Serie Wie Hamburg baut. Der Wiederaufbau stand unter dem Eindruck des Krieges und war getrieben vom Wunsch, Neues zu schaffen. Doch zugleich zerstörte er, was Gomorrha übrig gelassen hatte. Von Matthias Iken

Zumindest das blieb Hamburg erspart: ein Häuserkampf, der die Stadt vollends zerstört hätte. Am 3. Mai wird Deutschlands zweitgrößte Metropole kampflos den Briten übergeben – doch Hamburg gleicht einem Trümmerfeld. Nur noch eine Million Menschen lebt in der Stadt, die weitgehend zerstört ist. Der Feuersturm des Sommers 1943 hat ganze Stadtteile ausradiert, doch auch in anderen Vierteln sind viele Häuser schwer beschädigt – insgesamt gelten 40 Prozent der Gebäude als total zerstört, weitere 40 Prozent als leicht bis schwer. Es mangelt an allem. Und die moralischen Verheerungen, die Mitverantwortung für den Völkermord, machen aus dem totalen Krieg die totale Niederlage. Die Stunde null ist der Begriff für den totalen Bruch mit der Vergangenheit. Und das galt nicht nur politisch oder kulturell, sondern auch für die Architektur.

„Man wollte einen Neuanfang“, sagt Hamburgs Oberbaudirektor Jörn Walter. „Man wollte mit allem, was davor war im Dritten Reich nichts mehr zu tun haben.“ Die Architekten machten sich auf die Suche nach einer neuen und unverdorbenen Architektur – in der jüngeren deutschen Geschichte wurden sie allenfalls beim Bauhaus fündig. Die Weimarer Republik war ansonsten wegen ihrer vielen Krisen noch frisch und negativ behaftet im kollektiven Gedächtnis, der Faschismus völlig diskreditiert. „Da haben viele ins Ausland geschaut und sich dort ihre Vorbilder geholt“, sagt Walter: Der helle Stein etwa stammt aus Dänemark und fand nicht nur bei den Grindelhochhäusern, sondern auch im Wohnungsbau der 50er-Jahre häufig Verwendung. Es war auch eine bewusste Absetzbewegung weg vom roten, schweren, dunklen Klinker, der Aufbruch in eine lichtere Zukunft.

Die Grindelhochhäuser, deren Bau schon 1946 begann, wurden zum Wahrzeichen der neuen Zeit: Ihre Architektur mit dem zurückspringenden Dachgeschoss und der offenen Bauform im Grünen, ihre Ausstattung mit Müllschluckern, Zentralheizung und Tiefgaragen standen für eine amerikanische Moderne. Die Architekten galten als unbelastet und wollten sich ausdrücklich vom Faschismus absetzen: hell, licht, leicht – und mit den farblich abgestimmten Markisen fast heiter. Bis 1956 wuchsen zwölf Hochhäuser in Eimsbüttels Himmel. Ursprünglich wollten die Briten dort am Grindelberg ihr Hauptquartier aufschlagen – als die Wahl aber auf Frankfurt fiel, übernahm die Saga das Projekt, um Wohnraum zu schaffen. In den acht- bis 15-geschossigen Hochhäusern entstanden 2122 Wohnungen für rund 5400 Einwohner, das Bezirksamt Eimsbüttel, das Postscheckamt und ein Bürogebäude. Der ehemalige Oberbaudirektor Egbert Kossak lobt das Ensemble als „die bedeutendste städtebauliche und architektonische Leistung des ersten Nachkriegsjahrzehnts.“

Bei Neubausiedlungen folgte Hamburg dem Tabula-rasa-Prinzip

Die einzigen Hochhäuser blieben es nicht. Der Generalbebauungsplan von 1941 wurde rasch wieder aus den Schubladen gezogen und umgesetzt. Er sah – auch eingedenk des Bomben­krieges – eine aufgelockerte Stadtlandschaft mit Hochhausscheiben, Grünzügen und breiten Straßen vor – die autogerechte Stadt. Sie bricht radikal mit der Geschichte der europäischen Stadt. Die Ost-West-Straße, die die historisch gewachsene Innenstadt als Schneise zerteilt und die Hafenkante abtrennt, ist das deutlichste Denkmal dieser Zeit.

