Nach drei Jahrzehnten geht die Reporter-Legende vom Abendblatt in den Ruhestand. Sein Blog ist einer der erfolgreichsten im Lande. Die User sagen: „Danke, Dieter!“

Was für eine Bühne! Es ist der Abend des 13. September 2000. Im ausverkauften Volksparkstadion warten 48.500 Zuschauer auf den Anpfiff. Nach sage und schreibe 17 Jahren spielt der HSV wieder in der Champions League. Und zu Gast ist passenderweise das Starensemble von Juventus Turin. Gegen die Italiener gelang 1983 in Athen der Europapokal-Triumph. Sie kommen mit Weltfußballer Zinédine Zidane, mit Alessandro Del Piero, Edgar Davids, Filippo Inzaghi. Es wird ein Spiel für die Ewigkeit.

Auf der Pressetribüne sind die Aufgaben klar verteilt. Das Abendblatt ist mit vier Kollegen im Einsatz. In der Redaktion sitzt die andere Hälfte der Mannschaft, um die ankommenden Texte professionell zu verarbeiten. Im Stadion besorgt einer Stimmen und Splitter, einer konzentriert sich auf die Einzelkritik der beiden Teams. Einer hält den Kontakt zur Redaktion. Und Dieter Matz ist zuständig für den Spielbericht. Es geht um Genauigkeit. Und um Pünktlichkeit. Sobald Schiedsrichter Vitor Melo Pereira aus Portugal das Spiel abpfeift, muss der Text gesendet werden. Keine Minute später.

Es gibt Fußballspiele, da ist das kein Problem. Die sind nach 70 oder spätestens 80 Minuten entschieden. Bis dahin schreiben die Journalisten den Großteil des Textes – und sparen sich noch 20 Zeilen für die letzten Minuten des Geschehens auf dem Rasen.

Als es bereits nach sechs Minuten 0:1 steht, ist die Richtung vorgegeben. Als Turins Stürmer Inzaghi nach 52 Minuten das 3:1 für Juve erzielt, beginnt Dieter Matz damit, den verdienten Sieg des haushohen Favoriten niederzuschreiben. Daran ändert auch das 2:3 durch Mehdi Mahdavikia nach 65 Minuten nur wenig. Sieben Minuten später ist alles anders. Es regnet Sitzkissen im Stadion. Die Zuschauer sind völlig aus dem Häuschen. Sowas hat Hamburg noch nicht erlebt.

Es gab Zeiten, da kannte Dieter Matz jeden passablen Hamburger Fußballer

Fünfzehn Jahre später ist Dieter Matz 67 Jahre alt. Ein Alter, in dem andere längst morgens aufstehen, um die Enten zu füttern. Dieter hat mehr als 30 Jahre lang als Sportreporter für das Hamburger Abendblatt gearbeitet. Zuerst in der Regionalausgabe in Norderstedt, und als er im Januar 1987 im Hauptsport anfing, hieß der HSV-Trainer Ernst Happel. 25 weitere sollten folgen. Dieter ist mit der Nationalmannschaft um den Globus gereist und hat über drei Weltmeisterschaften berichtet. Er hat den FC St. Pauli begleitet, als die Journalisten am Millerntor noch in kleinen Glaskabinen per Tasten-Telefon mit Festanschluss ihre Spielberichte in die Redaktionen durchgegeben haben.

Es gab Zeiten, da kannte Dieter Matz jeden passablen Hamburger Fußballer. Und zwar so gut, dass er einst für das Abendblatt die ewige Rangliste der 100 besten Amateur-Kicker aufgestellt hat. Was für wochenlange Diskussionen auf Hamburgs Fußballplätzen und in den Clubheimen gesorgt hat.

Seine Bühne war die Tribüne. Solch einen Sportreporter, ein lebendes Lexikon mit enormem Fachwissen, muss man lange suchen. Doch nun ist Schluss damit. So einer, denkt man, darf natürlich irgendwann damit aufhören, sich Tag und Nacht mit den Clubs im Allgemeinen und dem HSV im Speziellen zu beschäftigen.

