Die Hamburgerin Hilde Michnia war im Krieg Aufseherin im KZ Bergen-Belsen. Welche Schuld hat sie damals auf sich geladen? Eine Spurensuche.

So beginnt eine der ersten britischen Dokumentationsfilme über das Konzentrationslager Bergen-Belsen, der direkt nach der Befreiung gedreht wurde: „Ich bin sicher, dass kein Mensch auf dieser Erde jemals angemessen den Schrecken und den Horror beschreiben kann, den diese armen Menschen erlebten.“ Die Soldaten, die diesen Ort im April 1945 betraten, wähnten sich in der Hölle auf Erden. Meilenweit war der Gestank verbrannter Leichen zu riechen, überall lagen Tote, gestapelt in Gruben und auf Haufen; ausgemergelte, gequälte, von Typhus gepeinigte Menschen wankten den Befreiern entgegen. „Bei 6000 haben wir aufgehört, die Leichen zu zählen“, sagt der Kommentator.

In einer Bildsequenz zeigt die Kamera einen Lastwagen, in dem weibliche KZ-Aufseherinnen weggefahren werden. Unter ihnen ist auch eine junge Frau: Hilde Lisiewicz, damals 22 Jahre alt. Sie wurde im ersten „Belsen trial“, den die britische Armee in Lüneburg gegen frühere SS-Leute ansetzte, zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt – allerdings nicht wegen einer konkreten Tat, sondern wegen ihres Dienstes in den Wachmannschaften allgemein. Ende Januar 2015 sprach sie an der Haustür kurz mit einem Reporter. Doch das ernüchternde Interview förderte nur zutage, dass die jetzt 93-jährige Hamburgerin Hilde Michnia, wie sie nach ihrer Heirat heißt, nichts bereut und nichts einsieht.

Jetzt, am Ende ihres Lebens, interessiert sich die Hamburger Staatsanwaltschaft für ihr Vorleben als KZ-Aufseherin. Nachdem der Lüneburger Hans-Jürgen Brennecke eine Strafanzeige gestellt hatte, in der auf ihre mögliche Teilnahme an einem Todesmarsch hinwies, die sie selbst zwischen 2004 und 2015 an vier unterschiedlichen Stellen zugibt, eröffnete die zuständige Abteilung 73 (NS-Verbrechen) ein Ermittlungsverfahren gegen die Rentnerin – wegen Mordes (AZ 7305 Js 1/15).

Auch die Ermittler dürften kaum auf eine Kooperation Michnias hoffen. Im Interview gab sie an, weder von Leichen noch von sonstigen Gräueltaten irgendetwas mitbekommen zu haben. Bei dem Marsch, bei dem sie dabei gewesen sei, sei keiner umgekommen. „Ich habe nichts gemacht“, sagte sie dieser Zeitung.

Die Staatsanwaltschaft muss nun versuchen, Michnias Weg in die SS und ihren Werdegang dort zu rekonstruieren. Die Redaktion konnte Einsicht nehmen in persönliche Aufzeichnungen der Beschuldigten, Gerichtsunterlagen aus dem Belsen-Prozess und wissenschaftliche Studien zu den Todesmärschen. Diese Dokumente bilden vermutlich den Grundstock der Akte Michnia, die die Staatsanwaltschaft derzeit zusammenstellt.

Nach den Recherchen arbeitete Hilde Lisiewicz 1939 in einer Gärtnerei in Schlesien, bis sie im Oktober 1940 in den „Reichsarbeitsdienst“ eintrat. Im März 1941 arbeitete sie in einem Restaurant, bis sie im Februar 1943 schließlich zu einer Munitionsfabrik im damals niederschlesischen Grünberg eingesetzt wurde. Die Fabrik wurde als Nebenlager des benachbarten Konzentrationslagers Groß-Rosen geführt. Dort bewachte sie Juden, die Sklavenarbeit verrichten mussten. Am 25. November 1944 trat sie offiziell in die SS im Konzentrationslager Groß-Rosen ein und wurde zur Schulung nach Langenliebau geschickt. Am 29. Dezember 1944 kehrte sie in die Munitionsfabrik des Nebenlagers zurück.

