Die 20. Cyclassics warten am Start mit einer gelungenen Premiere auf und im Ziel mit einem Happy End. Der scheidende Sponsor Vattenfall wird zur Zielscheibe von Protesten

André Greipel war kaum zehn Kilometer gefahren, da konnte er einem dringenden Bedürfnis nicht länger widerstehen. So früh im Rennen war damit offenbar nicht zu rechnen, jedenfalls spürte Greipel, kaum dass er sein Fahrrad angehalten hatte, plötzlich abrupten Druck auch von hinten – und fand sich unversehens auf dem Asphalt wieder. Ein unachtsamer Konkurrent war ihm in den Rücken geknallt. „Da hätte das Rennen für mich schon vorbei sein können“, erzählte Greipel später. So wie für drei andere Fahrer aus seinem Team Lotto Soudal, die später zu Sturz kamen.

Zum Glück ging es weiter für Greipel, 210 Kilometer noch, um genau zu sein. Als das Profifeld der 20. Vattenfall Cyclassics dann gestern um kurz nach 16 Uhr auf die Mönckebergstraße einbog, war der Rostocker genau dort, wo er zu diesem Zeitpunkt sein wollte: am Hinterrad von Alexander Kristoff, dem norwegischen Titelverteidiger. Die letzten Meter allein im Wind wurden dann zur Triumphfahrt für den Sprinter. Ein Heimsieg als Happy End nach drei Tagen eitlen Sonnenscheins – etwas Besseres hätte dem Rennen zum Jubiläum gar nicht passieren können.

Ohne das im Einzelnen beweisen zu können: Es waren wohl die stärksten Cyclassics aller Zeiten. Für das Feld der Profifahrer gilt das in jedem Fall, kaum ein großer Sprintername wurde vermisst. Allenfalls beim Zielsprint. An dem konnte sich der achtmalige Tour-de-France-Etappensieger Marcel Kittel nicht beteiligen, nachdem er bei der letzten Waseberg-Überquerung wie befürchtet abgehängt worden war. Mark Cavendish, sein britischer Rivale, kam zwar besser über das „Elb-d’Huez“, jedoch kurz vor dem Ziel zu Sturz.

Bleiben wir aber bei den Superlativen: Sie sind auch angebracht, was die Begeisterung an der Strecke betrifft. Offizielle Zuschauerzahlen sind zwar inzwischen nicht mehr zu bekommen. Aber wenn die veranstaltende Agentur Lagardère Unlimited Events später von Hunderttausenden sprach, die an den Rennstrecken standen, dann dürfte das nicht übertrieben gewesen sein.

Schon am Morgen hatten sich etliche Hundert Radsportfans am Kieler Schwedenkai eingefunden, um einer Premiere beizuwohnen: Erstmals startete das Profifeld aus dem Bauch einer Fähre. Mit einer vergleichbaren Aktion hatte im vergangenen Jahr schon die Spanienrundfahrt aufgewartet, als das Feld von einem Flugzeugträger rollte.

„Dunkel“ sei es gewesen in der „Stena Scandinavica“, erzählte Greipel später mit dem ihm eigenen breiten Grinsen. Dafür aber sei man später auf dem neuen Kurs durch Schleswig-Holstein umso wärmer empfangen worden: „Es war einzigartig, wie die Leute uns gefeiert haben.“ Und auch Rennleiter Roland Hofer regte an, „ob man künftig die Streckenführung nicht ähnlich gestalten sollte“.

Veranstaltungschef Kai Rapp allerdings gab den „enormen Kraftakt“ zu bedenken, den der Start in Kiel bedeutet habe. Die Fahrer hätten erheblich früher aufstehen müssen, um rechtzeitig in Kiel vor Ort zu sein. Und die Rückreise gestaltete sich für die Teambusse vor allem auf den letzten Metern durch das verstopfte Hamburg als quälendes Geduldsspiel. „Einer der Pluspunkte unseres Rennens waren immer die Annehmlichkeiten, die wir den Fahrern bieten konnten“, sagte Rapp. Diesen Standortvorteil aufzugeben, müsse sorgsam abgewogen werden.

Die Begeisterung aber mag das aufwiegen. Sie ist auch Rossano Brasi in Erinnerung geblieben. Der Italiener gewann 1996 die ersten Cyclassics und schwelgte gestern nicht nur deshalb in Erinnerungen: „Es war toll, dass so viele Menschen an der Strecke standen, vor allem, dass so viele Hobbyradler mit uns Profis gefahren sind. Das war etwas Besonderes.“ In Italien gebe es bis heute nichts Vergleichbares.

2000 Jedermannfahrer waren es bei der Premiere vor 19 Jahren. Gestern wurden 18.368 Starter gezählt, 16.983 erreichten das Ziel. Die Stürze verliefen bis auf zehn Notarzteinsätze glimpflich.

Man darf die Cyclassics heute mit André Greipel „zur Champions League des Radsports“ zählen. Dass Vattenfall nach 20 Jahren nicht mehr mitspielen darf, stellt die Organisatoren vor eine Herausforderung. Eine eher unsentimentale Verabschiedung gab es für den Titelsponsor auf der Köhlbrandbrücke. Aktivisten der Umweltorganisation Robin Wood hatten in etwa 20 Meter Höhe über die Fahrbahn ein Plakat gespannt, das den Vattenfall-Schriftzug vor einem Kernkraftwerk zeigte, darunter die Aufschrift: „Umsatteln: Ökostrom statt Kohle und Atom.“ Robin Wood hatte in den vergangenen Jahren das Engagement von Vattenfall wiederholt als Greenwashing gebrandmarkt: als PR-Maßnahme, um dem Energiekonzern einen umweltfreundlichen Anstrich zu geben.

Wer den Cyclassics im kommenden Jahr den nötigen finanziellen Schub gibt, ist noch ungeklärt. „Das Marketingkonzept steht, wir sind in vielversprechenden Gesprächen mit mehreren Sponsoren“, sagte Rapp. Erste Verhandlungstermine seien bereits für Ende des Monats vereinbart.

Der Ausstieg von Vattenfall sei aber auch eine Chance, das Rahmenprogramm zu erweitern und neue Zielgruppen anzusprechen. Etwa die Hipster, die am Sonnabend auf der Mönckebergstraße mit ihren Fixies an der Premiere der Rad Race Battle teilnahmen, einem 250-Meter-Sprintrennen, in dem jeweils vier Fahrer um zwei Plätze für die nächste Runde kämpfen. Nach ähnlichem Modus laufen Crossrennen im Skisport ab, die beim jugendlichen Publikum besser ankommen als die klassischen Wettbewerbe gegen die Uhr.

Medial dürften es die Cyclassics 2016 allerdings schwerhaben. Der Termin, 21. August, fällt auf den Schlusstag der Sommerspiele in Rio de Janeiro. Immerhin: Das Rennen könnte somit den inoffiziellen Titel der Olympia-
revanche für sich beanspruchen – zusammen mit der Spanienrundfahrt.

Die Terminkollision mit der drittgrößten Tour der Welt hat wie schon im Vorjahr den Start von John Degenkolb in Hamburg vereitelt, 2013 einer von nun vier deutschen Cyclassics-Siegern. Rapp aber fürchtet die Konkurrenz nicht: „Die Vuelta leidet mehr unter uns als wir unter ihr. Ihr fehlen viele Topsprinter im Feld.“ André Greipel zum Beispiel.