Kaum ein Amtsvorgänger hat sich so in die Bundes- und Europapolitik eingemischt wie Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz. Der SPD-Politiker gilt als gewiefter Verhandler für heikle Fälle, bleibt aber meist im Hintergrund

Die ersten Wochen des Jahres verlaufen ganz nach dem Geschmack von Olaf Scholz. Von wegen Olympia-Kater. Hamburgs Bürgermeister hat die heftige Schlappe beim Referendum am 29. November längst abgehakt. Wenn die Jugend der Welt nicht nach Hamburg kommt – es gibt auch andere Wege, um die internationale Bekanntheit der Stadt zu steigern. Und: Politischer Ehrgeiz und Gestaltungswille dieses Senatspräsidenten haben noch nie an der Landesgrenze haltgemacht. Ja, es drängt sich der Eindruck auf, dass dem SPD-Politiker die nationale und internationale Bühne umso mehr bedeutet, je länger er im Amt ist.

Am vergangenen Montag hatte Scholz die Spitzen der deutschen Autofirmen, Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) und die Oberbürgermeister zahlreicher Städte im Rathaus zum Round-Table-Gespräch Luftqualität versammelt. Scholz will die Autobauer dazu drängen, die Abgaswerte ihrer Flotten deutlich zu senken. Viel Zeit bleibt nicht, denn schon bald könnten Gerichte Fahrverbote verhängen, weil Städte – wie Hamburg – die EU-Grenzwerte bei der Luftqualität nicht einhalten. Herausgekommen ist beim runden Tisch zwar noch nichts, aber man will sich wieder treffen. Einen Erfolg aber kann Scholz verbuchen: Das Gespräch im Rathaus fand drei Tage vor dem „Auto-Gipfel“ bei Bundeskanzlerin Angela Merkel statt. So werden Themen eben bundesweit gesetzt, und Scholz weiß, wie es geht.

Wie wichtig der richtige Zeitpunkt ist, wird sich auch am kommenden Freitag erweisen. Olaf Scholz hat die traditionsreiche Matthiae-Mahlzeit europapolitisch kräftig aufgeladen. Als Ehrengäste werden der britische Premierminister David Cameron und Bundeskanzlerin Angela Merkel erwartet. Man muss in den Annalen des „ältesten Gastmahls der Welt“ schon ein wenig zurückblättern, um eine ähnlich hochkarätige Besetzung zu finden. Bislang ranghöchster Gast aus dem Königreich war der frühere Außenminister Lord Peter Carrington – und das war 1982.

Wer glaubt, Scholz gäbe sich mit dem protokollarischen Glanz zufrieden, der für einen Abend auf die Stadt fällt, irrt gewaltig. Es geht ihm um Europapolitik und nicht weniger als die Zukunft des Staatenbündnisses. Scholz hat Kompromissvorschläge – unter anderem für eine Einschränkung der Arbeitsimmigration nach Großbritannien – vorgelegt, die einen EU-Ausstieg der Briten verhindern sollen.

Dem Besuch des britischen Premiers Cameron ist Aufmerksamkeit garantiert

Um politische Wirkung zu erzielen, hat der Bürgermeister sogar mit einer Tradition des Gastmahls gebrochen, was weithin unbemerkt geblieben ist. Der Matthias-Tag, nach dem das Fest benannt ist, fällt auf den 24. Februar. Das Matthiae-Mahl wird daher in der Regel am letzten Freitag im Februar begangen, in diesem Jahr aber schon am 12. Februar – so früh wie noch nie. Der Grund ist einfach: Am 18. und 19. Februar findet der EU-Gipfel statt, bei dem es um den drohenden „Brexit“ geht. Dem Besuch Camerons in Hamburg ist also Aufmerksamkeit garantiert.

Dabei sind sich die beiden – Cameron und Scholz – noch nie begegnet. Als Scholz Merkel auf dem kurzen Dienstweg anrief, um auch sie im Vorfeld des EU-Gipfels zum Matthiae-Mahl einzuladen, sagte sie sofort zu. Und das Kanzleramt war der Hamburger Senatskanzlei behilflich beim Herstellen des Kontaktes zu Downing Street 10, Camerons Amtssitz in London.

Dass die Kommunikation so schnell und reibungslos funktioniert, hat einen plausiblen Grund: Scholz kann auf ein über Jahre aufgebautes Netzwerk zurückgreifen. Im Kabinett von Merkel saß der SPD-Politiker einst als Arbeitsminister. Beide ähneln sich in ihrem unaufgeregten und unspektakulären öffentlichen Auftritt wie in ihrem pragmatischen Politikansatz und halten einiges voneinander. Ähnlich ist das Verhältnis zu Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und Innenminister Thomas de Maizière (beide CDU). Aber selbst zum bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU), als politischer Haudrauf eher ein Antipode zu Scholz, gibt es auf der Arbeitsebene gute Kontakte. Der Bürgermeister zählt mittlerweile zu den dienstälteren Ministerpräsidenten und sein Rat wird wegen seiner politischen Erfahrung in deren Kreis gesucht.