Ganz Neu-Altona atmet den Abschied von der Geschichte: Ernst May, Leiter der Planungsabteilung der Neuen Heimat, und Oberbaudirektor Werner Hebebrand wollten hier ein Modell für die Neuordnung der Stadtteile schaffen: In der Altstadt von Altona waren bis zu zwei Drittel der Gebäude zerstört worden, den Rest erledigten die Planer. Grundstücke wurden neu zugeschnitten, Hochhäuser in die Grünzüge gestellt, dem Auto breite Schneisen geschlagen. St. Pauli und Altona wirken seither wie getrennt, der Modellstadtteil von einst wirkt heute wie eine Abbruchkante.

Allerdings folgte Hamburg dem Tabula-rasa-Prinzip nur bei Neubausiedlungen, der Wiederaufbau mehr oder weniger zerstörter Quartiere etwa in Barmbek, Hamm oder Horn orientierte sich an der alten Struktur.

Oberbaudirektor Walter sieht im Wiederaufbau zwei Unterperioden: In der ersten Phase, den 50er-Jahren, baute die Stadt viele schöne und luftige Siedlungen etwa in Farmsen, meist Zweizimmerwohnungen, helle Klinker, Satteldach. „Aber schnell haben die Verantwortlichen gemerkt: Wir schaffen es mit diesen Typologien nicht, den Bedarf zu decken.“ Die Stadt hatte nicht nur im Krieg über die Hälfte der Wohnungen verloren, sondern musste auch einen permanenten Zuzug verkraften: Vertriebene, Kriegsgefangene und Übersiedler drängten in die Stadt.

Lebte im Mai 1945 nur gut eine Million Menschen in Hamburg, stieg die Zahl bis Ende 1945 auf 1,35 Millionen – bis zu 6000 Menschen strömten täglich in die Stadt. „Schließlich setzte man – wie auch im europäischen Ausland – auf den Plattenbau, auf standardisiertes Bauen und höhere Dichten, um kostengünstig schnell Wohnraum zu schaffen.“

Das Ergebnis waren Großwohnsiedlungen und Trabantenstädte, die schon bald auf massive Kritik stießen. Daran änderte auch nichts, dass häufig internationale Stararchitekten sich in Hamburg versuchen durften. „Die haben sich schon angestrengt“, sagt Walter. Auch moderne Formen wie Wohngemeinschaften sollten hier ihren Platz finden. Im Block 6 in Steilshoop fanden sich Gleichgesinnte zum Experiment Modell Steilshoop zusammen (siehe Kasten rechts).

Die politisch Verantwortlichen verweisen auf die damalige Wohnungsnot

Allein, sie alle scheiterten an der schieren Größe der Wohnsilos. 1965 veröffentlichte der Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich ein Essay, das den Konsens zertrümmerte. In seinem 200.000-fach verkauften Büchlein „Die Unwirtlichkeit der Städte“ prangerte er verheerende Städte an, die wie Prägestöcke wirken würden. Nicht minder kritisch, aber konservativer las sich Wolf Jobst Siedlers Streitschrift gegen „Die gemordete Stadt“ von 1964.

Trotzdem wurde weiter an den Großsiedlungen in Steilshoop (1969– 1975), Osdorfer Born (1967–1972) und Mümmelmannsberg (1970–1979) gewerkelt. Bis zu 20 Stockwerke über­ragen die Hochhäuser den Maßstab der Stadt. Abgehängt bleiben zumindest Steilshoop und der Osdorfer Born bis heute – die versprochenen U-Bahn-Anschlüsse kassierte 1974 der damalige Bürgermeister Hans-Ulrich Klose. Nun sollen sie angeschlossen werden – Ende der 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts.

Die Schärfe der heutigen Kritik an den Planern der Nachkriegszeit klingt in den Ohren der damals politisch Handelnden unfair bis überzogen. Sie verweisen auf die enorme Wohnungsnot, die bis weit in die 70er-Jahre herrschte.

