Wie Hamburg baut. Serie,Teil 2. Nach der Einigung des Deutschen Reichs wächst die Hansestadt stürmisch. Ganze Stadtteile entstehen neu, nach der Cholera-Epidemie werden die Gängeviertel abgerissen. Von Oliver Schirg

Es war die Zeit der Bevölkerungsexplosion. Allein zwischen 1880 und 1890 wuchs die Zahl von Hamburgs Einwohnern um 200.000 auf 650.000. Im Jahr 1912 übersprang die Hansestadt die Millionengrenze. „Im 1871 gegründeten Kaiserreich boomte die Wirtschaft, Deutschland erlebte seine ‚Gründerzeit‘“, schreibt der Architekturhistoriker Jan Lubitz in seinem Buch „Die Mönckebergstraße – Hamburgs Weg zur Großstadt“.

Als Gründerzeit wird im weiteren Sinne eine Phase der Wirtschaftsgeschichte im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts bezeichnet, die mit der breiten Industrialisierung einsetzte. In der Architektur spricht man vom Historismus. Bei der Errichtung der Gebäude wurde seinerzeit auf ältere Stilrichtungen zurückgegriffen. Gelegentlich wurden auch mehrere Stile in einem Bau gemischt.

Allerdings dauerte es zunächst etwas, bis die neue Zeit der Industrialisierung sich auf das Gesicht Hamburgs auswirkte. „So startete Hamburg erst mit der Einweihung der Speicherstadt 1888 durch Kaiser Wilhelm II. in eine große Epoche der Stadtentwicklung, die das Stadtbild noch einmal ganz grundsätzlich verändern sollte“, schreibt Hamburgs ehemaliger Oberbaudirektor Egbert Kossak in seinem Buch „1100 Jahre Stadtbild Hamburg: Mythos. Wirklichkeit. Visionen.“

In der Gestaltung Hamburgs hinterließ die Gründerzeit eine tiefe Spur. „Innerhalb weniger Jahre entwickelt sich die alte Kaufmannsstadt zu einer modernen Metropole“, schreibt Lubitz und spricht von „Citybildung“, die eine bauliche und eine soziale Komponente kennzeichnete. „Die angestammte Wohnbevölkerung der Innenstadt, die hauptsächlich aus Arbeitern bestand, wurde an die Stadtränder verdrängt.“ Sie wurden in neue Stadtteile wie Eimsbüttel, Barmbek oder Hammerbrook vertrieben.

Die Aufhebung der Torsperre 1861 – auch wenn die Gründerzeit noch keine Fahrt aufgenommen hatte – war eine wesentlich Voraussetzung für die Entwicklung der Hansestadt. Bis dahin hatten sich ihre Bewohner, vor allem die armen Schichten, in größter Enge – Kossak schreibt von übervölkerten Elendsquartieren – in den Gängevierteln rund um die Hauptkirchen St. Michaelis und St. Jacobi gedrängt.

Die Bedingungen mitten der Stadt waren erbärmlich. Der berühmte Bakteriologe Robert Koch sagte im Herbst 1892 nach einem Besuch: „Meine Herren, ich vergesse, dass ich in Europa bin!“ Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie in den sogenannten Gängevierteln.“ Der Grund seiner Reise: In der Innenstadt wütete die Cholera – 8605 Hamburger kamen ums Leben. Erst danach wurde eine moderne Wasserversorgung mit Trinkwasserfil-tration zum Standard.

Wer heute durch die Steinstraße oder die Spitalerstraße spaziert und die mächtigen Büro- und Kontorhäuser betrachtet, kann sich nicht vorstellen, dass hier einst Fachwerkhäuser mit labyrinthartigen Hinterhöfen, Torwegen und schmalen Gängen vorherrschten. Ein Grund dafür, dass es dieses Gängeviertel heute nicht mehr gibt, war der Bau der Mönckebergstraße.

