Warum lässt ein junger Deutscher den Job und seine Freundin zurück, um in Syrien gegen den „Islamischen Staat“ zu kämpfen? Warum riskiert er sein Leben? Die ungewöhnliche Geschichte eines Zurückgekehrten

Der Mann gegenüber wäre 150.000 Dollar wert, würde man ihn verpfeifen. So viel Kopfgeld setzt der IS auf jeden Westler, der gegen die Terrormiliz in den Krieg gezogen ist. Christian Haller gehört zu diesen Mutigen oder auch „Wahnsinnigen“, wie seine Exfreundin sagt. Er sieht gar nicht so wahnsinnig aus, eher unauffällig. Wenig Haare, normale Figur, schwarzes T-Shirt, ruhige Stimme. Der 31-Jährige bestellt Kaffee mit Sojamilch und ein Stück Käsekuchen. Rambo würde ihn als Gegner wahrscheinlich auslachen, aber es sind oft die Unterschätzten, die am längsten überleben.

Christian Haller hat überlebt, einen sieben Monate dauernden Kampf an der Seite der Kurden in Syrien gegen den IS. Mehr als einmal war es dabei sehr knapp. Kugeln verpassten seinen Kopf um Millimeter, Sprengstoffkapseln explodierten in seiner Nähe und rissen Kameraden in den Tod, eine Stellung wurde vom Feind mit einem Panzer plattgemacht, nachdem er dort gerade abgezogen worden war.

Schutzengel erleben in Kriegsgebieten regelmäßig Burnouts, der von Christian Haller allerdings leistete hervorragende Arbeit. „Ich bin mit ein paar Prellungen und zwei heftigen Infektionen davongekommen, andere hatten weniger Glück“, sagt Haller. Das ist natürlich nicht sein richtiger Name. Auch seinen aktuellen Wohnort verrät er nicht, er liegt irgendwo zwischen Hamburg und Berlin. Wenn der Kämpfer a. D. abends eine einsame Straße entlang geht, dann schaut er mehrfach hinter sich. „Ich bin aufmerksam, ja, aber ich habe keine Angst. Der Krieg hat mir gezeigt, wozu ich fähig bin, er hat mich selbstbewusster gemacht“, sagt Haller.

Ihn plagen keine Albträume, er musste trotz vieler traumatischer Erlebnisse nicht in psychiatrische Behandlung. Sieben Monate in der Hölle hätten ihn mehr über sich und die Menschen gelehrt, als ein ganzes Psychologiestudium ihm hätte vermitteln können, glaubt er. Der Krieg mache keinen besseren oder schlechteren Menschen aus einem. Er offenbare, ob man ein gutes oder schlechtes Herz hat, zum Überleben sei das aber unerheblich: „Ich habe im Krieg gute und schlechte Menschen getroffen. Sterben tun sie alle mal!“

Haller nimmt einen Schluck Kaffee. Es gibt nichts, was ihn noch erschüttern kann. Dabei war es gerade die Erschütterung, die ihn zu seinem ungewöhnlichen Einsatz brachte. Als er daheim auf seinem gemütlichen Sofa saß, neben ihm seine Freundin und sein Hund, sah er zum ersten Mal die Berichte über die Taten des Islamischen Staates. Er sah, wie zwei US-Journalisten vor laufender Kamera die Köpfe abgeschnitten wurden, wie Frauen und Kinder als Sex-Sklavinnen verkauft oder ein jordanischer Pilot bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. Nach diesen Bildern sei er nicht mehr derselbe gewesen, sagt Haller.

Um gegen den IS zu kämpfen, braucht man ein Flugticket und warme Wäsche

Er beschäftigte sich fortan mit dem IS, las alles über den radikalen Salafismus, wobei ihm schnell klar wurde: „Der ,Islamische Staat‘ ist der größte und gefährlichste Feind der Freiheit im 21. Jahrhundert.“ Und für Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit lohnt es sich zu kämpfen, fand Haller. Bei seinen Recherchen stieß er auf die Verteidigungseinheit der Kurden in Syrien, die YPG, der sich auch Ausländer anschließen können. Er nahm Kontakt auf und fragte, was notwendig wäre, um für die YPG zu kämpfen. Die Antwort kam schnell: ein Flugticket und warme Unterwäsche. Mehr braucht es heutzutage nicht, um als Deutscher in eine ausländische Armee einzutreten.

