Die Adolf-Jäger-Kampfbahn, Deutschlands zweitältestes Stadion, wirkt wie eine verblassende Fußballerinnerung. Nun dürfte ihr letztes Stündlein geschlagen haben

Zeitmaschinen kommen meist futuristisch daher: Sie verfügen über blinkende Anzeigen, bunte Lichter und Knöpfe in allen Schattierungen, doch bislang funktionieren sie leider nur in der Fantasie. Die Zeitmaschine an der Griegstraße hingegen kommt ohne diesen Zinnober aus und ist Wirklichkeit: Eine alte, verschüttete, ja totgeglaubte Welt des Amateurfußballs lebt auf der Adolf-Jäger-Kampfbahn weiter. Noch.

Schon der Name ist Programm: In einer Zeit, in der selbst Drittligisten stolz auf ihre hypermodernen Vollfunktions-„Arenen“ sind, geht es hier einfach nur um – Fußball. Wer durch das Tor tritt, wähnt sich nicht mehr im 21. Jahrhundert, sondern in der Zeit des „Elf Freunde müsst ihr sein“. Die Architektur stammt aus der Ära von Mittelläufer, Vorstopper oder Ausputzer, von Libero und, nun ja, Sturmführer. Die Adolf-Jäger-Kampfbahn ist das zweitälteste deutsche Stadion nach dem Waldau-Stadion der Stuttgarter Kickers von 1905. In Ottensen rollt der Ball seit 1908.

Das sieht man der Sportstätte an. Die Haupttribüne von 1958 hat schon bessere Zeiten und bessere Spiele gesehen; Buschwerk überwuchert die obersten Traversen der Gegengeraden, die Stufen sind krumm und schief, selbst der eine oder andere Flutlichtmast scheint sich zu neigen. Es ist eine Ästhetik des Verlebten. Die Kampfbahn, sie ist nicht schön, aber echt, sie ist nicht glatt, sondern vernarbt, nicht modisch-modern, aber geerdet. Sie gleicht einem faltigen Gesicht, sie ist ein Charakterkopf.

Aber für den Verein mitunter zum Haareraufen – erst am Gründonnerstag musste das Spiel gegen Süderelbe kurzfristig wegen Unbespielbarkeit des Platzes abgesagt werden. Es wäre ein historisches Spiel geworden, Spiel eins nach einer historischen Entscheidung. Der Vorstand des Altonaer Fußball-Clubs von 1893 hat in dieser Woche verkündet, dass der Verein nach langer Suche endlich umziehen kann. Die Adolf-Jäger-Kampfbahn wäre dann Geschichte, verkündet ironischerweise am 31. März, dem Geburtstag des Altonaer Nationalspieler Adolf Jäger, dessen Name das Stadion seit 1944 trägt.

Diese Nachricht hat auch die erreicht, die am Donnerstag zwar vor geöffnetem Tor, aber vor einem leeren Platz stehen. Lothar Hellbach ist einer von ihnen: „Ich wohne ganz in der Nähe. Früher bin ich immer los, wenn ich Stimmen hörte. Da hatte ich noch kein Internet“, sagt Hellbach. Ganze Straßenzüge im klassischen Hamburger Rotklinker frieden den Platz ein, in einer Ecke steht ein blaues, siebenstöckiges Hochhaus wie ein gigantischer Eckstein und erinnert ein wenig an den Bunker am Millerntor. Hellberg, einstmals selbst Oberligaspieler beim FC Borussia Harburg, bedauert das Ende des Stadions. „Ich befürchte, dass es so ein 08/15-Stadion wird mit Kunstrasen und Betontraversen; ein Stadion, in dem man sich nicht wiederfindet“, sagt der Dauerkartenbesitzer. „Das ist doch grässlich. Da atmet nichts.“

Die Adolf-Jäger-Kampfbahn atmet viel, viel Geschichte: Eröffnet wurde das Stadion auf gepachtetem Grund am 30. August 1908 bei echtem Hamburger Wetter – es regnet in Strömen – mit einem standesgemäßen 7:1 gegen den Lübecker BC. Die Vorlage zum ersten Tor kam vom legendären Adolf Jäger. In den Jahren darauf kaufte der Verein das Gelände, verschönerte es und baute aus – die kleine Griegstraße (damals Brahmsstraße) beherbergte zwischenzeitlich das größte Stadion Norddeutschlands. Zur offiziellen Einweihung am 30. Oktober 1921 sahen 16.000 Zuschauern ein 1:1 gegen den Hamburger SV, angeblich sollten sogar 35.000 Menschen dort Platz finden. Der ewige Zuschauerrekord datiert vom 8. März 1953: 27.000 Menschen sehen den Altonaer FC von 1893 gegen den Hamburger SV mit 1:4 untergehen.

