Neun europäische Staaten grenzen an Deutschland. In einer neuen Abendblatt-Serie stellt Chefautor Thomas Frankenfeld diese Länder vor, analysiert ihr Verhältnis zu Deutschland und wie sie mit Flüchtlingen umgehen. Heute, im ersten Teil: Polen

Für Helmut Schmidt, den Hamburger Kosmopoliten, waren die Beziehungen Deutschlands zu zwei Nachbarstaaten von herausragender Bedeutung. Neben Frankreich war dies Polen. Das Verhältnis zu unserem östlichen Nachbarn ist allerdings historisch schwer belastet; an den drei Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts war Preußen maßgeblich beteiligt, der berüchtigte Hitler-Stalin-Pakt von 1939 sah eine weitere Aufteilung vor, und die Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg war letztlich eine Folge des von Deutschland begonnenen Krieges. Polen war 1939 das erste Kriegsopfer Hitlers; und auf besetztem polnischen Boden betrieb die SS die Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Sobibor, Majdanek und Chelmno, in denen insgesamt rund drei Millionen Menschen ermordet wurden.

Im Zweiten Weltkrieg hatte Polens Exilarmee – mit 250.000 Mann die siebtstärkste der Alliierten – an der Seite des Westens gekämpft. Doch dann fiel Polen unter sowjetische Kontrolle. Der zunächst hoffnungslos erscheinende Kampf der Gewerkschaft Solidarnosc unter ihrem Chef Lech Walesa ab 1980 gegen die kommunistische Staatsmacht endete schließlich mit der Niederlage des Regimes. Der ehemalige Elektriker Walesa wurde 1990 zum Staatspräsidenten eines freien, demokratischen Polens.

Lech Walesas engste Berater: die Kaczynski-Zwillinge

Seine beiden engsten Berater im entscheidenden Jahr 1989 waren die Zwillinge Jaroslaw und Lech Kaczynski, glühende Antikommunisten.

Der Prozess der Annäherung und Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zählt zu den großen politischen Wundern des vergangenen Vierteljahrhunderts. Im Rahmen der Nato dienen inzwischen deutsche und polnische Soldaten im Multinationalen Korps Nordost mit Hauptquartier in Stettin (Szczecin) Seite an Seite. Vor allem manche älteren Polen tun sich allerdings schwer, ihr altes Misstrauen gegenüber dem mächtigen westlichen Nachbarn abzulegen. Das Misstrauen der meisten Polen gegenüber Russland ist allerdings noch weit größer.

Die EU und Polen – das ist bislang ein Erfolgsmodell gewesen. Aus der trostlosen Konkursmasse des verblichenen Kommunismus erwuchs eine starke Marktwirtschaft. Doch Einkommen und Wohlstand sind ungleich verteilt; viele ältere Menschen wurden im neuen Polen abgehängt, und viele jüngere fanden erst gar keine Arbeitsplätze. Aus dem Heer dieser Unzufriedenen erwuchs die Wählerschaft der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS).

Deren Chef ist kein anderer als Walesas ehemaliger Mitstreiter Jaroslaw Kaczynski, Ministerpräsident des Landes von 2006 bis 2007. Sein Bruder Lech, ab 2005 der vierte Präsident der Dritten Polnischen Republik, war 2010 ums Leben gekommen, als seine Regierungsmaschine beim Anflug auf den russischen Militärflughafen Smolensk-Nord abstürzte. Ebenso wie viele seiner Getreuen in der PiS ist Jaroslaw Kaczynski davon überzeugt, dass es sich um ein Attentat handelte.

Die Kaczynskis stammen aus einer nationalkonservativen Familie. Beide Eltern kämpften im Warschauer Aufstand 1944 in der polnischen Heimatarmee gegen die Wehrmacht; zwei der Urgroßväter waren hohe Offiziere in der Armee des Zaren gewesen. Als Ministerpräsident war Jaroslaw Kaczynski nicht sonderlich erfolgreich gewesen, und er wurde abgewählt, nachdem bekannt wurde, dass er die Geheimdienste beauftragt hatte, belastendes Material über politische Gegner zu sammeln, um sie gefügig zu machen. Den Innenminister, der dies dem Parlament enthüllte, ließ er verhaften.

Fortan zog er als Graue Eminenz der PiS die Fäden aus dem Hintergrund. Die Parlamentswahl vom 25. Oktober 2015 bescherte der PiS die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament – 235 von 460. Es war eine Protestwahl der Unzufriedenen gegen die farblose liberalkonservative Regierung unter Ministerpräsidentin Eva Kopacz. Und de facto ein Rechtsruck – keine einzige linke Partei ist mehr im Sejm vertreten.

Neue Regierungschefin wurde Beata Szydlo, doch bleibt kein Zweifel, wer die eigentliche Macht hat. Parteichef Kaczynski verlor keine Zeit, sein Konzept für Polen umzusetzen. Er strebt eine Art Direktorat an, eine autoritär herrschende Regierung, der es weniger um europäische als um nationale polnische Interessen geht. Um dieses Direktorat machtpolitisch abzusichern, brachte Kaczynski zunächst das Verfassungsgericht durch die Ernennung von fünf neuen Richtern auf Linie, ließ kritische Chefredakteure öffentlicher Medien und die Chefs der vier Geheimdienste durch eigene Leute ersetzen.

