Der Entwurf der Hamburger Elbphilharmonie war Opus 230 im Werkkatalog von Jacques Herzog und Pierre de Meuron. Aktuell sind sie bei Nummer 359. Die Ideen der Schweizer Architekten sind weltweit gefragt. Trotzdem sind die beiden in ihrer Geburtsstadt Basel geblieben, wo 34 ihrer Entwürfe - von Bürogebäuden bis zum Stadion des FC Basel - realisiert wurden. Ein Werkstattbesuch in Basel von Joachim Mischke.

Schon vor dem ersten Schritt auf das Firmengelände am Rheinufer begegnet man einer metallgewordenen Visitenkarte von Herzog & de Meuron. Das wuchtige Tor der Einfahrt ist eine Kostprobe der kunstvoll gelochten Kupferplatten, die ihr De Young Museum im Golden Gate Park von San Francisco umhüllen. Ein HdM-Unikat, das typisch ist für die Denk- und Bauweise dieses Duos aus Basel. Der erste Blick überwältigt, weil das verwendete Material schlichtweg toll aussieht; der zweite überzeugt, weil die jeweils notwendige Funktion so schlicht wie genial umgesetzt wurde.

Das besondere Kennzeichen von Herzog & de Meuron? Es gibt keines. Zumindest keines, das man so schnell und einfach als postkartentaugliches Logo erkennt wie die amorphen Aluminium-Knäuel von Frank Gehry, die als Guggenheim Museum in Bilbao fast genauso aussehen wie als Walt Disney Concert Hall in Los Angeles. Bei HdM ist der Stil subtiler, versteckt, streng und unterschwellig verspielt. Diese Doppelbödigkeit hat System. "Wir arbeiten an vielen Dingen parallel. Es gibt aber immer wieder Elemente von einem Projekt, die man woanders verwenden kann", meint Herzog am zweiten Besuchstag bei einem Gespräch im Firmengarten. Sie versuchten in ihren Entwürfen immer, den Unterschied zwischen "gut" und "sehr gut" hinzubekommen, ergänzt de Meuron diese Definition.

Wie oft das mit dem konsequent eigenwilligen "Sehr gut" klappt, zeigt sich, wenn man die seltene Chance bekommt, in Basel einmal ausgiebig hinter die Kulissen zu blicken. Hinter dem Kupfertor fächert sich der HdM-Campus aus Gebäuden und kleinen Freiflächen auf. Im Altbau ganz links haben die beiden Firmengründer begonnen, mittlerweile sind es sieben Häuser, dazu kommen HdM-Filialen in Hamburg, New York und Madrid. Ihren Pritzker-Preis, der als Architektur-Nobelpreis gilt, erhielt HdM 2001 für den Entwurf der Tate Modern Gallery in London. Damit nahm die internationale Karriere richtig Fahrt auf.

250 Mitarbeiter aus mehr als 30 Ländern knien sich momentan am Basler Stammsitz in die Probleme, die Bauen in so großem Maßstab mit sich bringt, dazu kommen 100 weitere Spezialisten in den Außenbüros. Das Durchschnittsalter liegt bei 33. Der lässige Dresscode erinnert ans Schanzenviertel oder an Berlin-Friedrichshain. Anzüge tragen bei HdM außer H und dM selbst wohl höchstens die Kunden und Interessenten. An diesem Morgen, bei der ersten, noch zufälligen Begegnung, trägt Herzog nur Sportklamotten, empfiehlt dem Gast von der Elbe wegen der brütenden Spätsommerhitze fröhlich eine Runde Schwimmen im Rhein und flitzt wieder davon.

Jeden Tag gibt es Plauderpausen um 11 und 16 Uhr auf dem Hof, bei Kaffee, Tee und Marmeladenbrot, die Amtssprache ist Englisch. Auch auf dem Schild neben der Kaffeemaschine, "THANKS!!!", die Aufforderung, wieder ordentlich wegzuräumen. Gelebte Kreativität und strikte Ordnung, aber auch das Bewusstsein, Teil von etwas Besonderem, Einzigartigem zu sein. Architektur von der Stange gibt es hier jedenfalls nicht und auch keine Rechenknechte frisch von der Uni, die sich nur an drögen Statikzahlen müde arbeiten müssen.