Nachdem das Neue Rathaus 1897 und der Hauptbahnhof 1906 – Lubitz bezeichnet sie „Paukenschläge des Werdens der modernen City“ – fertig- gestellt waren, wurde das Gebiet zwischen diesen beiden Gebäuden mehr und mehr „zum Brennpunkt des neuen Hamburger Lebens“, wie Hamburgs legendärer Oberbaudirektor Fritz Schumacher rückblickend im Jahr 1922 schrieb.

„Das Gewirr kleiner Gassen, das sich zwischen diesen beiden Punkten ausbreitete, war auf die Dauer unhaltbar. So war es nach Vollendung des Hauptbahnhofs eine natürliche Folge, dass man beschloss, diesen Verkehrsmittelpunkt und das Rathaus mittels eines größeren Straßendurchbruchs zu verbinden.“ Der Hamburger Architekturprofessor Dirk Schubert bezeichnete die Mönckebergstraße in einem Essay als „international und heimatlich zugleich“ und spricht von einer „Weltstadtstraße“.

Dort, wo bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zumeist billige und elende Wohnungen standen, sahen die Stadtplaner von Anfang an Kontorhäuser und Verwaltungsbauten vor. Sie hatten erkannt, dass die mittelalterlichen Strukturen innerhalb von Hamburgs Stadtmauern die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Stadt hemmten. An kaum einem Ort wie in den Vierteln rund um die Mönckebergstraße ist daher der durch die Gründerzeit ausgelöste Wandel so deutlich zu erkennen.

Nach den Worten von Hamburgs Oberbaudirektor Jörn Walter bestimmte in jener Zeit die Funktion des jeweiligen Gebäudes, in welchem Stil es errichtet wurde. Die Neogotik beispielsweise sei den Kirchen vorbehalten gewesen, die Neorenaissance dem Hamburger Rathaus. Industrielle und gewerbliche Bauten waren meist im „englischen Tudorstil“ (mit unverputzten Backsteinfassaden) gehalten. Die Speicherstadt oder das Unternehmensgebäude von Beiersdorf legen davon Zeugnis ab.

Vor allem aber entstanden in jener Zeit prächtige Kontorhäuser. Direkt am Rathausmarkt, rechter Hand für jene, die aus dem Rathaus treten, ist das Versmann-Haus zu entdecken. Das Eckgebäude wurde zwischen 1910 und 1912 als Kontorhaus mit Geschäften, einem Café und Restaurant erbaut. Wer daran entlang spaziert, dem fällt vor allem der mächtige Durchgang auf, wo einst die Knochenhauertwiete entlang führte.

Ein paar Seitenstraßen weiter, südwestlich der Trostbrücke am Nikolai­fleet gelegen, steht ein weiteres Kontorhaus, das den Geist der Gründerzeit atmet: der Laeiszhof. Es wurde 1897/98 für die Firma F. Laeisz erbaut, deren Segelschiffe wie die Peking, Passat oder Preußen seinerzeit als die weltweit schnellsten galten. Die Gestaltung der Fassade und der Innenräume sollte auch den Erfolg des Handelshauses demonstrieren.

Es war ein Glücksfall, dass Hamburgs berühmter Architekt Martin Haller unter Mitarbeit von Bernhard Hanssen und Emil Meerwein das Gebäude entwarf. Schließlich hatte Haller Ende der 1880er Jahre mit dem Dovenhof den Prototyp eines Hamburger Kontorhauses entworfen. Ein Gebäude, das durch seine Funktionalität bestach und mit einer Hauspost, einer elektrischen Lichtzentrale, einer zentralen Sanitär- und Heizungsanlage sowie einem Paternoster-Personen-Aufzug ausgestattet wurde.

