Serie: So baut Hamburg, Teil 6 In den 1970er-Jahren änderten sich die Sichtweisen radikal. Viertel, die eben noch abgerissen werden sollten, wurden behutsam saniert

Der renommierte Wiener Stadtplaner Wilhelm Kainrath nahm im Oktober 1981 kein Blatt vor den Mund. „Man kann das nur als anarchistischen Städtebau bezeichnen“, sagte er, als das Abendblatt ihn nach seiner Meinung über die Ost-West-Straße fragte. „Hier zählt der Mensch höchstens noch als Autofahrer. Für Anwohner und Fußgänger ist kein Raum mehr.“ Die großen Bürohäuser wiederum stünden so isoliert in der Landschaft herum, als hätten sie Berührungsängste mit der Umwelt. „Hier ist jegliche Individualität zerstört worden.“

Kainrath stand damit nicht allein. Seit Anfang der 1970er-Jahre klagten Stadtplaner und die öffentliche Meinung zunehmend über die Verödung von Hamburgs Innenstadt. Von einem „toten“ Stadtzentrum war die Rede, in dem nach Büroschluss die große Leere Einzug hält. Vorbei war der Jubel über Großsiedlungen, die noch wenige Jahre zuvor am Rande der Stadt wie Pilze aus dem Boden schossen. Die Idee, Wohnen und Arbeiten strikt zu trennen, verlor an Überzeugungskraft.

Mit dem am 27. Juli 1971 eingeführten Städtebauförderungsgesetz begann ein Paradigmenwechsel. Stadterneuerung in Deutschland habe sich von der „Flächensanierung“ in den 60er-Jahren hin zu einer „behutsamen oder einfachen Erneuerung“ gewandt, die den Erhalt der Innenstädte in den Mittelpunkt stellte, schreibt der Hamburger Architekturprofessor Peter Michelis.

Bürgerbeteiligung war damals für viele Politiker ein Graus

Zudem schuf das Gesetz die Voraussetzung dafür, dass die Anwohner in die Gestaltung ihres Umfelds einbezogen wurden. „Damals war für viele Politiker diese Regelung ein Graus, weil die Bürger beteiligt werden mussten“, erinnert sich Michelis, der in den 70erJahren in der Baubehörde arbeitete. Zugleich brachte das neue Gesetz „viel Geld von der Bundesregierung für die Modernisierung der Altbaugebiete in den Innenstädten“. Das war im Streit mit Hamburgs Finanzbehörde wichtig. Die ließ seinerzeit am liebsten alte Straßenzüge ganz abreißen und wollte die Grundstücke zu Geld machen.

In Hamburg erkannte Hans-Ulrich Klose, zwischen 1974 und 1981 Hamburgs Erster Bürgermeister, welche bedeutende Rolle dieses Gesetz für die Erneuerung der Innenstadt spielen konnte. „Hamburgs Städtebaupolitik hatte die City und die Stadtteile der inneren Stadt massiv vernachlässigt und stand daher vor einer Reihe grundsätzlich neuer Aufgaben“, schreibt Hamburgs ehemaliger Oberbaudirektor Egbert Kossak in seinem Buch „1100 Jahre Stadtbild Hamburg: Mythos. Wirklichkeit. Visionen“.

Unter der Vernachlässigung der Innenstadt litten vor allem Einzelhändler. Ihre Umsätze sanken, während die Besucher in die Landkreise rund um Hamburg strömten. Die Mönckebergstraße beispielsweise, die über Jahrzehnte Anziehungspunkt war, drohte ihren Status als Haupteinkaufsstraße der Hansestadt zu verlieren.

Allerdings ging es nicht nur um die Wiederbelebung der Innenstadt. Auch vernachlässigte „alte“ Viertel wie St. Georg, Teile der Neustadt, Ottensen, Altona Altstadt, St. Pauli und Eimsbüttel sollten – und mussten – aufgrund der inzwischen unhaltbaren Wohnbedingungen erneuert werden, schrieb Michelis. Schließlich ging es darum, die Viertel als Wohngebiete zu erhalten.

Die Stadterneuerung sei als ein „einheitlicher Gesamtprozess“ verstanden worden, heißt es bei Michelis. Der Architekturprofessor lenkt damit den Blick nicht nur auf das Schicksal alter Bauten, sondern auch auf die geplante Neubautätigkeit. Der Neubau ordnete sich in diesen „einheitlichen Gesamtprozess“ der Stadterneuerung ein.