Zwischen 1946 und 1959 entstanden in der Hansestadt 250.000 Wohnungen. Ein Aufbrechen der alten Bebauungsmuster war zudem eine Forderung, die auch viele Mediziner erhoben. „In vielen Baublöcken der Zeit der Industrialisierung waren die Häuser derart dicht aneinandergebaut, Innenhöfe so eng bebaut, dass weder Licht noch Sonne in die Wohnungen gelangen konnte, die Feuerwehr nicht herankam, Grün total fehlte und die Bewohner sich in einigen dieser Quartiere aus ihren gegenüber liegenden Räumen aus dem Fenster die Hände reichen konnten“, beschrieb der damalige Ober­baudirektor Klaus Müller-Ibold die Sichtweise der Zeit. „Die Mediziner wiesen nach, dass derartige Bebauung gesundheitsgefährdend sei, besonders Schwindsucht und Tuberkulose förderte.“ Doch schon sein Nachfolger Kossak stellte die Frage, „warum es den Planern der 1950er- und 1960er-Jahre überhaupt nicht in den Sinn kam, sich an den Vorbildern aus der Schumacher-Ära ... zu orientieren.“

Der Strukturwandel baute die Innenstädte um – große Fabrikhallen, die Hamburger heute als Kulturzentren wie Zeise oder Kampnagel schätzen, verloren ihre eigentliche Funktion, während immer mehr Büroarbeitsplätze entstanden. Es war die große Zeit der Dienstleister, der Banken, der Versicherungen. Für die Kapitalen des Landes gab es angesichts des sprunghaft wachsenden Raumbedarfs nur zwei Möglichkeiten: wie Frankfurt in die Höhe zu wachsen oder Sondergebiete am Rande der Stadt auszuweisen.

Die Hamburger entschieden sich 1959 für eine „Bürostadt im Grünen“ unweit des Stadtparks. Das später etwas irreführend in City Nord umbenannte Viertel galt zunächst als städtebauliches Meisterwerk – auch weil internationale Größen wie Arne Jacobsen oder Gerkan, Marg und Partner Entwürfe lieferten. „Hier haben gute Architekten gute Häuser gebaut, man sieht es. Die technische Perfektion der Konstruktion und der Ausstattungen ist wie an Jahresringen ablesbar“, hieß es 1977 in der Zeitschrift „Bauwelt“.

Das neue Denken kam mit jungen Architekten in die Behörde

Die Monostruktur des Quartiers aber entpuppte sich bald als massives Problem, die Großbauten wirken wie Ufos aus verschiedenen Galaxien, die neben dem Stadtpark gestrandet schienen. Nun soll der Wohnungsbau in der alten City Nord die einst gewollte Funktionstrennung aufbrechen.

Allerdings gab es in der Nachkriegszeit noch viel weitergehende Planunge­n, welche die Stadt entstellt hätten: Das heute sehr beliebte, damals aber heruntergekommene Gründerzeitquartier Ottensen sollte für die City West inklusive Autobahnzubringer fallen, an der Stelle von St. Georg das gigantische Alsterzentrum bis zu 200 Meter in die Höhe wachsen. Das Ka­roviertel sollte der Messeerweiterung weichen, zwischen Großneumarkt und Kaiser-Wilhelm-Straße sollten für eine neue Druckerei des Verlags Axel Springer ganze Straßenzüge abgerissen werden.

Doch diese Großprojekte stießen bald nach ihrer Präsentation an ihre politischen wie finanziellen Grenzen. Fortan zählten nicht allein die Ziele der Finanzbehörde, ein Maximum zu erlösen, sondern auch die Interessen der Bewohner. Hausbesetzer, Studenten, Architekten aber auch alteingesessene Bürger wehrten sich gegen die Planungsmonster vom Zeichentisch und verhinderten damit die vollständige zweite Zerstörung Hamburgs.

„Das war eine langwierige Auseinandersetzung“, erinnert sich Prof. Peter Michelis, der 1970 in das Hamburger Amt für Stadterneuerung kam. „Die Baubehörde war bis Anfang der 70er-Jahre desinteressiert und sehr technokratisch geprägt. Das neue Denken kam mit jungen Architekten in die Behörde“, sagt Michelis, der heute Vorsitzender der Gustav-Oelsner-Gesellschaft ist. Die sozialliberale Koalition in Bonn schuf 1971 mit der Städtebauförderung dann den gesetzlichen Rahmen für die Sanierung alter Viertel.

Langsam, aber unaufhaltsam hielt ein neuer Geist Einzug in Hamburg: Die Abrissbagger hatten Pause, die „behutsame Stadterneuerung“ begann.