch so ein Geräusch, wenn sie fertig ist. Piep-piep-piep-piep, nein, die ist leer. Motoren­geräusch erklingt. Schlagartig wird mir klar, dass das unerträgliche Gepiepse von der Baustelle auf unserem nun ehemaligen Feld kommt. Das ist das Rückwärtsfahrt-Warnsignal der Kipplaster, die den Kies für die Baustraßen anliefern. O Gott, was bin ich froh, dass wir lediglich in dritter Reihe wohnen! Piep-piep-piep, ich hab dich nicht lieb.

Das muss ja der Wahnsinn für die direkten Anwohner sein, wenn man sowieso nicht gerade begeistert über den Bau der Flüchtlingssiedlung ist, und dann täglich diesen akustischen Albtraum erleben darf!

Das Piepsen muss sich wie eine hamburgische Spielart der chinesischen Wasserfolter anfühlen. Wir haben in unserem Auto auch einen Rückwärtspieper, aber das Ding quäkt nach innen, es warnt den Fahrer! Beim Lastwagen jedoch piept die Höllenmaschine nach außen und soll den Fußgänger warnen: „Mach dich vom Acker, oder ich mangel dich über!“ Im Straßen­verkehr durchaus sinnvoll. Aber muss das auf einer Baustelle wirklich so laut sein, dass es noch 300 Meter weiter die Anwohner nervt? Die Bauarbeiter sind doch Profis, die genau wissen, wie gefährlich ein rückwärts fahrender Lastwagen ist!

Na gut, ich will nicht die Sicherheit der Bauarbeiter riskieren, aber könnte man dann vielleicht etwas weniger rückwärts fahren?

Schon gut, das wird jetzt langsam albern, ich geb’s zu. Dennoch … Könnte man nicht doch ein bisschen weniger rückwärts fahren? Bitte, nur ein bisschen? Ein ganz kleines …? Bitte …

Tagebucheintrag 75
Das Schweigedilemma

Es ist still geworden in Poppenbüttel. Gut, abgesehen von den piependen Rückwärtslastern und den seismografischen Erschütterungen durch die Dampfwalzen (das sind Bässe …!), aber ansonsten irgendwie still. Ich vermisse das Knistern heißblütiger Diskussionen, die Schimpfkanonaden, das Rechthaberei-Gezeter. Ich habe das Gefühl, dass die Leute sich ausgekotzt haben und nun ein wenig wie Boxer in den Seilen hängen. Was haben wir uns alles an den Kopf geschmissen: Rassisten! Nützliche Idioten! Traumtänzer! Besitzstandswahrer! Gutmenschen! Und, und, und. Jetzt begegnen wir uns etwas zerknautscht wieder und lächeln uns verlegen an, schämen uns ein bisschen für unsere verbalen Entgleisungen und stellen mit einer gewissen Wärme fest, dass wir alle nur Menschen sind, die Emotionen haben.

Was die Stille nach dem Sturm ein bisschen unheimlich macht, ist, dass wir es bisher bei dem verlegenen Lächeln belassen und uns noch nicht trauen, wieder miteinander zu reden. Das riecht ein bisschen nach Burgfrieden, nach Grabesstille. Ob das gesund ist? Oder ist es vielleicht sogar okay, es einfach mal gut sein zu lassen?

Tagebucheintrag 76 – Vertrauenssache

Spaziergang an der Baustelle (endlich kann ich sie so nennen). Wie ein waidwundes Reh liegt das Feld da, auf­geschlitzt von Baggern, die die späteren Straßen in die Krume gepflügt haben. Doch was ist das?! Eine der Baustraßen läuft gar nicht auf der in den Plänen vorgesehenen Trasse, sondern direkt in der 50-Meter-Schutzzone, die den Anwohnern versprochen wurde! Zack, mein Puls ist mal wieder auf 180. Was ist denn hier wieder los? Mein Verdacht: Die Straße wurde in die Schutzzone verlegt, um doch noch die Modulhäuser zusätzlich unterzubringen. Das Misstrauen sitzt tief.