Bereits einen Monat später, am 29. Januar 1945, wurde das Lager wegen der heranrückenden Roten Armee aufgegeben. Zusammen mit einer unbekannten Zahl weiblicher Häftlinge marschierte Michnia nach Guben, 60 Kilometer entfernt. Dort traf sie ihren Angaben zufolge am 3. Februar ein und wurde von dort nach Bergen-Belsen beordert. Nachdem sie sich angeblich einen Monat lang abgesetzt und ihre Mutter besucht haben soll, erreichte sie das KZ-Lager am 3. März 1945. Dort arbeitete sie als Aufseherin in der Küche, beim „Holz-Kommando“ und „Gemüse-Kommando“. Bis zur Befreiung des Lagers am 15. April arbeitete sie in Bergen-Belsen. Zusammen mit den anderen Wachmannschaften internierten sie die Briten bis zum Prozessbeginn am 17. September 1945.

Das Gericht verurteilte sie am 17. November zu einem Jahr Haft. Die Zeugenaussage der ehemaligen Gefangenen Dora Almaleh, nach der sie zwei Häftlinge zu Tode geprügelt und getreten haben soll, wurde wohl wenig berücksichtigt. Auch die Zeugin Alexan­dra Siwidowa gab an, sie habe Lisiewicz mehrfach gesehen, wie sie Gefangene mit einem Stock geprügelt habe, weil diese Lebensmittel gestohlen hätten. „Viele Häftlinge mussten danach auf die Krankenstation, ich weiß aber nicht, ob sie starben.“ Lisiewicz wiederum verteidigte sich, Gefangene nur „ins Gesicht geschlagen“ zu haben. Ansonsten habe sie „nur ihre Pflicht getan“.

Ihr taktisches Verhältnis zur Wahrheit offenbart sich etwa in einem Video, das in der Gedenkstätte Bergen-Belsen im Jahre 2004 aufgenommen wurde. Während sie im Gespräch mit der Redaktion nichts gehört oder gesehen haben will und bereits 1945 angab, von keinen Gräueltaten gewusst zu haben, verplappert sich die ehemalige Aufseherin im Video-Interview. Da sagte sie nämlich, wie es nach der Befreiung 1945 zuging: „Eines schönen Tages hieß es ,Leichen tragen‘. Und da hat man erst gesehen, wie viele Leichen da waren. (...) Da waren, wie gesagt, Berge von Leichen. (...) Dann haben wir – glaube ich – vier Tage Leichen getragen. Und in die Massengräber geworfen. Ich glaube, das war das Schlimmste.“ Vorher will sie aber keine Notiz von den verwesenden Leichen genommen haben. Während Michnias Tätigkeit in Bergen-Belsen durch Zeugenaussagen und ihre eigenen Angaben relativ gut dokumentiert ist, gibt es bei der Rekonstruktion der Todesmärsche und ihrer möglichen Beteiligung noch einige Unklarheiten. Bei welchen der zahlreichen Märsche – insgesamt wurde 97.000 Häftlinge aus Groß-Rosen in den Westen getrieben – führte sie die Aufsicht?

Michnia erzählt in zwei Video-Interviews 2004, dass sie Ende Januar 1945 eine Woche lang mit KZ-Häftlingen marschiert ist: Übernachtet hätten sie in leeren Bauernhöfen. Jeden Tag wurde warmes Essen und heißer Kakao gekocht, auch für die Gefangenen. Die Milch kam von den Kühen, die sie ja selbst melken konnte. „Jeder hat dann sein Essen gehabt nachher.“ Die frühere KZ-Aufseherin selbst gibt aber in einem Brief vom 13. Juli 2008 an ihre ehemalige Nachbarin an, bei einem einwöchigen Todesmarsch nach Guben dabei gewesen zu sein. „Wir waren eine Woche unterwegs, die Häftlinge und die Aufseher. Es war eine schreckliche Zeit. Wir hatten nichts zu essen und keinen Platz zum Schlafen. Ich kann mich kaum erinnern, weil es so fürchterlich war“, erzählte sie ihrer Freundin und Nachbarin, einer Irin, die lange neben ihr wohnte und vor einigen Jahren wieder nach Dublin zurückkehrte.

