Das Karolinenviertel im Herzen von St. Pauli sollte nach dem Willen der Stadtplaner längst abgerissen sein. Doch die Bewohner wehrten sich. Heute ist es ein bemerkenswertes Beispiel behutsamer Sanierung

Croissants sind aus. Auch Brötchen für ein Frühstück mit Butter und Marmelade gibt es kurz nach zehn Uhr nicht mehr. Die junge Frau hinter dem Tresen im „Café Panter“ bietet stattdessen selbst gebackene Panini an: „Die sind mit getrockneten Tomaten gemacht worden.“ Doch zu denen passt Marmelade ja nun so gar nicht. Und schnell wird wieder spürbar: Das Karoviertel inmitten von Hamburg ist ein eigener Kosmos. Da öffnet wochentags kaum ein Café vor zehn Uhr morgens. Und wer sich durch die eher schmalen, nichtsdestotrotz zugeparkten Straßen treiben lässt oder auf dem „Platz der Genossenschaft“ eine kleine Auszeit einlegt, wird es rasch merken: Sein Leben verläuft langsamer, gemächlicher. Wie ein wenig aus der Zeit gefallen.

Dabei liegt das Quartier – geografisch betrachtet – inmitten einer pulsierenden Metropole. Eingerahmt wird es vom Messegelände im Norden und Osten, dem Heiligengeistfeld mit seinen regelmäßig wiederkehrenden Rummelwochen im Süden und den ehemaligen Rindermarkthallen im Westen. Auf der Karolinen- oder Feldstraße hetzen tagtäglich Tausende Autos im Takt der Verkehrsampeln vorwärts. Doch hier im Viertel – da, wo sich Glashütten- und Marktstraße zwar kreuzen, ein verkehrsberuhigter Platz aber den Verlauf der beiden Hauptachsen unterbricht und so die direkte Durchfahrt mit einem Auto unmöglich macht –, ist von all dem hektischen Betrieb des überlauten Hamburgs kaum etwas zu hören.

Sven Meyer lebt seit gut zwölf Jahren im Karolinenviertel. Er ist Musiker und bekannt für sein Label „Elfenmaschine“, für sein „Yoga-Wasser-Klang-Festival“ in Planten un Blomen und vor allem für „KYMAT“, ein Soundprojekt, mit dem er Töne sichtbar macht. Mit ihm haben wir uns im „Café Panter“ in der Marktstraße verabredet. Er hat hier eine eigene Anschreibeliste. Früher war das Café mal ein Trödelladen. Seine heutige Bestimmung verdankt es der Tatsache, dass der Besitzer eines Tages mal eine Kaffeemaschine hereinbekam. „Das Viertel bedeutet für mich Freiheit“, erzählt Sven Meyer. Eine Freiheit, die der 42-Jährige empfindet, wenn er beispielsweise dort, wo die Markt- in die Feldstraße mündet, bei Rot über die Ampel geht. „Das kann ich hier tun, weil es alle tun. Wer auf Grün wartet, der ist ein Tourist.“

Beispiele hinken immer. Sven Meyer weiß das. Aber seine Geschichte beschreibt das Unangepasste dieses Viertels. Für den neutralen Besucher wirkt das „Unbedingt-Anderssein-Wollen“ manchmal wie eine Nachahmung des Gewöhnlichen – nur mit anderem Vorzeichen eben. Sei’s drum. In Zeiten wie diesen, in denen das nur einen Steinwurf entfernt liegende Schanzenviertel aus Sicht der „Karoliner“ mehr und mehr zu Party- und Amüsiermeile und „Pinneberger Treff“ verkommt, zählt dieses „Anderssein“ womöglich mehr als früher. Musiker, Studenten, Menschen aus aller Herren Länder leben gern im Ortsteil 108 des Bezirks Hamburg-Mitte. Knapp 4000 Einwohner schätzt das Statistikamt Nord. Mit gut sieben Prozent liegt der Anteil der Alleinerziehenden hier über dem Durchschnitt des Bezirks Mitte. Sven Meyer verkneift sich das Wort vom kreativen Milieu. Stattdessen spricht er lieber von den (überwiegend) niedrigen Mieten, den Nachbarn, mit denen man auf der Eingangstreppe sitzend plaudern kann, und dem Gefühl, dass man irgendwie eine Gemeinschaft bildet.