Sofort nehme ich Kontakt mit meinen durch dieses Tagebuch entstandenen Gesprächspartnern bei der Stadt auf, um diese Irritation aufzuklären. Die Antwort ist beruhigend: Alles in Ordnung, die Baustraße auf der Schutzzone sei nur provisorisch, um die Versorgung der einzelnen Baufelder sicherzustellen. Eine rein bautechnische Maßnahme: Unter der späteren Wohnstraße werden zunächst die Leitungen für die Versorgung (Wasser, Telefon, Strom) verlegt, deshalb kann darauf erst einmal niemand fahren. Nach Fertigstellung der Häuser käme die dadurch nötige Baustraße wieder weg, und in der Schutzzone werde ein Park angelegt mit Wasserläufen, Bäumen, Wiesen und Spazierweg. Mir geht es wieder gut. Allerdings sage ich mir, dass die Stadt in puncto Transparenz noch etwas nachlegen könnte. Wie wäre es zum Beispiel, wenn eine so grundlegende Abweichung von der geplanten Straßenführung einfach mal mit einem Plakat direkt an der Baustelle erklärt wird? Damit gar nicht erst die Gerüchteküche in Poppenbüttel hochkocht. Einfach mal schreiben: „Ja, sieht jetzt blöd aus, dass die Straße planungswidrig nach rechts in den Grünstreifen abknickt, aber das hat bautechnische Gründe und wird später wieder aufgehoben.“ Fertig. Kleiner Vorschlag zur Güte.

Tagebucheintrag 77 – Stilkritik

Ich muss noch einmal auf meinen Wunsch eingehen, an der Diskussionskultur in Deutschland zu arbeiten. Einige haben mich nach meiner Leserbrief-Kritik vom letzten Mal als Mimose bezeichnet. Das mag stimmen, geht aber am Kern dessen vorbei, was ich sagen wollte. Mir geht es nicht um mich, auch wenn ich zugegebenermaßen schon etwas angefasst bin, wenn ich beleidigt werde. Aber sei’s drum. Ich wollte vielmehr ein Phänomen aufzeigen, das schlimme Gewohnheit in Deutschland geworden ist: Wenn man die Meinung des anderen nicht teilt, wird nicht versucht, diese durch Argumente zu widerlegen, sondern es wird versucht, den Sender der Meinung zu entmündigen. Und das funktioniert schon prima mit so harmlosen Worten wie „naiv“ und „rosig“. Die Meinung eines naiven Menschen muss man halt nicht mehr ernst nehmen. Eine „unbedachte“ Äußerung ist aus dem Rennen, weil der­jenige zu wenig nachgedacht hat. Das ist natürlich sehr angenehm, weil man dann nicht mehr über die Argumente des anderen im Detail nachdenken muss. Sie sind es schließlich nicht wert. „Nimm erst einmal die rosa Brille ab“, schrieb mir eine zornige Frau. Soll heißen: Alles, was ich sage, ist wertlos, weil ich angeblich diese pinke Sehhilfe trage?

Ich finde diesen Stil nicht dialogfördernd. Mit welchem Recht glaubt jemand, in den Kopf des anderen gucken zu können und definieren zu dürfen, ob eine Äußerung „unbedacht“, „naiv“ oder sogar „dumm“ ist? Das ist übergriffig und führt nur zu Trotz und Ablehnung. Lasst uns versuchen, in kon­troversen Diskussionen die Adjektive wegzulassen. Wir sind keine TV-Anwälte, die versuchen müssen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu untergraben. Niemanden interessiert, ob eine Meinung rosig, pink oder dunkellila ist. Es ist deutlich beeindruckender, diese Meinung mit Argumenten und Fakten zu widerlegen. Trauen wir uns doch selbst mal ein bisschen mehr zu.

Tagebucheintrag 78 – Wertminderung

Aus gesicherter Quelle habe ich gestern erfahren, dass zwei Wohnungen in direkter Nähe zu unserem Flüchtlingsfeld verkauft worden sind. Leider ist die Verkaufssumme unbekannt. Gab es nun einen Flüchtlingsabschlag oder nicht? Bisher kann man nur feststellen: Den von einigen prognostizierten Wertverlust von 100 Prozent scheint es nicht zu geben. Ich bin zugegebenermaßen sehr neugierig!