Diese Nachbarin war es auch, die den Holocaust-Überlebenden Tomi Reichental auf Michnia hinwies. Reichental überlebte das KZ Begen-Belsen als neunjähriger Junge, der zwischen den Leichenbergen Fußball spielte und versuchte, vor den zufälligen Erschießungen der SS-Wachleute verschont zu bleiben. Der gebürtige Slowake drehte einen Dokumentarfilm über sein Leben („Close to Evil“) und zeigt darin auch sein intensives Bemühen, sich mit Michnia zu treffen, ihr die Hand zu schütteln und vielleicht sogar eine Geste der Versöhnung zu finden.

Doch diese Hoffnung hat sich erledigt. Michnia lehnte jeden Kontakt ab. „Was mich traurig macht, ist nicht, dass sie damals so gehandelt hat“, sagt Reichental. „Sondern, dass sie immer noch in der Gedankenwelt der 40er-Jahre steckt.“

Mindestens 52.000 Menschen starben in Bergen-Belsen; für Tausende Weitere war es die Durchgangstation in ein Vernichtungslager.

Was sagt sie heute dazu? Welche Bilder hat sie im Kopf? Den Opfern fällt es bis heute schwer, über das Erlebte zu sprechen, wie geht es ihr als Täterin? Hilde Michnia macht die Tür nicht ganz auf. Keine Fremden in die Wohnung lassen! Da hält sie sich dran. Sie lächelt.

„Ach, ich habe nichts gemacht, ich war nur in der Küche.“

Und die Gefangenen, was hat sie denn geglaubt, warum die dort sind? „Da hat man sich keine Gedanken gemacht.“

Aber es waren doch fast alles Juden? Achselzucken. „Ja, das stimmt.“

Und die schrecklichen Bilder, die Leichenberge, der unsagbare Gestank, die Tausenden ausgemergelten, kranken, gequälten Menschen – was ist damit?

„Habe ich doch gar nicht gesehen! Die waren an einer ganz anderen Stelle im Lager.”

Warum, glauben Sie, waren die Menschen denn im Lager?

„Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht.“

Habe ich nicht gewusst. Wir waren dumm. Man konnte nichts machen. Eine halbe Stunde lang dreht sich das Gespräch um Fragen von Schuld und Sühne, von schlechtem Gewissen, von Zweifeln. Aber es kommen nur Phrasen zurück, Floskeln, beredtes Schweigen, wie es seit 1945 millionenfach über den millionenfachen Mord ausgeschüttet wurde. Es gibt aber etwas, was sie heute umtreibt. „Ich bin eine gläubige Katholikin, seit einem halben Jahr kann ich leider nicht mehr ohne fremde Hilfe in die Kirche gehen, das belastet mich sehr“, sagt Hilde Michnia. Im Hauseingang steht ihr Rollator, „mein Porsche” sagt sie. Und lächelt.

Über die Christin Hilde Michnia ist auch berichtet worden, zum Beispiel im „Elbe Wochenblatt“. Da ließ sich die rüstige Jubilarin zum 90. Geburtstag feiern, erzählte, wie sie sich in ihrer Kirchengemeinde engagiert und gab die gute Omi von nebenan. Über Hilde Lisiewicz fand sich in dem Bericht kein Wort. Nie zuvor ist über die Taten einer der letzten noch lebenden KZ-Wächterinnen eine Zeile geschrieben worden.

Frau Michnia, wissen Sie, dass die Behörden gegen Sie ermitteln? – „Nein. Aber die werden auch nichts finden.“

Sie sind doch schon mal verurteilt worden, 1945. – „Ja, das war ein Schauprozess. Mehrere Angeklagte wurden hingerichtet. Das tut mir sehr leid.“

Ein Foto lässt sie gerne machen, sie lächelt dabei ihr Großmutter-Lächeln. Dann geht die Tür wieder zu, das Gespräch ist beendet. Über dem Türrahmen steht in Kreide „C+M+B“, Gott schütze dieses Haus.