Die gedanklichen Fundamente, der erste zündende Funke und das freie vor sich hin Fantasieren, das mag in dieser Firma vor allem Chefsache sein. So war das auch mit den Ideen für die Hamburger Elbphilharmonie, die in Basel entstanden sind (siehe Kasten rechts). Bei einem ersten Brainstorming von Herzog und de Meuron mit dem Initiator Alexander Gérard in der Firmen-Bibliothek, die neben dröger Fachliteratur und Baumaterial-Katalogen auch jede Menge Kunst- und Designbände zu bieten hat. Doch alles, was nach dem Finden und Festhalten der frühen Ideen kommt, das ist unentwegte, konzentrierte Teamarbeit. Deswegen befinden sich auch schon wenige Schritte hinter dem Kupfertor die ersten Großraumbüros, allesamt vollgeschaufelt mit Computern, komplizierten Entwurfskizzen und Bergen von Arbeitsmodellen. Scheinbare Unordnung, unendlich viele Details, an denen man sich auch als Nicht-vom-Fach-Besucher kaum sattsehen kann. Eben noch begegnet man der Miniatur eines Kulturzentrums für Sao Paolo, ein paar Schritte weiter geht es um das Problem, sich bei der Gestaltung eines Museums im indischen Kolkata, dem früheren Kalkutta, nicht beim kulturell angemessenen Farbton zu vergreifen. Im ersten Stock dieses Trakts entsteht eine Bank-Zentrale für Madrid. Ein anderes Team feilt an einem Museumsbau für Miami, der etwa 2013 eröffnet werden soll. Der Clou dort: Die Ausstellungsflächen schweben in hoch aufgehängten Boxen, alles ist luftig, leicht und offen, vom Dachgeflecht werden üppig bewachsene Säulen herabhängen.

Selbst ein HdM-Parkhaus, ebenfalls für Miami entworfen, ist alles andere als nur ein schnödes Parkhaus, sondern ein Ereignis. Es ist komplett mauerlos, dekorativ und soll vielseitig nutzbar sein. Kaum zu glauben, dass das Abstellen eines Fortbewegungsmittels in einer Beton-Struktur so sexy inszeniert werden kann. Ein Miniaturwunderland für Spitzenarchitektur, so weit das Auge reicht. Auch der Rohstoff für diese Liliput-Sensationen ist hausgemacht. Denn im Gebäude weiter rechts, in dem einst die Rezeptur für Elmex-Zahnpasta angerührt wurde, gibt es große Werkstätten, um die Projekt-Modelle anzufertigen. Im Keller liefern Spezialmaschinen den Nachschub an Einzelteilen. Und trotz der Hightech-Programme auf ihrem Computer gilt für die Mitarbeiterin, die entschlossen auf ein offenbar bockendes Mini-Gebäudeteil einhämmert, auch noch die gute alte Faustregel: Was nicht passt, wird passend gemacht.

Rund 40 Projekte sind hier, in unterschiedlichen Reifegraden, gleichzeitig in Arbeit, zwölf werden gerade gebaut. Die beiden obersten Chefs haben neben ihren Dienstreisen zu Auftraggebern und Interessenten rund um die Welt alles im Blick, und das regelmäßig. Müssen sie auch. "Wir haben einen ganz strikten Fahrplan und gehen an bestimmten Tagen zu bestimmten Projekten", erklärt Herzog in einer seiner knappen freien Arbeitsminuten, "in einem Chaos kann man nicht kreativ sein. Wir müssen uns disziplinieren, um im Kopf genug Freiheit zu haben."

Ansonsten wird mit der Präzision eidgenössischer Uhrwerke delegiert. Jeder der Partner unterhalb der Chefebene ist jeweils für eine Handvoll Projekte zuständig. Auf dem Zettel von Ascan Mergenthaler steht neben der Elbphilharmonie in Hamburg auch ein Konzept für Paris: Le Projet Triangle. Ein drei-eckiges Büro-Hochhaus, rund 50 Stockwerke hoch, das von vorn an ein Geodreieck erinnert und seitlich fast genauso schmal ist. Auch hierbei war nicht das vordergründige Schielen auf den "Wow-Faktor" das Wichtigste, ebenso wenig eine Anspielung auf das schon vorhandene Pariser Wahrzeichen Eiffelturm. Die Form ergab sich wie von selbst aus den Anforderungen und den städtebaulichen Gegebenheiten des Standorts. Radikal zu Ende gedacht, ging es hier nicht anders. Man muss nur erst mal darauf kommen und das dann auch mit den technischen Möglichkeiten zeitgenössischer Architektur durchziehen wollen. Wenn diese Mischung aus Pflicht und Kür gelingt, bekommen Orte mehr als ein extrem anspruchsvoll gebautes Objekt. Sie bekommen einen Charakter, der sie unverwechselbar macht.

"Architektur ist so wichtig für das Leben", philosophiert Herzog im Firmengarten, "sie ist wie ein Gefäß, in dem sich unser aller Leben abspielt. Das ist eine ganz große Verantwortung, die wir haben, weil das öffentliche Leben definiert, wie Menschen miteinander in Beziehung treten können - oder eben nicht."

Bei dieser Beziehungs-Arbeit ist Herzog ohne de Meuron nicht denkbar.

