Gestern Nachmittag hat der längste Ausstand in der Geschichte der Bahn AG begonnen. Fahrgäste werden leiden müssen, Konzerne fürchten ums Geschäft – und sogar Kanzlerin Merkel ist in Sorge

Es ist der achte Streik der Lokführergewerkschaft GDL in der aktuellen Tarifauseinandersetzung, und bei der Deutschen Bahn hat offensichtlich ein gewisser Gewöhnungsprozess eingesetzt. „Der Streik im Güterverkehr ist angelaufen“, verkündete eine Bahnsprecherin am Montagnachmittag in Berlin mit dürren Worten.

Zuvor hatten allerdings Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel etwas Ungewöhnliches getan und sich ausführlich zu dem Streik geäußert. „Ohne mich direkt da einzumischen“ – die Tarifautonomie wollte sie auf gar keinen Fall antasten – sprach Merkel sich für eine Schlichtung in dem Konflikt zwischen GDL und Bahn AG aus. „Wir alle fiebern mit, dass es eine Lösung gibt“, sagte die Kanzlerin. Die Belastungen durch den bis Sonntagmorgen angesetzten Streik seien für viele Bürger und Unternehmen „gravierend“. Die Verantwortlichen müssten nun alles daran setzen, eine rasche Einigung zu finden.

Auch Gabriel sprach sich für eine Schlichtungslösung aus. „Ich frage mich, versteht eigentlich irgendjemand noch, was sich bei der Bahn abspielt?“, sagte der Wirtschaftsminister und SPD-Vorsitzende in der Parteizentrale. Bessere Arbeitsbedingungen stünden in dem Konflikt wohl nicht im Vordergrund: „Es geht um Machtfragen innerhalb der gewerkschaftlichen Vertretung in der Deutschen Bahn AG.“

Ökonomen erwarten sogar eingeringeres Bruttoinlandsprodukt

Der Ausstand löst neben Ärger bei Bahnreisenden in der Wirtschaft Sorge vor einem Stillstand aus. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer, bezifferte die Streikkosten auf eine halbe Milliarde Euro. „Lager laufen leer, die Produktion stottert, es kann sogar zu Produktionsausfällen kommen.“

Die Chemie- und Stahlindustrie, die viele Güter über die Schiene transportiert, reagierte ebenfalls verärgert. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer forderte die GDL auf, den Streik sofort abzusagen. „Der Streik trifft die ganze Breite der deutschen Industrie, vor allem aber die Automobil- und Stahlindustrie sowie die Chemie- und Rohstoffindustrie, die ohne pünktliche Zulieferungen innerhalb kürzester Zeit Produktionsausfälle erleiden“, sagte er.

Ökonomen zufolge kann der Ausstand sogar das Bruttoinlandsprodukt drücken. „Das könnte die Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal um 0,1 Prozentpunkte senken“, sagte der Deutschland-Chefvolkswirt der Bank UniCredit, Andreas Rees. Er rechnet für April bis Juni bislang mit einem Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent. „Je länger der Streik dauert, umso größer die Gefahr, dass auch mal Aufträge storniert werden.“

Ein Sieben-Tage-Streik im Güterverkehr treffe die Stahlindustrie als den größten Kunden der Bahn-Gütersparte DB Schenker Rail erheblich, sagte der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, Hans Jürgen Kerkhoff. 200.000 Tonnen, die jeden Tag für die Industrie von der Bahn transportiert würden, könnten nur teilweise auf Lastwagen oder Schiffe verteilt werden.

Auch die Chemiebranche mit rund einer halben Million Beschäftigten zeigte sich beunruhigt. „Störungen im Schienengüterverkehr haben weitreichende Auswirkungen auf die Branche und Kunden“, sagte eine Sprecherin des Verbands der Chemischen Industrie. „Wenn so ein Streik länger dauert, muss man mit Engpässen bei der Versorgung von Rohstoffen rechnen.“

Bahn-Personalvorstand Ulrich Weber sagte über den fast einwöchigen Streik: „Das ist für unsere Kunden ein Schlag ins Gesicht .“ Die GDL habe jedes Verantwortungsbewusstsein verloren. Kern des Konflikts ist, dass die GDL neben den Lokführern auch Zugbegleiter und Rangierführer vertreten will. Für sie will aber auch die größere Eisenbahn und Verkehrsgewerkschaft (EVG) verhandeln. Die Bahn lehnt aber unterschiedliche Verträge für die gleiche Beschäftigtengruppe ab.

Gewerkschaftschef Weselsky lehnteine Schlichtung rundweg ab

GDL-Chef Claus Weselsky reagierte auf die Forderungen nach Schlichtung mit einem unmissverständlichen Nein: „Wir werden in keine Schlichtung gehen, weil wir grundgesetzlich geschützte Rechte in keine Schlichtung bringen“, sagte er. Es sei gerichtlich geklärt, dass die GDL für ihre Mitglieder, also auch für Zugpersonal und Rangierführer, Tarifverträge unabhängig abschließen dürfe. Neben der Regierung hatte zuvor auch die GDL-Dachorganisation „Deutscher Beamtenbund“ (dbb), die den Streik finanziert, eine Schlichtung ins Gespräch gebracht, um in dem fast einjährigen Konflikt voranzukommen. Dies müssten jedoch Bahn und GDL entscheiden, hieß es.

Während am Montag die ersten Güterzüge stehen blieben, setzte sich in Berlin fort, was Claus Weselsky und seine GDL unter Zeitdruck setzt und Wirtschaftsminister Gabriel von „Machtfragen“ sprechen lässt: Die Beratungen über das von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) vorgelegte Tarifeinheitsgesetz. Der Bundestag hat es bereits in erster Lesung beraten, am Montag folgte eine Expertenanhörung im Arbeitsausschuss. Noch im Mai sind die abschließenden Beratungen geplant, so dass das umstrittene Gesetz schon zum 1. Juli in Kraft treten könnte. Damit würden die Bemühungen der GDL, ihren Einfluss bei der Bahn auf andere Berufsgruppen auszuweiten, jäh ausgebremst. Es sei denn, die Gewerkschaft hat vorher Erfolg bei den Verhandlungen. Der Vorwurf Weselskys, die Bahn spiele mit ihren Angeboten auf Zeit, scheint vor diesem Hintergrund nicht ganz von der Hand zu weisen zu sein.

Nur so ist denn auch zu verstehen, weshalb die GDL nach bereits sieben Streiks nun mit dem achten und wohl längsten in der Bahn-Geschichte noch einen draufsetzt – und so jegliche Sympathie bei vielen Bahnfahrern zu verspielen droht. Das ahnt auch Claus Weselsky: „Wir wissen, dass die Bahnkunden nicht vor Begeisterung am Bahnsteig stehen und klatschen“, sagte er am Montag.

Das in weiten Teilen der Bevölkerung als völlig unangemessen empfundene Streikverhalten der Lokführergewerkschaft aber bestärkt und beschleunigt die Absicht der Politik, beim Tarifeinheitsgesetz aufs Tempo zu drücken. CDU-Generalsekretär Peter Tauber sieht zwar keine Notwendigkeit, das Gesetz nachzubessern. Aber: „Das ist vereinbart in der Koalition, und wir treiben das voran.“

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