Und auch damit, über Jahrzehnte Saison für Saison den vielen wichtigen Fragen nachzugehen: Soll Lasogga bleiben, oder wäre es doch besser, den Hamburger Jung Eric Maxim Choupo-Moting an die Elbe zurückzuholen? Ist die aktuelle HSV-Elf schon in der Lage, ein hohes Pressing zu spielen, oder sollte sie lieber tief stehen und auf schnelles Konterspiel setzen? Gibt es ihn wirklich, den lähmenden HSV-Virus, der die Spieler immer erst dann befällt, wenn sie an die Elbe kommen? Und auch, natürlich: Sakai oder Diekmeyer? Jung oder Diaz? Adler oder Drobny?

Alles sehr wichtig.

Mag sein, dass Dieter diesen Fragen noch sehr lange nachgegangen wäre. Auch wenn er selbst als einen Grund für seinen „unwiderruflichen Rückzug“ angibt, dass er den Protagonisten durch die veränderten Arbeitsbedingungen zuletzt nicht mehr so nahe gekommen ist wie früher, als er mit manchem HSV-Profi auch Geburtstag gefeiert hat. „Ich konnte zuletzt meinen eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden“, sagt er, der den Hinterhalt hasst, in seiner grundehrlichen Art.

Aber es gibt noch einen anderen Grund, der entscheidend dazu beigetragen hat, dass die große Fan-Gemeinde künftig auf ihren Dieter und seine profunden Insider-Kenntnisse über den HSV verzichten muss: Dieter Matz hat seine ursprüngliche Bühne verlassen und vor sechs Jahren einen Blog gestartet. Aber in der digitalen Welt und ihren anonymen Tiefen können sich Schmutzfinken so wunderbar verstecken. Fiese Zeitgenossen, die nicht den Mumm haben, mit offenem Visier zu kämpfen.

„Matz ab“ war geboren. Ein Titel, den der Schreiber dieser Zeilen eigentlich für eine Kolumne von Dieter im Abendblatt erfunden hat. Daraus wurde ein Blog, der durch die Decke gegangen ist. Knapp zehn Millionen User (Nutzer) in sechs Jahren. Rund 8200 Visitor (Besucher) pro Tag. Mehrmals bekommt er über 1000 Kommentare, wenn er ein brisantes Thema zu fassen hat. Unglaubliche 1900 sind es zu seiner Einschätzung über die Rückkehr von Rafael van der Vaart. „Matz ab“ ist einer der meistgelesenen und kommentierten Blogs in Deutschland.

Es ist die Ironie dieser unglaublichen Erfolgs-Geschichte, dass ausgerechnet der Traditionalist und sensible Fußball-Romantiker Dieter Matz zur Speerspitze einer völlig neuen Form des Sportjournalismus in Deutschland geworden ist. Katapultiert quasi aus der liebevollen Print-Welt mit allerdings schwindenden Lesern auf ein ätzendes Schlachtfeld mit immer mehr Usern, die sich oftmals heftig im Ton vergreifen. „Anfangs haben sich viele Vernünftige in dem Blog getummelt und ihre unterschiedlichen Meinungen ausgetauscht“, sagt Dieter. Aber zunehmend, sagt er heute, übernahmen die Pöbler das Kommando.

„Matz, geh in Rente“ und „Danke für die Zensur, Dieter und Stasi“ waren noch eher harmlose Verbal-Attacken.

Sie haben Dieter Matz mit den Jahren so große Angst gemacht, dass er sich irgendwann professionelle Hilfe geholt hat, als er krank geworden ist. „Ich fühlte mich ständig verfolgt“, sagt er. Lange hat er jeden Kommentar gelesen und sich zu Herzen genommen. Zu lange.

Er selbst sagt über seinen Abschied und die Angriffe auf ihn im Netz: „Wenn man weiß, dass die Moderatoren im Internet noch einige Dinge abfangen, die weit unterhalb der Gürtellinie angesiedelt sind, dann müsste man eigentlich meine Angst verstehen.“ In einer ZDF-Sendung zum Thema Mobbing hat er gesagt: „Die Anonymität des Internets wird, so denke ich allen Ernstes, allmählich zu einer Volkskrankheit führen. Jeder macht jeden an – natürlich anonym. Dabei gibt es längst schon jede Menge Leute, die ihren größten Spaß daran haben, andere zu sich herunterzuziehen. Je niederträchtiger, desto besser.”