Zwischen Anfang der 70er- und Ende der 90er-Jahre wurden im Rahmen der Stadterneuerung rund 150.000 der insgesamt 800.000 Wohnungen Hamburgs modernisiert. Zudem bezog die zuständige Baubehörde 37 spezielle Gebiete der Stadt mit 22.000 Wohnungen und 2750 Betriebe in die städtische Sanierung ein. Rund 1,8 Milliarden D-Mark wendete Hamburg für die „Stadterneuerung in kleinen Schritten“ auf. Nach ihren Angaben wurden dadurch Gesamtinvestitionen in Höhe von rund 3,8 Milliarden D-Mark ausgelöst. Als besonders erfolgreiche Projekte galten in jener Zeit das nördliche Schanzenviertel und die Holländische Reihe in Ottensen.

Die Baubehörde habe seit 1980 für die innere Stadt „zwei Arbeitsschwerpunkte“ verfolgt, schreibt Kossak. „Zum Ersten entwickelte sie ein Programm zur behutsamen Stadterneuerung für die historischen Vorstädte ... Zum Zweiten verfolgte sie einen weiteren Ausbau der westlichen City durch die umfassende Ergänzung des Passagenviertels.“

In der Innenstadt konnten die Stadtplaner auf eine enge Zusammenarbeit mit den Haus- und Grundeigentümern setzen. Diese erhofften sich durch eine nachhaltige Aufwertung ökonomische Vorteile. „Auf eine kurze Formel gebracht, setzte die Kaufmannschaft auf die Strategie: bessere Architektur = qualitätsvolleres Ambiente = größerer wirtschaftlicher Erfolg“, schreibt Kossak.

Nach Darstellung des ehemaligen Hamburger Oberbaudirektors trugen drei von 1985 an umgesetzte Maßnahmen entscheidend zur Revitalisierung der Innenstadt bei. „Zum Ersten der Umbau der Mönckebergstraße von einer Hauptverkehrsstraße zum Boulevard, der nur noch von Bussen und Taxis befahren werden darf, zum Zweiten der Rückbau des Glockengießerwalls zur Stärkung der Verbindung zwischen Hauptbahnhof und Spitalerstraße, zum Dritten ein verbindlicher Gestaltungsrahmen für Erdgeschoss und erstes Obergeschoss aller Geschäfts- und Kontorhäuser an der Mönckebergstraße und der Spitalerstraße.“

Damit einher ging eine Aufwertung der Straßen und Plätze. Der Jungfernstieg, der Neue Wall, der Gänse- sowie der Großneumarkt wurden wieder zu öffentlichen Plätzen, auf denen Menschen sich aufhielten.

Wie oben schon geschrieben, führte das Städtebauförderungsgesetz die Bürgerbeteiligung bei der Stadtplanung ein. In manchen Vierteln ging der Impuls für den Erhalt und die Erneuerung von deren Bewohnern aus. Das Karo­linenviertel stellt ein Paradebeispiel dafür dar. Die Stadt hatte das Viertel in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg dem Verfall preisgegeben und 1964 den Wettbewerb „Kongress- und Messezentrum Hamburg“ ausgelobt.

„Die Prämisse der Stadt Hamburg für diese Planung war der Totalabriss des gesamten Karolinenviertels und auch der Gnadenkirche für den Bau eines großen Kongresszentrums und die Erweiterung der Messe sowie des Justizforums“, sagte Volkwin Marg, der sich damals als junger Architekt an der Ausschreibung beteiligte, vor einiger Zeit dem Abendblatt. „An der Feldstraße war in diesem Zusammenhang eine Großsporthalle für 20.000 Zuschauer mit Mehrzwecknutzung vorgesehen.“

Über viele Jahre hatte die Stadt ihre Pläne vorbereitet und schon seit den 50er-Jahren Flächen und Häuser im Karoviertel erworben. Getan wurde nur das Allernotwendigste. Viele Häuser hatten die Toilette noch auf halber Treppe, Duschen waren die Ausnahme. Oft hatten die Mieter sie selbst eingebaut. „Als ich 1979 vom Lattenkamp hierher zog, war das ein krasser sozialer Abstieg“, berichtete Rolf Evers, der seit 36 Jahren an der Glashüttenstraße wohnt, im vergangenen Jahr dem Abendblatt. „Im Sommer roch das Viertel damals nach toten Tieren, weil deren Knochen auf dem Gelände des Schlachthofs in offenen Containern gelagert wurden.“