Was den Wohnungsbau in jener Zeit anging, so zeichnete dieser sich nach Kossaks Worten durch „eine unbekümmerte Stilvielfalt“ aus. „Nach Belieben nutzte man Renaissance, Gotik, Barock, Neuklassizismus, Heimat- und Reformstil.“ Flächen für die vielen neuen Gebäude waren durch eine neue Landegemeindeordnung vorhanden. 15 rund um Hamburgs Stadtkern gelegene Orte seien kurzerhand zu Vororten erklärt worden.

Neue Stadtteile wie Rotherbaum, Harvestehude, Eimsbüttel, Uhlenhorst „erhielten zwischen 1880 und 1915 ihre spezifischen Charakter durch den Typus des gründerzeitlichen Etagenhauses“, schreibt Kossak. Viele Quartiere, die in jener Zeit entstanden, zeichneten sich durch ein klares, einfaches Straßensystem aus. „Ihre in die Straßenzeile eingebundenen Einzelhäuser, auf relativ schmaler Parzelle mit gleicher Traufhöhe, beziehen sich auf die Tradition des mittelalterlich-frühneuzeitlichen Bürgerhauses“. Heute sind Wohnungen in vielen dieser Wohngebäude sehr begehrt.

Allerdings hatte sich im Wohnungsbau zu jener Zeit der Backstein als vorherrschendes Fassadenelement noch nicht durchgesetzt. Daher erhielten viele Wohngebäude – zumindest die von wohlhabenderen Eigentümern – ein weißes Gepräge. An beiden Seiten der Außenalster sind Beispiele aus jener Zeit zu entdecken. Und je weiter man sich vom Stadtzentrum entfernte, desto mehr veränderte sich Hamburg von einer Villenarchitektur zu einer dicht bebauten massiven Stadt: Eppendorf, Eimsbüttel oder Winterhude stehen dafür.

Die Gründerzeit hat in Hamburg vier Gebäudetypen hervorgebracht: die Stadtvilla, das Stadtreihenhaus, das Etagenhaus und den Terrassenbau. Die frei stehende und an Landhäuser erinnernde Stadtvilla ist rund um die Alster und den Elbvororten zu entdecken. Das Stadtreihenhaus wiederum ist ein reines Wohngebäude für eine oder mehrere Familien und wurde von den Londoner Townhouses beeinflusst.

Etagenhäuser waren kompakte Einzelbauten und sollten vor allem dazu dienen, auf geringem Platz möglichst viele Menschen unterzubringen. „Überhöhte Bebauungsdichte und Bautiefe mit Hinterhöfen, wie sie vor allem in Hammerbrook, Teilen von Hamm, Barmbek und St. Pauli aus spekulativen Gründen von Terraingesellschaften erstellt wurden, haben das Etagenhaus zu Recht mit der Bezeichnung ‚Mietskaserne‘ in Verbindung gebracht“, schreibt Kossak.

In vielen der neuen Wohnviertel wurden die Hinterhöfe für „dreigeschossige, eng stehende Gebäudezeilen“, sogenannte Terrassen, genutzt. Sie dienten Arbeitern als Quartiere und erinnerten an die Gängeviertel: dunkel, eng und hygienisch unzumutbar.

Für die Identität der Stadt als Me­tropole seien um 1900 drei weitere Elemente von Bedeutung gewesen, schreibt Kossak. „Das stetig sich verdichtende und erweiternde System der öffentlichen Verkehrsmittel, die Gewerbe- und Industriebauten sowie die Vielfalt und Ausdrucksstärke der öffentlichen Bauten.“

Zudem vertritt Kossak den Standpunkt, dass bereits während der Gründerzeit durch den stellvertretenden Leiter des Hochbauamtes, Albert Erbe, die Grundlagen für die Reformarchitektur Kurt Schumachers gelegt worden sei. „Die von Erbe entwickelte Architektur lieferte die Bausteine und Konstruktionselemente für Hamburgs neues Stadtbild im Zeichen einer sehr spezifischen hamburgischen Form des Heimatstils.“