Auch das möchte er sich nicht länger antun. „Weil es mir ein großes Stück Lebensqualität geraubt hat.“

Dabei wollte er, als „Matz ab” 2009 ins Leben gerufen wurde, „nur ein wenig über den Fußball plaudern und schreiben“. Aber: „Ahnungslos und naiv wie ich war, habe ich gedacht, dass ich nur auf Gleichgesinnte treffen werde. Aber vom zweiten Tag an wurde mir schnell klar, dass das Wunschdenken bleiben würde.“

Für einen wie ihn war das auf Dauer nicht auszuhalten. Er ist zwar auch als robuster Spieler bei BU und dem Wandsbeker FC, wo er auch Trainer war, keinem Zweikampf aus dem Weg gegangen. Aber da hat man dem Gegenspieler in die Augen sehen können. Und nach dem Spiel war alles wieder gut.

Offenes Visier. Darum geht es ihm. Und über allem steht bei Dieter, der auch immer ein sehr großes Herz für die Schiedsrichter hatte, das Fairplay. „Sonst geht der Fußball kaputt.“

Andererseits gibt es sie natürlich auch im Netz. Die Anständigen, die Experten, die Kreativen, die Lustigen. Die, wie er sie nennt, „heile Matz-ab-Familie“. Etwas sehr Einmaliges in der deutschen Sportberichterstattung. HSV-Fans, die sein Herzblut und seine Leidenschaft, seine Kompetenz und seine Menschlichkeit lieben. Und die sich nun zuhauf zu Wort gemeldet haben, als er seinen Abschied verkündet hat. Fast 150 Kommentare gab es gleich am ersten Tag. Ein Auszug.

Freerider schreibt: „Immer sympathisch, hanseatisch, korrekt und menschlich, das ist Dieter Matz.“ Sunnyboy4b ist „fassungslos“ und schreibt: „Als ich meinen Kindern die Nachricht mitteilte, dass Dieter Matz aufhört, wollten sie es nicht glauben.“ Sufik sagt Danke: „Das Tollste an diesem Blog war über all die Jahre Ihr großes Herz.“ Kleinlaut schreibt: „Die Entscheidung ist ebenso schade wie logisch.“ Und er hat noch einen Tipp für Dieter: „Dass die emotionale Ebene des Streitens meist nur Hilflosigkeit widerspiegelt, solltest du dir immer vor Augen halten.“

Darum ging es ja in der Hauptsache: Um Emotionen. Sie setzen bekanntlich, gerade auch auf dem Fußball-Platz, Kräfte frei, die manchmal nicht mehr kontrollierbar sind.

Viele, die sich jetzt als stille Leser des Blogs zu erkennen geben, haben nun noch einmal Partei ergriffen. „Danke auch dafür“, schreibt NoMercy, „dass du dir nie das Niveau derer zu eigen gemacht hast, die unter der Gürtellinie und niveaubefreit gepostet haben. Das ist eine persönliche Leistung, die jemand, der nicht in deiner Rolle ist, vermutlich gar nicht ermessen kann.“ Und HSV-Bramfelder schreibt: „Für mich ist dieser Blog und das Forum wie Tesafilm und Büroklammer – ohne geht einfach nicht.“

Durch „Matz ab“ sind rund um den Globus neue Freundschaften entstanden

Unzählige neue Beziehungen sind durch „Matz ab“ entstanden. Rund um den Globus. Sven schreibt: „Der Blog hat zu einer ganzen Reihe von Bekanntschaften und Freundschaften geführt, die sonst wohl nicht zustande gekommen wären. Das hat für mich einen wesentlichen und bleibenden Wert dieses Blog ausgemacht und dafür gebührt Dir mein persönlicher Dank.“

HSV57 schreibt: „Lieber Dieter, ich habe durch den Blog quer durch die Republik nicht nur HSV-Freunde, sondern echte Freunde gefunden. Das hast du bewirkt, das ist eine Menschen verbindende großartige Leistung.“ Und er entschuldigt sich gleichzeitig für Kommentare, die „unter der Gürtellinie“ waren: „Ich hoffe, dass du diese Entschuldigung annimmst.“

