Gleich zwei seiner Projekte wurden für einen Echo nominiert, im April wollte er wieder Konzerte geben. Jetzt starb Roger Cicero mit 45 Jahren an einem Hirninfarkt. Familie und Fans stehen unter Schock

Das sang Roger Cicero 2007: „Ich hätt’ so gern noch Tschüss gesagt, noch einen letzten Song mit dir gemacht, zwei Händevoll Jazz am Klavier“. Dabei dachte er an seinen zehn Jahre zuvor gestorbenen Vater Eugen Cicero. Nun sind es Roger Ciceros Freunde, Familie, sein 2008 geborener Sohn Louis, die gern noch Tschüs gesagt hätten. Einen Song zusammen gespielt. Am 18. März war Roger Cicero, der in Hamburg lebte, noch live in der „Abendschau“ des Bayerischen Rundfunks zu erleben, einen Tag später traten akute neurologische Symptome infolge eines Hirninfarktes auf. In der Klinik verschlechterte sich sein Zustand rapide, am 24. März starb Cicero im Alter von 45 Jahren in einem Hamburger Krankenhaus, wie am gestrigen Dienstag bekannt wurde.

„Ich habe schon so viel Verrücktes in meinem Leben getan, und nichts davon möchte ich über Bord werfen, denn es hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Ich bereue nichts. Dennoch ist es nun an der Zeit, neue Wege zu gehen“, erzählte Roger Cicero fast auf den Tag genau vor zwei Jahren im Interview mit dem Abendblatt. Er hatte viele Ideen, wollte Neues ausprobieren. Das mag überzogen klingen bei einem Jazzmusiker, jenem Genre, in dem man mit 43 noch zu den jungen Talenten zählt. Aber für ihn galten andere Maßstäbe, er hatte schon 2014 so viel von der Welt der Musik gesehen und gehört wie wenige in seinem Alter.

Schon direkt nach seiner Geburt am 6. Juli 1970 in Berlin schaute er dem Jazz im Wortsinn in die Augen. Vater Eugen, ein lebenslustiger Exilrumäne, war ein international renommierter Klassik- und Jazzpianist, der seinem Sohn den Weg der erfolgreichen Mischung aus anspruchsvollem Jazz und unterhaltsamem Pop-Appeal vorzeichnete.

Mutter Lili war Tänzerin, Musiker gingen daheim in Berlin ein und aus. Schon mit fünf Monaten lag Roger im Arm von Josephine Baker — und spuckte ihr in den Ausschnitt. Die Konzerte seines Vaters durfte er noch nicht verfolgen, später als kleiner Junge langweilten sie ihn, und er spielte lieber Eisenbahn.

Er liebte Ray Charles, Al Green, Stevie Wonder, Prince, Frank Sinatra

Aber die Gene bekamen ihn doch noch in den Griff. Als Teenager sang er in Begleitung des Rias Tanzorchesters, für das auch Eugen Cicero einst spielte. Und während seine Altersgenossen das Musikmachen beim Akkordschrubben in muffigen Kellerlöchern erlernten, durchlief Roger akademisches Feintuning an Gesang, Klavier und Gitarre am Hohner-Konservatorium in Trossingen, im Bundesjugendjazzorchester und — Joja Wendt war sein Kommilitone — an der Amsterdamse Hogeschool voor de Kunsten in Hilversum.

Cicero liebte Ray Charles, Al Green, Stevie Wonder, Prince, Jeff Buck­ley, Frank Sinatra. Große Stimmen, die groovten, egal ob sie Soul, Jazz, Funk, Pop oder Swing interpretierten. Künstler, die sich nichts vorschreiben ließen.

Wenn Ray Charles Country spielen wollte, dann spielte er Country. Aus voller Seele. Cicero sang als Twen aus vollster Seele in den Groove-Pop-Ensembles Jazzkantine, Soulounge und After Hours, aber sein Traum, den er verfolgte, war im Wortsinn in Deutschland lange Zeit unerhört, bis Cicero ihn verwirklichte.

Big Band! Bigband. Das große Besteck. Fette Bläser, Schlagzeug-Besen, die über gespannte Häute streicheln wie sanfte Hände über Körper. Breit ausgerollte Klangteppiche, auf denen Gitarren, Streicher und Piano zusammen lümmeln. Showtreppensound, der einen begleitet beim Hinabtänzeln vor der Begrüßung des Publikums. Jazz und Swing der 40er- und 50er-Jahre, Easy Listening und Disco der 60er- und 70er-Jahre, kombiniert mit modernen Pop-Einflüssen und deutschen Texten. Klassisch, nicht muffig. Das wollte Cicero, lange bevor Robbie Williams 2001 mit „Swing When You’re Winning“ klarmachte, dass Weill und Vegas immer noch cool sind.

Es dauerte zwar, bis Cicero alle Komponenten beisammenhatte, aber das Album „Männersachen“ katapultierte ihn 2006 aus dem Stand auf den dritten Platz der deutschen Charts. Eugen Cicero wurde „Der Mann mit den goldenen Händen“ genannt, und auch sein Sohn hatte ein goldenes Händchen für den richtigen Sound zur richtigen Zeit. Hände, die übrigens auch gern gaben, zum Beispiel für Projekte der Kinderhilfsorganisation Save the Children in Rumänien.