Tagebucheintrag 79 –
Das Ende der Trauerarbeit

Jetzt, wo die Bauarbeiten begonnen haben, gehe ich besonders oft an der Baustelle spazieren. Ich gebe zu, dass das Kind in mir die Bagger liebt. Ich kann mir auch stundenlang die Arbeiten in der HafenCity anschauen und war auch schon Baustellen-Tourist am Potsdamer Platz in Berlin. Ich bin Jan, der Schaumeister. Auf halbem Wege am Ex-Feld entlang treffe ich auf Gleich­gesinnte: Wie eine Horde Minions tobt eine Handvoll Krippenkinder den Feldweg hinauf und erfreut sich an den Baggern. Die dazugehörige Kindergärtnerin begrüßt mich mit den Worten, „traurig, oder?“ und zeigt auf das Feld. Traurig? Mmh. Ja, hier wird gerade die landwirtschaftliche Geschichte Poppenbüttels ausradiert, ich habe das Gefühl der Trauer auch schon oft an dieser Stelle thematisiert, aber in mir finden ihre Worte keinen Widerhall mehr. Ich bin nicht mehr traurig. Ich habe mich verändert. Ich war traurig über die Zerstörung des ländlichen Poppenbüttel, ich war zornig auf die Unberechenbarkeit der Stadtplaner, ich war unsicher in meiner politischen Haltung. Dieses fast schon ganze Jahr der Planung bis zum Baubeginn hat mich durch viele teilweise extreme Gefühle geschickt. Doch das scheint vorbei: Seit meiner verweigerten Unterschrift für die Volksinitiative zur Größenbegrenzung und seit Baubeginn habe ich mich gefunden. Ich kann jetzt ganz klar sagen: Ja, ich stehe zu den 1500 Flüchtlingen. Ich stehe zu der Methode von „Poppenbüttel hilft“, mögliche Probleme durch Anpacken zu verhindern: reingehen, kennenlernen, helfen. Ich stehe dazu, dass Deutschland seinen Teil zur Linderung des Elends in der Welt beiträgt und Poppenbüttel mit unseren 1500 Flüchtlingen eben auch. Ich finde mittlerweile: Mir geht es so saugut, da kann ich diese mögliche Verschlechterung meiner Lebensumstände aushalten. Dafür muss ich dann vielleicht als Ausgleich nicht vegan leben.

Tagebucheintrag 80 –
Seele essen Angst auf

Osterfeuer in Wohldorf. In der unmittelbaren Umgebung von Poppenbüttel werde ich natürlich mittlerweile immer wieder auf dieses Tagebuch angesprochen. Ich mag das, die Leute sind immer ausgesprochen warmherzig und sympathisch. Diesmal spricht mich eine Seele von Mann an, der eine führende Rolle in der Flüchtlingsinitiative in Ohlstedt spielt. Er dankt mir mit Tränen in den Augen für meine kleinen Zeilen und freut sich einfach nur, dass er in mir jemanden gefunden hat, der es sich auch nicht leicht gemacht hat mit dieser ganzen Geschichte, der versucht, in Worte zu fassen, was es mit einem Anwohner macht, wenn so etwas passiert. Er rührt mich sehr. Wir tauschen uns ein wenig darüber aus, wie schwierig diese ganze letzte Zeit war, und dann sagt er einen Satz, der mich tief beeindruckt: „Am Anfang“, sagt er, „habe ich große Angst gehabt. Das ist jetzt vorbei. Ich habe schlicht keine Angst mehr.“ Das ist es. Mir geht es genauso. Irgendetwas ist passiert: Auch ich habe keine Angst mehr.

Und nachdem ich am Ende des letzten Beitrags etwas eitel Bertolt Brecht parodiert habe („Endlich“, seufzte Herr M. und erbleichte), möchte ich diesmal jemanden zitieren, der vielleicht eher zu meinem kulturellen Background gehört: Die Macher von „Star Wars“ haben Meister Yoda einen Satz in den Mund gelegt, der wie kein zweiter in unsere derzeitige Welt passt: „Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass, und Hass führt zu unsäglichem Leid.“

Tagebucheintrag 81 – Marktplatz

Wir haben uns heute mal wieder mit unserem kleinen „Poppenbüttel hilft“-Sonnenschirm auf den Markt gestellt, um Präsenz zu zeigen und unseren Mit-Poppenbüttlern zu erklären, was und wer wir sind. Die Sonne scheint, es gibt ein großes Hallo beim Wiedersehen, und der Kaffee schmeckt wieder besonders gut. Man kennt sich mittlerweile, und die Laune ist prächtig. Wir kommen mit vielen Passanten ins Gespräch, erklären, diskutieren und informieren, so gut wir können.

Ganz so still, wie ich vor ein paar Tagen dachte, ist es in Poppenbüttel doch nicht geworden, aber sehr freundlich, ruhig und sachlich. Genau so soll es sein. Vielleicht spricht sich ja auch langsam herum, dass wir die Flüchtlinge nicht geholt haben. Wir haben auch nicht über die Zahl entschieden. Wir versuchen nur, mit den Gegebenheiten umzugehen. Wir wollen lediglich mit Deutschkursen, Sport, Hilfe bei Behördengängen und Ähnlichem bei der Integration helfen. Wir wollen die Flüchtlinge kennenlernen. Denn das Unbekannte macht Angst. Meister Yoda, Ihr Einsatz! (s. o.)