Woher der Name „Karolinenviertel“ stammt, ist nicht ganz klar. Vielleicht geht die Bezeichnung auf den Namen eines früheren Patrons der Vorstadt zurück. Wer am östlichen Zugang die in Teilen grün gestrichene Hausfassade betrachtet, dem sticht jedenfalls das Ornament mit dem Begriff „Carolinenpassage“ ins Auge – mit „C“ geschrieben. Sicher scheint, dass seine Einwohner den Namen erst seit einigen Jahrzehnten benutzen. In den Jahren, in denen Anwohner und Aktivisten sich gegen Verfall und den lange von der Stadt geplanten Abriss des Viertels wehrten, setzte sich schließlich das verkürzte Karoviertel durch. Ganz früher bezeichneten die Hamburger den Stadtteil aufgrund seiner Nähe zum Schlachthof eher als „Schlachthofviertel“ oder als Viertel „vor dem Holstent(h)or“.

Die Marktstraße gilt hier als die inoffizielle Hauptstraße. Sie soll ihren Namen 1841 erhalten haben. Vorher hieß die Gegend nur „Bei der Ölmühle“ und „Bei der Glashütte“ – Hinweise auf das vorindustrielle Zeitalter. Die Ölmühle wurde 1686 bei kriegerischen Auseinandersetzungen zerstört, die 1761 errichtete Glashütte um 1800 stillgelegt.

Die allerersten Häuser auf dem Gelände des heutigen Karolinenviertels wurden – historischen Quellen zufolge – bereits vor etwas mehr als 350 Jahren errichtet. Das damals vor den Toren der Stadt liegende Gelände war ländlich geprägt. Es diente als Friedhofsfläche und als Wasserreservoir, bei dem sich die Hamburger die höhere Lage zunutze machten. Denn dank des natürlichen Gefälles gelangte das kostbare Nass ganz ohne Anstrengung in die Stadt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts brannten die Franzosen alle Gebäude nieder, um ein freies Schussfeld zu erhalten. Später entstanden erst wieder Garten- und Landhäuser, bevor sie in den Jahren der Industrialisierung durch Wohn- und Hinterhäuser sowie die typischen Terrassenzeilen ersetzt wurden.

Werner Hartgen sitzt im Keller seines Mietshauses. Seine kleinen Augen blinzeln freundlich durch die Brille. In der linken Hand hält der „Überachtzigjährige“ – genauer will er nicht werden – eine Schwarzbrotstulle; mit seiner Rechten fingert er Radieschen aus einer Plastiktüte. „Die steckten heute Morgen noch im Erdboden meines Gartens“, verrät er und beißt genussvoll in sein Brot. Der Mann interessiert sich für Geschichte – vor allem für die seiner Familie. Und so hat er herausgefunden, dass sein Urgroßvater einst als Leibeigener im Schleswig-Holsteinischen lebte. „Dann ist er vom Hof seines Herrn abgehauen und irgendwie zu Geld gekommen“, erzählt Werner Hartgen. Wie das genau geschah, ließ sich aus den historischen Unterlagen leider nicht ersehen. „Sicher ist aber, dass er dadurch das Recht kaufen konnte, sich in Hamburg aufzuhalten.“

Hier übertrug die Kirche seinem Urgroßvater 1850 die Verwaltung des Friedhofs, auf dessen Gelände Teile des Karolinenviertels liegen. „Für den Job erhielt er zwar nicht so viel Geld“, fand Hartgen heraus, „aber er bekam die Genehmigung, auf nicht benutzten Gräbern Gemüse anzubauen und nicht vermietete Plätze in der Kapelle zum eigenen Vorteil zu nutzen.“ So hat er es mit der Zeit zu einem beachtlichen Vermögen gebracht, das es ihm erlaubte, eine größere Parzelle zu kaufen und ein Mietshaus zu errichten. „Wann das genau war, weiß ich leider nicht“, sagt Hartgen. „Aber ich habe bei Renovierungsarbeiten im Haus eine Zeitung aus dem Jahr 1870 entdeckt.“ Das ist die Zeit, in der neben Etagenhäusern vor allem Speicher- und Fabrikgebäude entstehen. Das oft in einem ziemlichen Durcheinander, weil es zu jener Zeit keine einheitliche Bauordnung gab.