2006 war er also da. Der Typ, der immer Hut trug, ganz einfach, weil er ihm stand. Mal charmant, mal salopp, mal kackfrech war Cicero der „Fachmann in Sachen Anna“, der forderte: „Zieh die Schuhe aus.“ Um sich dann zu wundern: „Ich Idiot ließ dich gehen.“

Ein liebenswerter Macho-Trottel, oder auch die männliche Antwort auf Annett Louisan, Barbara Schöneberger und Ina Müller. Alleine gegen drei, aber so war es ja nicht. Mit den Sängerinnen teilte er nicht nur die Vorliebe für Retro-Sound und Lieder über Beziehungskisten und das schöne Scheitern daran, sondern auch Texter Frank Ramond, der sich die pointierten Verse für Ciceros Kompositionen einfallen ließ. Drei weitere Alben, „Beziehungsweise“ (2007), „Artgerecht“ und „In diesem Moment“ (2011), wurden mit Platin oder Gold überzogen, dazu kommen über die Jahre Echo, Goldene Stimmgabel, Deutscher Fernsehpreis (als Teil von „Sing meinen Song — das Tauschkonzert“), „Hutträger des Jahres“ und der „Pascha des Monats“ der Frauenzeitschrift „Emma“. Den Damen war Ciceros Lied für den Eurovision Song Contest 2007 sauer aufgestoßen: „Ein lasziver Blick, und schon ändert sich deine Politik. Kein Boss und kein Actionheld, kein Staat und kein Mafiageld — Frauen regier’n die Welt“, sang er beim ESC in Helsinki. Platz 19 von 24.

Doch gerade, als man sich an Ciceros Spiel des ironischen Swingmachos gewöhnte, lernte man, dass auch dieser vermeintlich unerschütterliche, optimistische, bei Konzerten bestens aufgelegte Künstler privat an seine Grenzen kam. Sein letztes Studioalbum „Was immer auch kommt“ zeigte ihn vor zwei Jahren von einer ganz anderen Seite. Reduzierter Sound statt Bigband-Wucht, persönliche, melancholische Texte über das Ende seiner Beziehung, über Selbstzweifel und Krisen. Und den Aufbruch mit neuer Hoffnung: „Denn wenn es morgen schon zu Ende wär’, ein Schritt zu viel im Stadtverkehr, dann leb ich vielleicht heute, nur ’n kleines bisschen mehr.“

Cicero war vor allem Musiker und Bandleader, ein Teamworker

Offen gab Cicero zu, dass dieses Album das erste war, das er vor allem für sich aufgenommen hat, statt den Fans das gewünschte Übliche zu liefern: „Es wird Fans geben, die es bereichern wird, und es wird welche geben, denen es gar nichts sagt. Aber darüber sollte man sich nicht viele Gedanken machen. Denn es ist genauso riskant, immer seinen gleichen Striemen zu fahren, wie etwas auszuprobieren.“

Cicero schaffte beides: seinen Striemen zu fahren und etwas auszuprobieren.

Mit der Roger Cicero Jazz Experience spielte er in kleiner Formation auf kleineren Bühnen ausgesuchte Jazz-Lieblinge und Raritäten, mit der Show „Roger Cicero plays Sinatra“ hingegen fuhr er letztes Jahr im Hamburger Mehr! Theater und auf der Deutschland-Tour groß auf. Ein Abend im Geiste und mit den Liedern von Frank Sinatra. Der 100. Geburtstag von Ciceros Idol wurde mit Gaststars üppig gefeiert. Big Band. „Das in den Soul schwenkende Finale ist purer Flitter, der nur noch aufgefegt werden muss. Das besorgen alle zusammen: Roger Cicero und Band, Sasha, Xavier Naidoo und Yvonne Catterfeld. Das Rat Pack und das Mäuschen“, schrieb das Abendblatt über die Premiere. An diesem Abend, gerade im Vergleich mit extrovertierten Rampensäuen wie Sa­sha und Naidoo, merkte man am besten, dass Cicero vor allem Musiker und Bandleader, ein Teamworker war und die Alphatier-Nummer seiner ersten Alben eben nur eine Nummer. Eine erfolgreiche allerdings, die ihm den Weg geebnet hat, den Pop-Mainstream durch die Hintertür vertrauter mit anspruchsvollem Jazz und Swing zu machen. Die „Roger Cicero sings Sinatra“-Tour verkaufte sich hervorragend, aber im November 2015 musste sie unterbrochen werden. Erschöpfungssyndrom mit Verdacht auf Herzmuskelentzündung. Zuletzt zeigte sich Yoga-Fan Cicero, der weder rauchte noch trank und als Barista höchstens teure Kaffees als Laster hatte, wieder topfit.

Am 12. April wollte er wieder Sinatra im Mehr! Theater singen, die letztjährige Show wurde auf CD und DVD veröffentlicht und genauso wie das Live-Album „The Roger Cicero Jazz Experience“ für die Echo-Verleihung am 7. April nominiert. Gesundheitlich sei „alles wieder gut“, sagte er bei seinem letzten Auftritt in der „Abendschau“ und sang: „The Best Is Yet To Come“. Das Beste kommt noch. Dann ging er.

Die Nachrufe im TV und im Radio enden nun oft mit einem anderen Song. Dem einzig möglichen. Weil es so sein muss. Weil es dem Entertainer gebührt wie auch dem Menschen Roger Cicero. Das Lied, das seine Sinatra-Shows beschloss. Darin heißt es: „Ich habe ein erfülltes Leben gelebt. Ich habe so ziemlich jede Erfahrung gemacht. Und mehr, viel mehr als das: Ich hab’s auf meine Art getan.“ Roger Cicero hat es für uns getan. Auf seine Art. „My Way.“

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