Aber wer schaut schon auf die Ergebnisse; Fußball ist hier ein Gesamtkunstwerk. Da fliegt ein abgeblockter Ball schon einmal in die Bierbude oder räumt die Stehtische ab. „Ey, bleibt auf eurem Spielfeld“, heißt es dann lapidar bei den Getroffenen. Und eine neue Runde wird bestellt.

Nun liegt die Bierbude verwaist da. Und das Versprechen am Imbiss, „wir geben der Wurst die Würde zurück“ muss zwangsläufig ein leeres bleiben. Heute ist kein Geschäft zu machen, auch wenn vereinzelt Menschen ins Stadion tröpfeln. Frank und Silvia Jensen sind gerade mit Hund Flori gekommen und sehen sich enttäuscht um. Eigentlich sind sie Fans von Süderelbe, aber zu Altona kommen sie gern. „Wir sind immer mal wieder hier – aus alter Verbundenheit mit dem Platz.“ Jensen war auch beim besonderen Abschiedsspiel vor dem Aufstieg in die Regionalliga dabei. Die Saison 2008/2009 war die einzige, die Altona 93 nicht in der Adolf-Jäger-Kampfbahn spielen durfte. Das Stadion entspricht nicht mehr den Anforderungen der DFL an moderne Spielstätten. Am 25. Mai 2008 schlug Altona 93 Bergedorf 85 mit 9:0. „Das war glorreich“, erinnert sich Jensen. „Da habe ich direkt hinter dem Tor gestanden.“

Man ist so nah dran, dass man mit dem Torhüter nett plaudern könnte. Heimspiele an der Griegstraße mögen nicht immer Fußballfesten gleichen, ein Erlebnis sind sie allemal, weil sie den Fußball von jedem Event und Brimborium entkernen. Heimspiele sind immer auch Nachbarschaftstreff, Sonntagsausflug, Volksfest. Der Bummel um das Grasrechteck ist ein Spaziergang durch ein buntes Ottensen.

Gleich vorne an der Haupttribüne sammeln sich in der so genannten Meckerecke die Nörgler aus Überzeugung; auf der Haupttribüne, hier haben die 1400 Schalensitze aus dem abgerissenen Volksparkstadion 2001 ihre letzte Ruhestatt gefunden, sitzen die Eltern der Einkaufkinder neben Rentnern in Regenjacken. Die Umkleidekabinen dahinter mögen nach Schweiß und Socken aus elf Jahrzehnten riechen, aber die Kicker sind zum Greifen nah, wenn sie im Spielertunnel warten. Und direkt darüber liegt die Reporterkabine, in der schon 1958 der NDR Kamerapositionen fest installierte. Sie wird nur noch selten gebraucht.

Zwei junge Fans haben an diesem kalten Gründonnerstagabend auf der Tribüne Platz genommen; ganz hinten in der letzten Reihe. Sie starren wehmütig auf den Rasen. Groß reden wollen sie nicht, „einfach nur sitzen“. Nur soviel: „Das findet hier niemand gut.“

Hinter dem Tor Richtung Grünebergstraße trainieren nun die Spieler von Altona 93. Sonst tummelt sich dort der Nachwuchs – hier jagen während der Ligaspiele Jungs dem runden Leder nach oder spielen Verstecken, hier verwandelt sich der Fußball- zum Abenteuerspielplatz.

Die Gegengerade ist die Heimstatt hartgesottener Fans, entweder sticht ihnen die Sonne in die Augen, oder der Regen peitscht ins Gesicht. Nun liegt sie verlassen da, und es beschleichen den Besucher Zweifel, ob die Kampfbahn noch ein genutztes Stadion ist oder eher eine prähistorische Ausgrabungsstätte. Waren die Wellenbrecher sonst schon so schief? Wuchsen die Dornen auf den obersten Traversen immer so hoch? Und wie alt sind eigentlich die Schilder auf der Bandenwerbung, die für Armaturen, ein Steakhaus und Schauma Reklame machen?