Dass Werner Hartgen ein ungewöhnlicher Mensch ist, hat uns bereits der Musiker Sven Meyer verraten: „Die meisten halten ihn für den Hausmeis-ter und wissen gar nicht, dass er der Eigentümer der Wohnungen ist.“ Als wir ihn in seinen Arbeitsklamotten dann erleben, können wir diese Einschätzung nur bestätigen. Hartgen kramt derweil auf einem kleinen Tischchen herum, bis er einen abgegriffenen Zettel gefunden hat. Auf ihm stehen – mit Bleistift geschrieben – seine „Aufträge“, die er noch erledigen will. Bei einer jungen Frau im ersten Stock klemmt die Tür. „Da muss ich noch hin“, murmelt er. Der Mann entspricht eben nicht dem Klischee eines Hausbesitzers. Denn wer in einem der angesagtesten Stadtviertel rund 50 Wohnungen besitzt, könnte sich wohl problemlos einen angestellten Hausmeister leisten. Doch Hartgen sagt: „Nein, was ich selber machen kann, das mache ich auch selber“, und lacht verschmitzt. Seit er 1975 die Anteile von Verwandten gekauft hat, verwaltet er alle Häuser selbst. „Haus sechs und sieben waren damals noch von Chaoten besetzt“, erinnert er sich.

Die Stadt hatte das Viertel in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg dem Verfall preisgegeben und 1964 den Wettbewerb „Kongress- und Messezentrum Hamburg“ ausgelobt. „Die Prämisse für diese Planung war der Totalabriss des gesamten Karolinenviertels und auch der Gnadenkirche für den Bau eines großen Kongresszentrums und die Erweiterung der Messe sowie des Justizforums“, sagte Volkwin Marg, der sich damals als junger Architekt an der Ausschreibung beteiligte. „An der Feldstraße war eine Großsporthalle für 20.000 Zuschauer mit Mehrzwecknutzung vorgesehen.“

Über Jahre hatte die Stadt ihre Pläne vorbereitet und seit den 50er-Jahren Flächen und Häuser im Karoviertel erworben. Die Verwaltung der nach und nach verfallenden Gründerzeitbauten oblag der städtischen Wohnungsgesellschaft „Freie Stadt“, die später in dem Wohnungskonzern Saga aufging. Noch in den 70er-Jahren galt für sie: Gebäude, die in Privatbesitz sind, sollten aufgekauft werden. Hartgen erinnert sich: „Ich hatte die fix und fertig ausgearbeiteten Kaufverträge vor mir liegen.“ Einige Nächte habe er mächtig mit sich gerungen. „Dann habe ich abgelehnt.“ Es waren (und sind) vor allem Künstler, Studenten und Zuwanderer, die bei ihm auf der Suche nach preiswertem Wohnraum fündig wurden (und werden).

Ins Karoviertel zogen damals vor allem Arbeits-Migranten aus Süd- und Südost-Europa, der Türkei und den Mittelmeerländern. Sie konnten sich keine teuren Mieten leisten und die Wohnungsverwalter wie Stadtplaner gingen davon aus, dass viele von ihnen nur ein paar Jahre im Quartier leben würden. Von grundlegender Sanierung oder gar Neubau konnte in jener Zeit ja keine Rede sein. Viele Häuser hatten die Toilette noch auf halber Treppe, Duschen waren die Ausnahme – und wenn es eine gab, dann nur, wenn die Mieter sie selbst eingebaut hatten.

Irgendwann reifte die Einsicht, den Abriss des Quartiers zugunsten der Messe nicht weiter zu verfolgen. Nachdem der Senat am 26. April 1988 einen behutsamen Prozess der Stadterneuerung beschlossen hatte, gründete er im Jahr darauf die „Steg“, die als eine Art Treuhänder zwischen Anwohnern und Stadtplanern vermitteln sollte. Und das erste Projekt der Entwicklungsgesellschaft war: das Karoviertel.

Heute sorgen sich Alteingesessene vor allem darum, dass das Viertel sein einzigartiges Flair verlieren könnte. Ein Flair, das von Künstlern und Designern genauso geprägt wird wie von jungen, ideenreichen Geschäftsleuten. Die Zahl der Selbstständigen, die im Karoviertel leben und arbeiten, liegt über dem Durchschnitt Hamburgs.

Nicht minder einflussreich sind jene, die sich für alternative Wohnformen einsetzen und den Staat als Ordnungsmacht ablehnen – auch wenn sie im Straßenbild des Karoviertels inzwischen weniger auffallen als noch vor Jahren.