Es gibt viele Gründe, einen Sexshop zu besuchen. Bloße Neugierde. Wenn der pure Sex zu langweilig geworden ist. Oder als Mutprobe Jugendlicher. Ein Rundgang durch Regale, gefüllt mit Vibratoren und Pornoheften im “World of Sex“ auf der Reeperbahn.

Die Reeperbahn hat gerade angefangen zu leuchten, es ist halb zehn, ein Freitagabend. Sie entfaltet jetzt ihre magnetischen Kräfte, die Massen wälzen von den Haltestellen Reeperbahn und St. Pauli auf die Lustmeile. In ihrer Mitte, ziemlich genau, befindet sich ein Erotik-Fachhandel, das "World of Sex", kurz: WOS. Zwei Häuser weiter ist McDonald's, unzählige Male waren wir da drin. Im WOS noch nie. Heute will ich da rein, schauen. Einfach so. Wie so viele. Gestern bin ich schon hier vorbeigelaufen. Jetzt stehe ich davor, werde angerempelt und schaue verlegen. Ob ein einzelner, junger Mann, dessen Hände in den Hosentaschen stecken, der etwas unsicher in Richtung eines Sexshops blickt, hier auffällt?

Hoffentlich nicht. Ich bleibe erst mal stehen.

Die Minuten verrinnen, keiner scheint Notiz vom WOS zu nehmen, jedenfalls geht keiner rein. Dann bleiben die ersten am Schaufenster stehen, das, aber dies erfahre ich erst ein paar Minuten später, nur ein schwacher Appetizer ist für das, was drin wartet. Reizwäsche und ein paar Sexspielzeuge sind hier zu sehen, Dildos vor allem. Ein paar Landpomeranzen drücken sich die Nasen an der Scheibe platt, und ein Bauernbengel grölt laut: "Boah, ist das geil." Pinneberg, tippe ich. Mittlerweile haben mich zwei Herrschaften von nebenan entdeckt. Dort befindet sich eine Tabledance-Bar. Der Herr und die Dame sind ganz rührig, sie wollen die Kiezgänger zum Besuch ihres Etablissements animieren. Er hat einen dicken Bauch, sie schwere Brüste, die in Richtung Trottoir drängen. Sie sind beide über 50 und haben schon bessere Tage gesehen. "Na, junger Mann, wollen'se büschen Spaß", fragt mich der Herr; "Ja", antworte ich und gehe schnell ins WOS.

Hell hier. Ganz kurz denke ich, ich befände mich in einem Raumschiff. Es glimmert rot, vor allem aber blau. Von der Decke strahlt Licht, an der Wand hängen Bildschirme. Niemand ist zu sehen, ein paar Meter weiter wird es dunkel, ein rotes Tor führt in unbekanntes Land. Links, direkt neben dem Eingang, steht ein Motorrad mit brennendem Licht, und hinter ihm steht eine ganze Armada von DVD-Spielern. Zur anderen Seite hin öffnet sich ein Raum, an dessen Wänden es bunt glänzt.

Dann fällt mein Blick auf einen Penisring.

Er befindet sich an einer Säule, die mir den Weg zu den bunten Wänden versperrt. Er ist nicht allein, sondern in Gesellschaft ganz vieler Ringe. Und anderer sicherlich nützlicher Utensilien. Spanische Liebestropfen, Massageöle, gefühlsechte Kondome, Smartballs, Gleitcremes. Ich schleiche über einen roten Filzboden, er verschluckt meine Schritte. Aber ich gehe ohnehin ganz leise, als wollte ich niemanden stören. Dabei bin ich ganz alleine hier. Meine Augen heften sich an nichts, sie fallen, weil sie keine andere Wahl haben, auf nichts Neues. DVD-Cover allüberall, Frauen, Männer, Körperteile, Verrenkungen, geile Fratzen. Schnell überblicke ich das Sortiment. Ich drehe mich um. Da ist doch jemand, ein Mann mittleren Alters, er sitzt in einem schwarzen Geviert. Vor ihm steht eine Kasse. Er arbeitet hier. Sein Anzug ist zweitklassig, trotzdem geht von ihm eine Aura der vollendeten Diskretion aus, und weil ich nicht aufhöre, ihn zu betrachten, nickt er mir wissend zu. Irgendwie gelangweilt, als wäre er Typen wir mir schon viel zu oft begegnet, mit der blasierten Selbstgewissheit dessen, der anders als man selbst ein Heimspiel hat. Er kennt sich hier aus. Neben ihm, auf dem schwarzen Resopaltresen, liegt eine blaue Pallmall-Packung. Kalter Rauch hängt in der Luft. Der Mann sieht graugesichtig aus, zwischen Oberlippe und Nase steht ein Pornobalken. Nicht ganz so buschig wie bei Harry Reems, dem Hauptdarsteller in "Deep Throat", aber doch ganz anständig, denke ich und beschließe, den Verkäufer "Harry" zu nennen.

