Der überraschende EM-Titel sorgt für ganz neuen Schwung. Die Verantwortlichen wollen den erhofften Boom nutzen und neue Anhänger gewinnen. Die Fehler der Vergangenheit sollen diesmal vermieden werden. Ein Blick in die Zukunft

Der Blick der Verantwortlichen ging in dem nicht enden wollenden Jubel über den sensationellen Titelgewinn der deutschen Handballer bei der Europameisterschaft in Polen bereits in der langen Nacht des Triumphes in die Zukunft. „Der Verband hat unglaublich große Aufgaben vor sich. Das ist jetzt eine zarte Pflanze, wir dürfen sie nicht kaputtmachen“, sagte Bob Hanning, der für den Leistungssport zuständige Vizepräsident des Deutschen Handballbundes (DHB) und ehemalige Trainer des HSV Hamburg (Dezember 2002 bis Mai 2005).

Nach zuletzt rückläufigen Zahlen, allein 2015 verlor der DHB 19.422 Mitglieder, will der größte Handballverband der Welt – rund 750.000 Mitgliedschaften in 4414 Vereinen – Profit aus dem Titel schlagen, den erhofften Boom nutzen und neue Anhänger gewinnen. Der Sieg bei der Heim-WM 2007 hatte dem DHB in den folgenden elf Monaten einen Zuwachs von 18.526 Handballern beschert. Danach ging es mehr oder weniger stetig bergab, auch weil die Männernationalmannschaft die Olympischen Sommerspiele 2012 in London, die EM-Endrunde 2014 in Dänemark und sportlich auch die WM 2015 in Katar verpasste. Mit einer Wildcard durften die Deutschen dennoch in die Wüste fliegen – und wurden nach respektablen Auftritten Siebter. Ein neuer Anfang war gemacht.

Die Fehler der Vergangenheit in Präsentation, Vermarktung und Nachwuchsarbeit hofft der Verband diesmal vermeiden zu können. „Wir werden in den nächsten Tagen und Wochen aktiv werden. Dafür ist die Chance jetzt besser als vor der Europameisterschaft“, erklärte der neue DHB-Präsident An­dreas Michelmann. Denn der Handballsport hat die EM-Bühne optimal genutzt. Im Schnitt 12,98 Millionen Zuschauer saßen am Sonntagabend bei der ARD vor dem Fernseher, in der Spitze sahen sogar 17,4 Millionen den finalen EM-Triumph, das 24:17 gegen den zweimaligen Weltmeister Spanien. Das entsprach einem Marktanteil von 42 Prozent. In den vergangenen drei Jahren hatten nur Fußballübertragungen bessere TV-Quoten. Handball hat sich als Spielsportart Nummer zwei etabliert. Beim WM-Sieg 2007 in Köln hatten durchschnittlich 16,17 Millionen das Finale gegen Polen im ZDF verfolgt, in der Spitze fast 20 Millionen.

„Ich hoffe, dass die Leute endlich auch vermehrt in die Hallen kommen und ein richtiger Handball-Hype ausgelöst wird“, meinte Torwart-Held Andreas Wolff (Wetzlar), der im Endspiel fast jeden zweiten Ball parierte. Das wird jedoch kein Selbstläufer. Zum einen im sportlichen Bereich: „Jetzt muss die Mannschaft beweisen, dass sie den Erfolg auch auf Dauer halten kann“, ahnt Michelmann.

Bereits bei den Olympischen Spielen im August in Rio de Janeiro und bei der Weltmeisterschaft im Januar 2017 in Frankreich ist das Team von Trainer Dagur Sigurdsson („Wir dürfen nicht überheblich werden und müssen Demut zeigen“) stark gefordert. Aber die junge Mannschaft hat viel Potenzial – und noch etliche starke Spieler in der Hinterhand, die wegen Verletzungen ganz oder teilweise bei der EM fehlten, allen voran Kapitän und Linksaußen Uwe Gensheimer vom Bundesliga-Tabellenführer Rhein-Neckar Löwen. Von der Weltspitze, warnt Hanning, „sind wir noch weit entfernt. Daran ändert auch dieser großartige Titel nichts.“

Doch es bedarf auch großer Anstrengungen abseits des Feldes. „Wir müssen die Kinder, die uns jetzt zulaufen, gewinnen“, sagt Hanning. Was in der Praxis nicht so leicht ist. Hanning, der neben seinem Ehrenamt beim DHB Geschäftsführer des Bundesligaclubs Füchse Berlin ist, berichtet über die Lage in der Hauptstadt: „Wir haben Anfragen, aber können die Kinder nicht aufnehmen, weil die Hallen mit Flüchtlingen gefüllt sind. Auch das ist ein ernst zu nehmendes Problem.“ In Hamburg wäre das eher möglich. Die Hallen sind frei, doch es fehlt an geeigneten Trainern und Betreuern.

Die Probleme sind zum größten Teil bekannt. Alle Beteiligten haben erst mal versprochen, gemeinsame Sache zu machen. „Die Mannschaft hat uns die Vorlage gegeben, jetzt müssen wir sehen, was wir sportlich und wirtschaftlich daraus machen können“, sagt Uwe Schwenker, der Präsident des Ligaverbandes HBL. Trainer und Manager der Bundesligaclubs werden sich schon am nächsten Wochenende zusammensetzen. Das Treffen war bereits vor der EM anberaumt worden.

Hanning fordert: „Wir brauchen unseren Sport in den Metropolen. Dass der HSV sich vom Spielbetrieb abgemeldet hat, ist deshalb ein Rückschlag für unser Bemühen, den Handballer besser zu vermarkten. Das hätte verhindert werden müssen.“ Auch der DHB und seine Landesverbände müssen noch enger zusammenarbeiten, weitere Kooperationen mit den Schulen sollen angestrebt werden. Der Verband müsse sich personell noch besser aufstellen. Hanning spricht von „Risikogeld“, das vom DHB in die Hand genommen werden sollte. „Da sind wir noch ein zu starres System, wir müssen anfangen, modern zu denken, und investieren. Wenn wir die Talente jetzt richtig fördern, werden gerade wieder 15 neue Nationalspieler geboren.“ Auch nach dem WM-Sieg 2007 hatte es zunächst starken Zulauf gegeben, der dann nicht aufgefangen werden konnte. Hanning: „Mit dem Jugendzertifikat der Bundesliga und den Leistungszen­tren der Landesverbände sind wir aber heute besser auf diese Nachfrage vorbereitet als damals.“

Die Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung sind gegeben, glaubt auch der Kölner Kommunikationswissenschaftler Professor Josef Hackforth. „Damit ein Hype nicht nachlässt, braucht es weitere Erfolge sowie Sportler oder Mannschaften, mit denen sich die Menschen identifizieren können.“ Bundestrainer Sigurdsson, 42, könne ein neuer Heiner Brand werden, der mit Deutschland als Spieler und Trainer Weltmeister wurde. „Der singt ja als Isländer sogar die deutsche Nationalhymne mit. Das kommt an.“