Dabei gilt Scholz als Mann für die wirklich schwierigen Fälle, wenn es darum geht, eigentlich unvereinbare Positionen zusammenzuführen. Das zeigt sich an einem eher spröden und wenig schlagzeilenträchtigen Thema: Bayern und Hessen hatten mit einer Verfassungsklage gegen das Geldverteilungssystem gedroht, bei dem die reichen Länder wie Bayern, Hessen und auch Hamburg die „armen Vettern“ finanziell unterstützen. Der Finanzausgleich ist ein Eckpfeiler des Föderalismus, seine Aufkündigung hätte unabsehbare Folgen. Aber Hamburg hat ein Eigeninteresse, weil durch eine spezielle Einwohnerwertung Nachteile für die Stadtstaaten ausgeglichen werden.

In nächtelangen Sitzungen mit den Ministerpräsidenten Unions-regierter Länder erreichte Scholz Anfang Dezember 2015 deren Zustimmung zu einem Kompromiss, den Scholz zuvor schon mit Wolfgang Schäuble ausgelotet hatte. Spätestens seit den Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD 2013 auf Bundesebene gelten die beiden eigentlich als eingespieltes Team. Schäuble und Scholz hatten für ihre Parteien das zentrale Kapitel Finanzen verhandelt.

Nicht erst seit Flüchtlinge in großer Zahl nach Deutschland kommen und Städte und Kommunen vor riesige Probleme bei deren Unterbringung stellen, ist die Asyl- und Flüchtlingspolitik für den Bürgermeister ein zen­trales Thema. Da die Städte „am Ende der Nahrungskette“ sind, also keinen Einfluss auf Zahl und Verteilung der Flüchtlinge haben, können auch Hamburgs Interessen nur über eine Einflussnahme im Bund wahrgenommen werden. Wie ernst Scholz die Sache ist und wie er sich in die Details eingräbt, zeigt eine Anekdote aus dem letzten Herbst: In einem VW-Bus der Fahrbereitschaft fuhr Scholz Anfang November mit zwei Mitarbeitern nach Berlin.

Während der etwas unbequemen Fahrt heckte das Trio dann in ständiger Rückkoppelung mit anderen SPD-Politikern Kompromisslinien aus, die sich dann zuerst in einer kleinen Besprechungsrunde mit de Maizière, Justizminister Heiko Maas (SPD), Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) und zwei Landesinnenministern und am Ende bei den Ministerpräsidenten durchsetzten. Dazu zählt die Einrichtung einer zentralen Passbeschaffungsstelle in Potsdam. Schließlich gelang es Scholz auch, das heiß diskutierte Thema „Transitzonen“ mit dem Vorschlag spezieller Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge aus sicheren Herkunftsstaaten zu entschärfen. Wirklich sichtbar für ein breites Publikum und die Mehrheit der Wähler sind diese bundespolitischen Aktivitäten des Bürgermeisters nicht. Das ist der Preis für eine ergebnisorientierte Politik, die auf das geduldige Bohren dicker Bretter setzt.

Scholz verachtet nichts mehr als eine bloße Ankündigungspolitik und im Grunde auch deren Protagonisten, obwohl er das nie sagen würde. Andererseits: Das Ego des SPD-Politikers ist groß genug, dass er sich mehr öffentliche Anerkennung wünscht und manch anderem solche Erfolge neidet. Das ist ein Dilemma des Politikers Olaf Scholz: Mehr öffentliche Aufmerksamkeit auf Bundesebene kann er nur unter Preisgabe seiner politischen Prinzipien erreichen. Er müsste dann in eigener Sache viel lauter trompeten. „Er ist eben kein Horst Seehofer“, heißt es dann leise seufzend aus seiner Umgebung.

Als stellvertretender SPD-Bundesvorsitzender ist Scholz auch bestens in seiner Partei vernetzt. An der Basis ist der Ex-SPD-Generalsekretär außerhalb Hamburgs nicht überbordend beliebt – jedenfalls wenn man seine Wahlergebnisse auf Parteitagen nimmt. Wenige wissen, dass Scholz mit einem unscheinbaren und öffentlich wenig bekannten Parteiamt sehr viel Macht ausübt und so sehr gut über die Stimmung in der SPD orientiert ist: Scholz ist Vorsitzender der Antragskommission bei SPD-Bundesparteitagen. Er muss Hunderte von Anträgen sichten, Kompromisslinien ausloten und mit den Antragstellern verhandeln.