Im November 2014 war es schließlich so weit. Haller kündigte seinen Bürojob, packte seinen Rucksack, besorgte sich ein Touristenvisum und schrieb seiner nichts ahnenden Freundin vom Flughafen aus einen Brief, in dem er ihr erklärte, dass er für längere Zeit weggehe, und bat um ihr Verständnis. Um das vorweg zu nehmen: Sie hatte kein Verständnis, die beiden sind inzwischen getrennt. „Ein Opfer, das ich bringen musste“, sagt Haller, und man erkennt eine Spur von Traurigkeit in seinem Gesicht.

Natürlich hätte er gerne wieder eine Partnerin, aber mit seiner Geschichte sei das nicht so leicht. Seine langjährigen Freunde hingegen haben immer zu ihm gestanden, sein Bruder ebenfalls. Das Verhältnis zu seiner Mutter ist allerdings belastet, zu groß waren die Ängste, die sie seinetwegen durchstehen musste. Der eigene Sohn, der nicht mal bei der Bundeswehr war, gibt freiwillig seine Komfortzone auf, um sich auf ein Minenfeld zu begeben. Welche Mutter würde in so einer Situation „Hurra“ rufen?

Das erste Wort, das ihr Sohn in Syrien lernte, war Daesh. Der Feind. Es stellt die arabische Abkürzung für den IS dar. Die Islamisten hassen diese Bezeichnung für sie, weil sie auch „niedergetreten“ bedeutet. Aber ­Daesh niederzutreten ist nicht so leicht, das musste Haller bei jedem Feindkontakt feststellen. Nicht nur, weil die Terrormilizen schwere Geschütze haben und furchtlos unter „Allahu akbar“-Rufen in jedes Mündungsfeuer laufen. Sie spüren weder Angst noch Schmerz, weil sie unter Drogeneinfluss stehen. Die selbst ernannten Gotteskrieger sind Junkies. „Gedopt mit Amphetaminen; wir haben blaue Plastikröhrchen und Spritzbesteck bei den Leichen gefunden“, erzählt Haller.

Es seien junge Kerle mit Bart in zerschossenen Uniformen gewesen, die Körper steif wie Wachsfiguren. Allesamt keine guten Krieger mit schlechter Ausrüstung und wenig Erfahrung, was sie zu Kanonenfutter machte. „Das Traurige daran ist, dass es die Kerle gar nicht stört. Im Gegenteil. Je früher sie sich über den Haufen schießen lassen, desto schneller können sie in ihr beschissenes Paradies, zu ihren Jungfrauen. Es ist eine Schande, wie man das Leben so mit Füßen treten kann,“ sagt Haller.

Drei Aufgaben gaben ihm die Befehlshaber vor Ort: zielen, feuern, töten. Und eine goldene Regel, die es einzuhalten gelte: keine Gefangenen machen. Wie viele Menschen Christian Haller getötet hat oder was er dabei verspürt habe, dazu will er nichts sagen. Auch sogenannte Trophäenfotos, auf denen Krieger neben Leichenbergen posieren, empfindet er als ekelhaft und würde sie nie machen. Aber er muss ein zuverlässiger Schütze gewesen sein: „Ich funktionierte gut.“

Sein Verständnis für technische Zusammenhänge war stets groß. Wie man eine Kalaschnikow auseinander- und wieder zusammenbaut, brachte er sich vor der Abreise mit YouTube-Videos bei, die er auswendig lernte. Als er in Syrien zum ersten Mal eine AK-47 in die Hand bekommt, schafft er es in 30 Sekunden. Dort lernt er auch den Umgang mit einer Dragunov, einem Sniper-Gewehr. Aber Soldat zu sein, ist kein Handwerk. „Man hat es im Blut. Oder eben nicht.“, sagt ihm ein Kamerad.

Die Regeln im Kampf: zielen, feuern, töten und keine Gefangenen machen

Die Kameradschaft vor Ort gefällt Haller, allerdings gibt es außerhalb der Kampfhandlungen viele Herausforderungen: dünne Uniformen, die die Kälte nicht abhalten, Schlafplätze zwischen Kakerlaken und Schimmel, keine sanitären Einrichtungen, kaum etwas zu essen.