Bei den Spielen steht Hellbach stets auf der Gegengerade. „Wenn das alles hier verschwände, es wäre wirklich sauschade. Das findest du nicht mehr.“ Vielleicht liegt es am kalten Nordwind, der durch die Kampfbahn pfeift, die Karwoche, den Spielausfall, die Nachrichtenlage, dass alle in Moll gestimmt sind.

Fan Gert Möller, den die Absage auch zu spät erreicht hat, erinnert sich an ruhmreiche Zeiten. „Ich war als Siebenjähriger zum ersten Mal hier. Damals waren wir mit St. Pauli auf Augenhöhe. Da war hier richtig viel los“, sagt Möller. „Ach, es wäre schön, wenn die Kampfbahn hier bliebe.“

Über den sogenannten Zeckenhügel, der gerade abgesperrt ist – vielleicht droht noch eine der 1933 gepflanzten Pappeln umzufallen – geht es Richtung Ausgang. Hier stehen sonst Punks und Bauwagenbewohner aus der Ottenser Szene. Einige von ihnen reisen regelmäßig auf einem altersschwachen Anhänger an, gezogen von einem Trecker, andere haben eine selbst gemachte Anzeigentafel dabei. Es ist ein munteres Völkchen, das Altona 93 für sich entdeckt hat, nachdem einigen von ihnen der FC St. Pauli zu kommerziell geworden ist. Vor und nach den Spielen feiern die Fans am Vereinsheim „Achtzehn 93“ bei Punkmusik das Leben, den Fußball oder einfach sich selbst. Heute ist auch das „Achtzehn 93“ geschlossen. Was bleibt in der Griegstraße außer 08/15?

Viele Hymen auf das Stadion sind erschienen, im Abendblatt, bei Spiegel online, in „11 Freunde“; ein ganzes Buch widmet sich der bewegten Geschichte (Faszination Adolf-Jäger-Kampfbahn, Werkstatt-Verlag, 19,80 Euro). Die Kampfbahn ist eines dieser Denkmäler auf den zweiten Blick, welche die Freie und Abrissstadt Hamburg oft erst entdeckt, wenn es zu spät ist. Schon bald dürften sich auch hier die Kräne drehen, um die ehrgeizigen Wohnungsbauprogramme des Senats zu verwirklichen. Der Oberligist hatte schon 2007 das vereinseigene Gelände für 11,25 Millionen Euro an den Altonaer Spar- und Bauverein und die Behrendt Wohnungsbau verkauft. Allerdings war der Vollzug des Vertrags an die Bedingung geknüpft, für den Verein eine geeignete Fläche für den Stadionneubau zu finden. In dieser Woche war es soweit. Das neue Stadion soll an der Memellandallee unweit des Bahnhofs Diebsteich entstehen.

Viele Gründe sprechen für den Umzug. Wirtschaftliche, weil das marode Stadion ein Millionengrab ist. Soziale, weil damit in Ottensen 110 dringend benötigte Wohnungen entstehen könnten. Demokratische, weil die Politik und der Verein es so wollen. Und sportliche: Altona 93 strebt mittelfristig in die Regionalliga und benötigt ein modernes Stadion und angemessene Trainingsflächen. Der engagierte Vorstand sieht im Verkauf die „letzte Möglichkeit, einen Umzug – und damit nicht nur den Erhalt des Ligabetriebs, sondern auch sportliche Perspektiven – realisieren und schaffen zu können.“ Der Tradition fühlt man sich verpflichtet, der alte Haupteingang der Kampfbahn könnte an der Memellandallee nachgebaut werden.

Der Kopf sagt ja, aber was wird aus der Seele? An der Griegstraße schlägt ein letztes Herz der Fußball-Romantik. Am Gründonnerstag kommen spät drei Engländer zur Adolf-Jäger-Kampfbahn. Sie sind des Deutschen nicht mächtig, aber hungrig auf das Spiel. Die drei tragen Trikots des befreundeten Club Dulwich Hamlet. Man kommt ins Gespräch, plaudert über Gott, die Welt und den geplanten Umzug. Der Kommentar der Engländer ist kurz. „Incredible“. Unglaublich.