Seinen Parteikontakten verdankt Scholz seinen vielleicht ungewöhnlichsten Posten: Er ist seit Anfang 2015 Frankreich-Beauftragter der Bundesregierung oder, protokollarisch korrekt, „Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrages über die Deutsch-Französische Zusammenarbeit“. Das Amt wird für vier Jahre vergeben, und es hat entweder ein Unions- oder ein SPD-Ministerpräsident inne, bislang jedenfalls.

Olaf Scholz ist Frankreich-Beauftragter der Bundesrepublik Deutschland

Als NRW-Landeschefin Hannelore Kraft, Koordinatorin der SPD-geführten Länder, Scholz fragte, ob er Interesse habe, griff er zu. Für Beobachter war diese Entscheidung durchaus überraschend, gilt er doch nicht als frankophil. Nach seinem eigenen Bekenntnis verfügt er nur über Grundkenntnisse des Französischen. Aber der Posten eröffnet Scholz strategisch die Chance, Kontakte auf europäischer Ebene zum wichtigsten EU-Partner Deutschlands zu knüpfen. Und, sicher, Hamburgs älteste Partnerstadt ist Marseille, und überdies ist das südfranzösische Toulouse wie Hamburg auch Standort der Airbus-Flugzeugproduktion. Kurztrips führen ihn nun regelmäßig nach Frankreich. Ende Januar reiste er nach Paris, um sich mit Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem zu treffen.

Kaum ein Amtsvorgänger hat sich so in die Bundes- und Europapolitik eingemischt wie Scholz. Gefragt, was ihn dabei antreibt, bleibt der SPD-Politiker eher allgemein. Es wäre besser, so sein Credo, wenn sich wieder mehr Politiker in Deutschland für internationale Entwicklungen und strategische Fragestellungen interessierten. Und dann immerhin so viel: Willy Brandt und Helmut Schmidt hätten ihn schon immer beeindruckt, weil sie bereits als einfache Abgeordnete Überlegungen zu strategischen Fragen der Außenpolitik angestellt hätten. Nun, zwei ehemalige Bundeskanzler sind nicht gerade die schlechtesten Vorbilder ...

Ein Makel bleibt: Ausgerechnet der in Berlin bestens vernetzte und gewiefte Verhandler Scholz hat es nicht geschafft, den Bund zu einer Finanzierungszusage für die Olympischen Spiele 2024 zu bewegen. Dass bis zum Referendum offenblieb, ob der Bund jene 6,2 Milliarden Euro übernimmt, die das Hamburger Finanzierungskonzept vorsah, war ein, wenn nicht der Grund dafür, dass die Abstimmung knapp gegen die Spiele ausging. Scholz hat gegen alle Regeln verstoßen, die ihn sonst bei heiklen Verhandlungen auszeichnen: Er hat die Bundesregierung mit den 6,2 Milliarden vor vollendete Tatsachen gestellt und sogar damit gedroht, dass Hamburg seine Bewerbung zurückzieht, falls der Bund nicht bereit sei, seinen Beitrag zu leisten.

Auf diesen Erpressungsversuch mochte sich Schäuble nicht einlassen. Auch Merkel schwieg beredt. Und die Hamburger wollten mehrheitlich nicht die Katze im Sack kaufen. Aber die Fehler sind vorher passiert: Als Scholz sein Finanzkonzept im Oktober präsentierte, waren alle Verhandlungsbemühungen schon fehlgeschlagen. Der SPD-Politiker musste wenigstens den maximalen Hamburger Anteil – 1,2 Milliarden Euro – vor dem Referendum öffentlich benennen – ohne eine Hausnummer wären die Chancen beim Referendum von vornherein perdu gewesen.

Aber wie gesagt: Olympia ist für den Bürgermeister abgehakt, Wundenlecken liegt ihm nicht. Schon lockt das nächste Weltereignis am Horizont: Hamburg ist Favorit als Tagungsort für den G20-Gipfel 2017. Zum letzten Treffen der 20 wichtigsten Industrienationen in der Türkei reisten 13.000 Teilnehmer und 3000 Journalisten an. Für ein paar Tage richtet die Welt ihren Blick auf diese Stadt. Vielleicht werden hinterher mehr Menschen weltweit nicht mehr mit erläuterndem Zusatz von „Hamburg, Germany“ sprechen, sondern es allein beim Städtenamen belassen, weil sie ihn als bekannt voraussetzen. Das wäre ein Erfolg für die Stadt – so sieht es der Bürgermeister.