Ich setze meine Erkundungsreise im Reich der Lust fort. Die Regale sind vollgepackt. Was sie tragen, ist eine Demonstration des Senkrechten, eine Ausstellung der Vertikalen, eine phallische Feier des Immergleichen. Dildos. Vibratoren. In allen Farben und Größen. Formenvielfalt aus der "Fun Factory", so heißt der Hersteller, wie mir die Verpackung verrät. Ein Paar betritt den Sexshop, unscheinbar alle beide, sie schaut schüchtern, er schon etwas kecker. Ich gehe ihnen aus dem Weg. Neugierig inspizieren sie das Dildo-Sortiment. Dabei greift das Prinzip Sexshop: kurz gucken, schnell weitergehen. Kichern. Mit großen Augen und flüsternd an den Regalen entlanglaufen. Mal cool tun, abgeklärt: alles schon gesehen. Der Sexconnaisseur kennt doch seine Spielzeuge! Dann aber auch verwundertes Nachfragen. Das Paar stammt aus Hessen, sie will wissen: "Was ist das, der Geh-Bereich?" Ja, was ist das, wundere ich mich auch, dann sehe ich das Schild: "Gay" steht drauf. Alles klar.

Sie sind jetzt bei den Filmen. Ich auch. Auf den Titeln finden sich tausendundein Synonyme für Geschlechtsverkehr, nur "miteinander schlafen" oder "Liebe machen" steht nirgendwo drauf.

Harry liest den "Kicker". Ich frage ihn, wie das so ist, den ganzen Tag in Gesellschaft von unzähligen Dildos zu verbringen. Gut, ich frage ihn das nur in Gedanken. Tatsächlich frage ich ihn, ob das Geschäft unter der Konkurrenz des Internets leidet. Wer kauft schon Pornohefte, wenn er im Netz alles umsonst haben kann. "Nein, das Geschäft leidet nicht", sagt er, "sonst würden wir den Laden dichtmachen." Harry hat augenscheinlich keine Lust, sich zu unterhalten.

Die Zeitschriften pflegen allesamt die Kultur des Nacktseins, durchaus nicht auf zurückhaltende Art und Weise. Ich entdecke den "Playboy".

Ach, "Playboy"!

Ich muss jetzt an ein aufregendes sexuelles Erweckungserlebnis denken, wir waren 14. Mein Bruder, Daniel, Dirk, ich. Unsere Eltern waren im Urlaub, meine Oma passte auf uns auf. Wir stahlen uns abends davon und fuhren in die Stadt, Zeit totschlagen. Auf dem Rückweg hielten wir mit klopfendem Herzen an der BP-Tanke in Speyer-West. Pamela Anderson war im "Playboy", wir kauften ihn. Zu Hause blätterten wir ihn durch, immer wieder. "Wer nimmt ihn denn an sich?", fragte Daniel irgendwann in die Runde, er musste nach Hause. Alle schwiegen. "Ich pass auf ihn auf", sagte ich hastig, nahm ihn und versteckte ihn zwischen meinen "Kicker"-Heften. Wir haben also eine Gemeinsamkeit, Harry und ich.

Ich atme tief durch und gehe durch das rote Tor. Mein Gott, ist das lächerlich. Hier ist das Reich der sagenumwobenen Sexkabinen, die bestimmt von den vielen DVD-Spielern im Eingangsbereich beliefert werden. Ein Bildschirm, ein Sessel, ein Aschenbecher in einer Halterung. Die Dreieinigkeit des Erotikfilmliebhabers, so sieht sie also aus. Ob ich mal kurz Platz nehmen darf, Harry sieht's ja nicht? Lieber nicht, entscheide ich, am Ende fängt plötzlich noch, gleichsam wie auf Knopfdruck, ein Film an. Es ist jetzt ein bisschen voller geworden. Harry steht, das kann er am besten, diskret im Hintergrund, auf den flachen Bildschirmen an den Wänden wird kopuliert. Eine junge Frau besieht sich, darin wirklich äußerst konzentriert, Dildos und Vibratoren. Sie schaut in meine Richtung, ich weg. Vermutlich werde ich rot. Sie nimmt eine Packung, ich will gar nicht sehen, welche, und geht zur Kasse.

Erstaunlich, denke ich, wie selbstverständlich sie Dildo-Shopping macht. Am Eingang steht ein reifer Herr mit Weste und Rucksack. Unmittelbar vor, nein: auf der Türschwelle. Er traut sich nicht hinein. Er reckt seinen Oberkörper so weit vor, dass er fast das Gleichgewicht verliert, dann zieht ihn eine Frau, es wird seine sein, mit genervtem Blick weg. Ich mache noch einmal meine Runde durch das WOS, mittlerweile beäugt mich Harry argwöhnisch. Ich falle auf. Ich bin schon zu lange hier, ich muss irgendwas tun. Zwei Kunden, oder besser: Besucher, zumindest an diesem Freitagabend kauft kaum jemand etwas, gaffen mich an.

Ich halte gerade einen rosafarbenen Dildo in meiner Hand, als wäre es das Sinnvollste, was man überhaupt auf dieser Welt tun kann.

Ich zucke mit den Schultern, stelle das Teil zurück und beschließe zu gehen. Harry würdigt mich keines Blickes mehr, ich bin wieder auf der Reeperbahn. Eine Schulter stößt mich, dann noch eine. Ich werde mitgerissen im Strom der Party People.