Herzog, schlank und asketisch, ist eher der dozierende Denker, aber ohne dabei Schlösser aus warmer Luft zu bauen, de Meuron eher ein gut geerdeter Pragmatiker. Deswegen fallen auch ihre Antworten auf die Frage, ob sie sich als Handwerker oder als Künstler verstehen, ganz unterschiedlich aus, ergeben aber dennoch ein Gesamtbild. Herzog bedauert, dass das rein Handwerkliche bei der modernen Architektur verschwunden sei. "Viel wichtiger ist jetzt der Detailreichtum, das Durchdachte, nicht nur das Funktionieren, sondern die Frage: Wie ist alles gemacht, wie ist der Raum?" De Meuron komplettiert: "Architekt ist ein eigener Beruf, Künstler ein anderer. Wichtig ist, dass wir versuchen, Antworten auf die gestellten Fragen zu finden. Das ist ein Ding, das ständig im Fluss ist." Auch einen Skizzenblock gibt's nicht, erzählt Herzog, "das läuft alles auf die Harddisk im Kopf".

Am liebsten soll alles Maßarbeit sein, damit nichts wie nur zufällig wirkt. Im Garten steht eine Bank auf Probe, die für die geplante Erweiterung der Tate Modern Gallery gedacht ist. Daneben steht ein Drahtgeflecht voller Feldsteine, Vorstudie der Außenmauer, mit der die beiden Architekten Ende der 90er-Jahre das "Dominus"-Weingut im kalifornischen Nappa Valley ummantelt haben. An einer Büro-Fassade ranken sich Pflanzen entlang; auch das ist nicht nur einfaches Grün, sondern eine Probe für ein Museums-Projekt. Für die Beleuchtung des Großen Saals der Elbphilharmonie hat man, so erzählt Mergenthaler, raffinierte Lichtelemente entwickelt, die Sitze für das Herz des neuen Konzerthauses in der HafenCity sind natürlich ebenso wenig x-beliebige Konfektionsware. Wenn schon, denn schon.

Bleibt bei so viel Exklusives im ganz großen Maßstab noch Zeit für, sagen wir mal, den Auftragsbau eines Privathauses? Kaum, dafür ist die HdM-Maschinerie längst zu groß. "Bei Einfamilienhaus-Projekten sind wir sehr zurückhaltend, weil Pierre und ich viel mehr als bei anderen Projekten gefordert sind, die oft sehr persönlichen Wünsche der Bauherrschaft zu erfüllen. Das macht nur Sinn, wenn auch eine wirklich persönliche oder gar freundschaftliche Beziehung zu einer Bauherrschaft da ist."

Es gibt aber auch Ausnahmen. Der Maler Georg Baselitz fragte um einen echten HdM an und wurde am Ammersee bedient, auch Künstler wie Fotograf Andreas Gursky oder der "Dominus"-Besitzer Christian Moueix in Kalifornien gehören zum illustren Kundenkreis, die in solchen Unikaten leben und arbeiten. Architektur als intellektuelles Geben und Nehmen, nicht nur die übliche Kombination aus Bauen und Bezahltwerden. "Das ist toll für uns", berichtet Herzog, "dieser Austausch mit Leuten, die auf ihrem Gebiet etwas Radikales machen." Über seine eigene Wohnsituation lässt sich Herzog nicht viel entlocken, nur, dass es etwas Selbstgebautes sei, das davor ein Mietshaus war.

Natürlich hat die Weltwirtschaftskrise auch auf diesem Architektur-Hochplateau ihre Spuren hinterlassen. Nicht bei der Zahl der Mitarbeiter oder der Projekte, die ist so hoch wie nie zuvor; auch nicht bei der an sich angenehmen Situation, längst nicht mehr jeden Auftrag annehmen oder jeden Wettbewerb gewinnen zu müssen. Dafür mussten Herzog & de Meuron aber mehrfach erste Entwürfe überarbeiten und sie den geschrumpften Budgets anpassen. Beispielsweise bei einem Museumsbau in den Hamptons an der US-Ostküste oder einem Messe-Zentrum für Basel, das nun deutlich überschaubarer ausfallen soll. Ihr wie ein DNS-Strang spiralig gedrehter Hochhaus-Entwurf für den Basler Pharmakonzern Roche blieb virtuell, inzwischen ist ein neues Design in Arbeit.

Sie können also auch kleiner und billiger, wenn es sein soll. Womit wir beim heiklen Thema "Elbphilharmonie und ihre Kosten" wären. An dieser Stelle sind sowohl Herzog als auch de Meuron aber so verschlossen wie die Safes der örtlichen Großbanken.