Manchmal sind die Soldaten so hungrig, dass sie auf der Straße um Brot bitten müssen. „Einfach demütigend“, sagt Haller. Schlimm auch die Einsamkeit und das Warten auf neue Einsätze; Haller bringt sich selbst vor Ort das Sticken bei. Sein erstes Werk ist ein Totenkopfaufnäher.

Das größte Problem jedoch sind die Idioten in den eigenen Reihen. Eine Freiwilligen-Armee zieht nicht nur Idealisten an, sondern jede Menge komische Gestalten: ein Surflehrer aus Kalifornien in der Midlife-Crisis, eine angebliche Pilotin bei der kanadischen Luftwaffe, die sich beim Googeln ihres Namens als gesuchte Trickbetrügerin entpuppt, ehemalige Marines, die jetzt auf TV-Dokus über sich hoffen, pensionierte Lehrer aus England, die sich „Frank Sinatra“ nennen, und viele Kleinkriminelle, die den Krieg für ihre Geschäfte nutzen. Alle sind absolut unzuverlässig, vor allem bei Nachtwachen. Haller verharrt lieber selbst auf dem Verteidigungsposten, doch wenn man Nacht für Nacht stundenlang in die Dunkelheit starrt, dann entdeckt man irgendwann Feinde, die keine sind: „Ich habe viele, viele Gespenster gesehen.“

War es das, was er wollte? Das Extreme, den permanenten Ausnahmezustand? Auf jeden Fall hält er länger durch als die meisten Freiwilligen, die nach ein oder zwei Monaten zurück nach Hause reisen – wenn sie noch leben. Schon als Kind sei er süchtig nach Abenteuern gewesen, er habe es nie ertragen können, wenn jemand zum Beispiel von der Lehrerin zu Unrecht bestraft worden sei, erzählt Haller. Während seines Wirtschaftsstudiums kam er mal einem Schwulen gegen eine Horde Nazis zu Hilfe, was in einer Kneipenschlägerei mündete und dem Studenten eine lebenslange Erinnerung bescherte, eine Metallplatte in seinem Schädel.

In den Krieg will er nicht noch mal, jetzt hilft er lieber auf andere Weise

Haller war schon immer bereit, Schmerz für Gerechtigkeit in Kauf zu nehmen: „Es gibt viele Menschen, die nach Normalität streben, ich gehöre nicht dazu.“ Aber so etwas Extremes wie einen Kriegseinsatz plant er in naher Zukunft nicht wieder, der Krieg hat ihn desillusioniert: „Ich war naiv, als ich glaubte, ein Einzelner könne etwas ändern. Das können nur die ganz Mächtigen, aber die wollen einfach nicht, die sind zu zögerlich.“

Syrien sei ein fehlgeschlagener Staat, in dem es keine Gewinner mehr gebe, ein Virus, das nach und nach die ganze Welt infiziere. Die Anschläge in Paris und Istanbul, die Flüchtlinge in Deutschland, alles ist darauf zurückzuführen. Jeder Mensch, der einmal ein nordsyrisches Dorf gesehen hat und die erbarmungswürdigen Zustände, die dort herrschen, wird verstehen, dass man von dort fliehen will, sagt Haller: „Die Menschen dort leben gar nicht, sie überleben nur.“

Um auch von Deutschland aus helfen zu können, hat Christian Haller aus seinen Tagebucheinträgen ein Buch gemacht: „Sie nannten mich Held“. Mit den Einnahmen unterstützt er verschiedene Hilfsorganisationen. Toll findet er die Aktion des FDP-Politikers Tobias Huch, der Wasser für Flüchtlinge in Kurdistan organisiert. Wenn Hallers Einreiseverbot (schließlich hat er sein Touristenvisum um Monate überzogen) aufgehoben ist, will er Kleidung und Babynahrung selbst in die Krisenregion bringen, sicher ist sicher.

Denkt er noch oft an die Mitstreiter und wie es ihnen jetzt wohl geht? Doch, manchmal, sagt Haller. Letztens wurde ein General getötet, den er sehr schätzte. Das habe ihn getroffen, er sei ja kein Stein. „Aber ich halte es da wie Herbert Grönemeyer: Männer weinen heimlich.“