Die „Matzabber“ kommen aus Uetersen und den USA, aus Südtirol und Schweden, aus dem Rheinland und aus Thailand. Dieter selbst sagt in seiner unvergleichlichen Sprache, die den Superlativ zum ständigen Begleiter erkoren hat, dass es in der Matz-ab-Familie „so viele tolle, riesige, liebe, ehrliche und menschlich gebliebene Menschen“ gibt. „Sie alle kennengelernt zu haben, war mir eine große Freude. Sie alle sind mir unvergessen.“

Und nun? Stöbert man wiederum im Netz, können sich die kreativen Matz-Fans die tollsten Dinge vorstellen. Warum nicht eine Artikel-Serie herausbringen, schreibt Dyland 1941: „Dieters Gard-3-Wetter-Taft-Sturmfrisur aus einem Stück gemeißelt und im Internet zu ersteigern, um seine Rente aufzubessern.“ Oder ein HSV-Maskottchen namens Matzi, der optisch an „Pumuckl mit grauen Haaren erinnert.“ Oder seine „zehn Schreibfinger in Bronze gegossen neben Uwes Fuß.“

Der HSV bedankte sich bei der Reporter-Legende vom Abendblatt bereits vor ein paar Tagen auf der Weihnachtsfeier mit den Journalisten bei einem Italiener in Eppendorf – und lud Dieter sogleich für die Weihnachtsfeier im nächsten Jahr ein. Sie lobten ihn als treuen Begleiter der Clubgeschichte.

Seine vielleicht hervorragendste Eigenschaft aber – neben der wunderbaren Fähigkeit des Gedichte-Reimens, als es im Sportressort noch den Weihnachts-Julklapp gab, und der sporadisch vorhandenen Treffsicherheit beim legendären Stuhlschießen auf den langen Fluren im Springer-Gebäude: Dieter Matz ist ein Teamplayer. Er, der durch die Digitalisierung eher unfreiwillig vom reinen Berichterstatter zur prominenten Kultfigur mit eigenen Autogrammkarten geworden ist, sieht sich am liebsten als Teil einer Mannschaft. Und die hat zu funktionieren, damit am Ende das gewünschte Ergebnis zustande kommt.

Als am 13. September vor 15 Jahren im Volksparkstadion HSV-Torwart Jörg Butt in der 72. Minute einen Elfmeter zum 3:3 gegen Juve verwandelt, steht das Stadion Kopf. Matz bleibt ruhig. Kleiner Einschub: Beim Elfmeter selbst hat er seinen Sitz verlassen, weil er das Drama nicht mitansehen konnte.

Als in der 82. Minute Niko Kovac den HSV mit 4:3 in Führung schießt, drehen selbst altgediente Kollegen auf der Pressetribüne vollkommen durch. Dieter aber behält klaren Kopf. Er hat noch acht Minuten, um aus einer erwarteten Niederlage einen sensationellen Triumph zu machen. Um ihn herum bebt die Erde, er aber haut unbeirrt in die Tasten. Und macht einfach seinen Job.

Als Inzaghi in der 88.Minute zum 4:4 durch Elfmeter ausgleicht, löst auch das bei ihm, im Gegensatz zu Fans und Spielern, keine Verzweiflung aus. Aus einem Wahnsinns-Sieg wird in Windeseile ein Wahnsinns-Unentschieden. Zwei Minuten später drückt er mit Schlusspfiff auf die Senden-Taste.

Mancher, der damals dabei war, weiß bis heute nicht, wie er das geschafft hat. Er hat seine Mannschaft zum Sieg geführt.

„Wenn ich jetzt im Theater wäre“, schreibt Apahatschi-68, „würde ich aufstehen und Dir für deine tolle Arbeit applaudieren und so meinen Respekt zollen.“ Er meint Dieter, den Blogger.

Der Vorhang fällt also. Der Hauptdarsteller verlässt ziemlich gut gelaunt eine Bühne, die ihm das Leben nicht leichter gemacht hat. Matz ab.