Dass Jacques Herzog und Pierre de Meuron beide 1950 in Basel geboren wurden, ist reiner Zufall. Dass sie nach wie vor dort arbeiten und wohnen und sich auch nichts anderes vorstellen können, nicht. "Wir hatten nie die Sehnsucht, nach London, Paris oder New York zu gehen", so Herzog, und de Meuron liefert einen weiteren guten, ganz praktischen Grund: "Jedes Mal, wenn ich hier bin, merke ich, ich bin viel effizienter. In London kann ich pro Tag vielleicht ein Meeting machen, den Rest bin ich im Taxi, in der U-Bahn oder im Stau."

Dass Basel weit über die Schweiz hinaus als eine geradezu kulturbesessene Stadt bekannt ist und sich als solche geschickt und entsprechend glaubwürdig vermarktet, macht die Atmosphäre nur noch besser. Eine Metropole wie Hamburg könnte froh sein, wenn sie entweder eine große Van-Gogh- oder eine große Giacometti-Ausstellung zu bieten hätte. Basel, mit 180 000 Einwohnern, bietet gerade sowohl als auch.

Hier haben Herzog & de Meuron die ersten Kostproben ihres Könnens abgeliefert, mittlerweile sind es rund 40 Projekte, die sich im Stadtgebiet finden lassen, vom umgebauten Wohnhaus bis zum Bahnhofsgebäude. Nirgendwo sonst, schwärmt auch de Meuron wie ein Architektur-Erstsemester, haben sich so viele berühmte Kollegen in Stein und anderen Materialien verewigt. Nirgendwo sonst können Architektur-Touristen so viele Arbeiten von Pritkzer-Gewinnern bestaunen. Mit den Auftragsarbeiten für drei große Pharma-Konzerne ist in Basel eben eine Menge möglich. "Der Piano hat hier gebaut, der Gehry und die Hadid haben hier gebaut, Nouvel wird hier bauen, Richard Meyer ... Auch was hier in der Kunst abläuft, ist im Vergleich zur Größe der Stadt einmalig."

Eine erste Adresse dafür, einige Autominuten vom HdM-Campus entfernt, ist das Schaulager, eine faszinierende Kombination aus Kunstdepot und Ausstellungsraum. Und wer hat's gebaut? Eben - die beiden Schweizer. Die Außenfassade besteht aus geradezu liebevoll bearbeitetem Kratzbeton, eine HdM-Mitarbeiterin schwärmt von der exquisiten Qualität eidgenössischen Betons wie andere Frauen höchstens noch von Schweizer Schokolade. In Zürich und Dresden wurde die Schaulager-Idee kopiert, doch die klaren Linien des Baseler Originals sind nicht zu toppen. Auf die finanziellen Möglichkeiten bei Kunsteinkäufen angesprochen, beschränkt sich einer der Kuratoren auf die hinreißende Formulierung "Wir haben kein Budget", und lächelt gelassen. Ach ja, die Schweiz.

Auf dem Weg zurück in die Firmenzentrale passieren wir ein Bahn-Stellwerk, das wie eine riesige Kupferspule aussieht. Früher, typischer HdM. In einer Seitenstraße der Altstadt steht ein Mietshaus, dessen Fassade mit kunstvollen Metall-Reliefs verziert ist. Opus 25 im Werkkatalog, ein echter HdM-Klassiker. Die Idee dieser Reliefs haben die Erbauer für ein Luxus-Appartmentgebäude in New York in anderer Form zitiert, indem sie einen aus Grafitti-Mustern bestehenden Zaun davor errichteten. Neben der Uniklinik macht eine Apotheke mit einer smaragdgrünen Glassfassade schon von weitem auf sich aufmerksam. Als wir die "Spital-Pharmazie Rosetti" passieren, drücken sich zwei Architektur-Fans mit Kamera und Stadtplan buchstäblich die Nase an den Glasscheiben platt, um hinter das Konstruktionsgeheimnis der Aufhängung zu kommen.

Eine extragroße Dosis HdM-Herzblut ist in die Arbeit am St.-Jakob-Stadion, Spitzname: "Joggeli", geflossen. Denn Herzog und de Meuron sind seit ihren gemeinsam verbrachten Kindertagen beinharte Anhänger des FC Basel. Die wabenförmige, von innen beleuchtbare Ummantelung der Außenfassade ist Freunden formschön umbauten Kickens durch die Allianz-Arena vom FC Bayern bekannt. Auch hier gibt es ein kleines, HdM-typisches Gimmick: Unmittelbar neben dem Stadion steht eine Seniorenresidenz, deren Fenster zum Platz in den oberen Etagen großartige Gründe für regelmäßige Besuche von FCB-begeisterten Enkeln bei Opa oder Oma abgeben. Und über Pierre de Meurons Gesicht zieht das verzückte Lächeln eines lebenslangen Fußball-Fans, als der beim Gespräch über seinen Reise- und Terminplan erzählt: "Die FC-Basel-Spiele sind fest im Outlook-Kalender drin."