Offenbar ist der ungarische Autokrat Viktor Orban sein Vorbild. Helmut Schmidt hatte 2006 gesagt, dass nicht nur die beiden Kaczynskis, sondern auch manche Polen einen Nachholbedarf beim Ausleben ihres Nationalismus hätten. Doch es sieht ganz so aus, als wären die Polen inzwischen über ihre eigene Wahl erschrocken. In mehr als 30 Städten gingen Zehntausende auf die Straßen, um gegen den drohenden Umbau ihres Staates zu protestieren – namentlich gegen ein neues Polizeigesetz, das eine stärkere Datenerfassung ermöglichen soll.

Polen ist nicht Ungarn, dort hatte es immerhin drei Jahre bis zu den ersten verhaltenen Protesten gedauert; in Polen kaum drei Wochen. Die Polen haben eine besser organisierte Opposition, sie sehen ihre Rolle in der EU als wesentlich an und fühlen sich mehrheitlich als Teil eines freien, pluralistischen Europas. Eine totale „Orbanisierung“ der polnischen Gesellschaft wird kaum möglich sein. Schon hat sich ein „Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD) gegründet – in bewusster Anlehnung an das regimekritische Intellektuellenkomitee KOR in kommunistischen Zeiten. Kaczynskis herzliche Abneigung gegen das EU-Europa, vor allem aber die Deutschen, ist bekannt. Offen hat er einmal in einem Interview bekannt, dass er die deutschen Schuldgefühle gegenüber Polen gezielt politisch instrumentalisiere.

Die Mehrheit der Polen ist europafreundlicher und weltoffener eingestellt als Kaczynski – wenn auch die Flüchtlingskrise das Ansehen der EU in Polen zu schwächen begonnen hat. Denn in einem Punkt dürfte Kaczynski die meisten Bürger wiederum auf seiner Seite wissen: In der strikten Ablehnung eines Zustroms von Flüchtlingen nach Polen. Scharf attackiert er die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel und erklärt, die Fremden seien „Überträger von Krankheiten und Parasiten“.

Laut einer Umfrage des polnischen Instituts CBOS lehnen 69 Prozent der jungen Polen zwischen 18 und 24 Jahren die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen in ihrem Land ab. Im vorigen Jahr hatte Polen auch nur 6500 Flüchtlinge aufgenommen. Regierungschefin Szydlo hat zu der Flüchtlingsproblematik erklärt: „Man kann den Export selbst geschaffener Probleme anderer Länder nicht Solidarität nennen.“

Die Katholische Kirche hat eine sehr starke Stellung in der Gesellschaft

Jaroslaw Kaczynski hat sich gegen die Aufnahme von weiteren 7000 Flüchtlingen, die die vorige Regierung der EU zugesagt hatte, mit den Worten gesperrt, er wolle „keine Scharia-Bezirke“ wie in Schweden und schon gar keine Zustände wie in Italien, „wo Flüchtlinge Kirchen als Toiletten nutzen“. Das war ein geschickter Schachzug – denn Polens Bevölkerung ist zu fast 90 Prozent katholisch; Glauben und Kirche haben immer noch eine sehr starke Stellung in der Gesellschaft. Die katholische Kirche hat im Zweiten Weltkrieg unter den deutschen Besatzern stark gelitten, aber auch unter den Sowjets. Von den fast 2800 Priester und sechs Bischöfen, die ums Leben kamen, wurden die meisten von den Deutschen ermordet, allein 870 im Konzentrationslager Dachau. Auch hier gibt es noch alte Wunden. In der kommunistischen Zeit war die Kirche eine Gegenmacht, ab 1978 gestärkt vom früheren Erzbischof von Krakau, Karol Wojtyla, als Papst Johannes Paul II.

Noch nie hat in Polen eine einzelne Partei soviel Macht auf sich konzen­triert – und das soll erst der Anfang sein. Der populäre Journalist und Fernsehmoderator Tomasz Lis, dessen Sendung nach dem Regierungswechsel abgesetzt wurde, spricht von einer „Demontage der Demokratie“. Der frühere Präsident des Verfassungsgerichts, Jerzy Stepien, sieht sogar einen „Staatsstreich“, sein Amtsvorgänger Andrzej Zoll bereits „Totalitarismus“. Politikone Lech Walesa wirft der Regierung vor, sie ruiniere das Land, verletze die Verfassung und vergeude jene Freiheiten, für die man so hart gekämpft habe.

Die Europäische Union sorgt sich um eine weitere „Putinisierung“ Osteuropas und hat das dreistufige Prüfungsverfahren des „Rechtsstaatsmechanismus“ gegen Polen in Gang gesetzt, an dessen Ende – rein theoretisch – der Entzug des polnischen Stimmrechts oder gar Wirtschaftssanktionen stehen können. Doch dazu wären die Stimmen aller anderen 27 EU-Mitglieder notwendig. Und Viktor Orban hat bereits – wenig überraschend – erklärt, das sei mit ihm nicht zu machen. Kritik aus Deutschland wurde in Polen reflexartig mit NS-Vergleichen pariert.

Die EU und Deutschland stecken in einem Dilemma: Je deutlicher die Kritik ausfällt – zum Beispiel, wenn der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger fordert, Polen unter EU-Aufsicht zu stellen – desto mehr könnten antieuropäische und nationale Tendenzen in Polen gestärkt werden. Zwar gibt es in Polen, wie überhaupt in Osteuropa, eine ausgeprägte Bewunderung für starke politische Führer. Doch anders als in anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks gibt es in Polen vor allem die in der Volksseele verankerte Tradition der zivilgesellschaftlichen Auflehnung gegen allzu autoritäre Kräfte. Es ist wenig wahrscheinlich, dass sich die Polen auf Dauer ihre hart erkämpfte Freiheit nehmen lassen werden.