7000 Menschen lebten zu der Zeit im Karoviertel. Die Planer zählten fast 450 Gebäude mit 3000 Wohnungen. 90 Prozent der Bauten stammten aus dem 19. Jahrhundert. Punks, die lärmend feierten, gab es genauso wie eine bedrohliche Motorradgang. Kaum einer zog freiwillig in das Viertel, und wer die Möglichkeit hatte, zog weg. Jene, die blieben, wollten sich Anfang der 80er-Jahre mit dem Status quo nicht mehr abfinden. Damals wurde der Widerstand gegen den Verfall geboren. Es kam zu ersten Hausbesetzungen.

Als man sich im Rathaus endgültig von den Plänen, das Karoviertel zugunsten der Messe abzureißen, verabschiedete, stellte sich die Frage, wie mit dem Quartier umgehen? Am 26. April 1988 beschloss der Senat die Stadterneuerung. Um den Prozess mit den Anwohner besser moderieren zu können, wurde im Jahr darauf eigens die Stadtentwicklungsgesellschaft Steg gegründet. Doch das Misstrauen der Einwohner war groß. „Jahrelang wollte die uns aus den Wohnungen raushaben, und nun sollte plötzlich alles anders sein“, erzählt Rolf Evers. Viele fürchteten vor allem, dass Sanierung und Aufwertung des Viertels die bis dahin niedrigen Mieten in die Höhe treiben und Spekulanten anziehen könnten.

Heute gilt das Karolinenviertel als gelungenes Beispiel der Erneuerung in kleinen Schritten. Bis zu 200 Millionen Euro an öffentlichen und privaten Mitteln dürften in den vergangenen 25 Jahren in das Viertel geflossen sein. Die Kehrseite war ein Prozess, der inzwischen als Gentrifizierung bekannt ist. Vor allem sanierte Gründerzeitbauten wurden immer begehrter. „Trotz vieler Bindungen bei der Vergabe öffentlicher Fördermittel“ habe ein deutlicher Mietanstieg nicht verhindert werden können, schreibt Kossak. Beispiele dafür sind St. Georg, St. Pauli, das Schanzenviertel und Ottensen.

Südländisches Flair lockt heute in das ehemalige Sanierungsgebiet

Dabei traf es in erster Linie Menschen, die oftmals seit vielen Jahren in den seinerzeit noch heruntergekommenen Vierteln lebten und die nicht über ein hohes Einkommen verfügten. Sie konnten sich oftmals die Miete nicht mehr leisten. Als Folge des Zuzugs von sogenannten young urban Professionals entstand zudem eine neue Gewerbestruktur. Alteingesessene, schon seit vielen Jahrzehnten existierende Geschäfte mussten – zumeist aufgrund deutlicher Mieterhöhungen – Gaststätten, Fast-Food-Läden und Boutiquen weichen, schreibt Kossak.

Das diente durchaus der Revitalisierung der Innenstadt und der stadtnahen Viertel. Wer heute an einem lauen Sommerabend durch das Schanzenviertel streift, erlebt südländisches Flair. Viele Gaststätteninhaber nutzen ganz selbstverständlich die Fläche vor ihrem Geschäft und stellen Tische sowie Stühle auf.

Kossak zieht daher eine gemischte Bilanz der Stadterneuerungspolitik zwischen 1980 und 2000. „Die Sanierung war meist teurer als geplant und ihr Ergebnis weniger sozial als beabsichtigt.“ Allerdings habe sie „das Erlebnis der Stadt, das Image und das Stadtbild der inneren Stadt ganz wesentlich im positiven Sinn neu bestimmt und mit vielfältigem Leben erfüllt. Eppendorf, Winterhude und Eimsbüttel prägen heute das Image Hamburgs als lebenswerte Stadt.“

Und so kommt Kossak zu dem Schluss, dass die Stadterneuerung das Image Hamburgs weitaus stärker zum Positiven gewendet habe als alle seit 1950 entstandenen Wohnquartiere und Großsiedlungen in den Außenbezirken. „So haben sich letztlich die Sanierungskosten auch wirtschaftlich ausgezahlt.“