Im Sommer 1969 war unsere Abendblatt-Kollegin Armgard Seegers 15 Jahre alt und fuhr mit Freunden im Auto in Richtung Woodstock. Sie kamen nie an. Es gab zu viele Gleichgesinnte auf den Straßen. Den Summer of Love erlebte sie trotzdem.

Woodstock, was war das eigentlich, abseits von Haschisch-Schwaden, langen Haaren, freier Liebe, Musik und feiern, als gäb's kein Morgen? Für die einen war es der Beginn einer Ära, die sich der Verbesserung der Lebensbedingungen auf der Erde widmen sollte. Zyniker behaupten, es war das angemessene Ende einer naiven Epoche. Und dann gibt es all jene, für die Woodstock einfach eine gigantische Party war, die größte, längste und bekannteste, die die Welt je gesehen hat. Ich hänge dem Partygedanken an. Obwohl ich nur fast dabei gewesen bin.

Im Sommer 1969 lebte ich in den USA, in Barrington, Rhode Island an der Ostküste. Einem 20 000-Einwohner-Ort, der mit seinen viktorianischen Villen, seinen weißen Holzhäusern mit roten Dächern, den grünen Wiesen und dem blauen Meer so frisch gewaschen aussah wie eine neu gekaufte amerikanische Flagge. CNN hat diesen Ort als "all-around winner" eingeordnet, als sechst-schönsten der USA, "the all American town". Es war die Zeit der Hippies, der Musik, na ja und die Zeit von allem, was so dazugehört. Mit der Rhode Island School of Design hatten wir jede Menge coole Studenten im Ort. Das Wetter war immer schön, und einen Strand gab es auch. Das schicke Newport war nicht weit.

Ein amerikanischer Sommer, noch dazu wenn man 15 Jahre alt ist, ist das Schönste auf der Welt. Man war frei, frei, frei. Wir glaubten, der Sommer würde niemals enden. Man hat knapp drei Monate Ferien, von Anfang Juni bis Anfang September, man lebt draußen und kann mit seinen Freunden jede Menge Blödsinn erleben. So viel Blödsinn, dass irgendwann Langeweile aufkommt.

Da traf es sich gut, dass man in diesem Sommer in allen szenewichtigen Publikationen der USA eine Anzeige über eine Art Happening lesen konnte. Nicht ich hatte sie gelesen, sondern die Älteren, die, die schon Auto fahren durften und nicht mehr sagen mussten, um wie viel Uhr sie zu Hause sein würden. "Geht doch mal drei Tage lang spazieren," stand da "ohne einen Wolkenkratzer oder eine Verkehrsampel zu sehen. Lasst einen Drachen steigen, legt euch in die Sonne. Kocht euch das Essen selber und atmet saubere Luft. Zeltet draußen: Wasser und Toiletten sind vorhanden. Zelte und Campingartikel gibt es im Campinggeschäft." Es klang wie eine Verheißung für alle, die jung und abenteuerhungrig waren.

Dass es an den drei Tagen vom 15. bis 17. August auch um Musik gehen würde, erschien den Veranstaltern eher als Nebensache. Uns lockte es umso mehr. "Es sollte eben von Anfang an mehr als ein Konzert sein - ein Stammestreffen, eine Kirchenversammlung, eine Manifestation des gerade angebrochenen Wassermann-Zeitalters, mithin eine Messe und Leistungsschau der kontemporären Gegenkultur: ",Woodstock Music & Art Fair presents An Aquarian Exposition in White Lake, NY', steht da und unter dem Hippie-Piktogramm noch etwas deutlicher, was hier zu erwarten ist: '3 Days of Peace and Music'", schreibt Frank Schäfer in seinem Buch "Woodstock 69" (Residenz-Verlag). Woodstock war seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Künstlerkolonie, ein kleiner Ort mit knapp 5000 Einwohnern, der Maler, Musiker, Autoren und Schrifsteller angezogen hatte.

Einer aus meinem Freundeskreis hatte dann die Idee: "Da müssen wir hin." Schließlich war Woodstock, wo der Farmer Max Yasgur seine Wiesen für das Festival zur Verfügung gestellt hatte, nur gute drei Stunden von uns entfernt, Upstate NewYork. Leider hatten die Idee wohl auch 500 000 andere junge Menschen. Aber das wussten wir damals noch nicht.

Zunächst einmal galt es, eine gute Ausrede für die Eltern zu finden, warum man drei Tage lang nicht nach Hause kommen würde. Offiziell übernachtete man bei der Freundin. Dann gab es glücklicherweise einen Freund, der den Pick-up Truck seines Vaters leihen konnte. So ein Auto, bei dem man nur im Führerhäuschen sitzen kann, wo es aber auf der Ladefläche viel Platz zum Herumlungern für jede Menge Freunde gibt. Waren wir sieben, neun oder elf? Ich erinnere mich nicht mehr. Wir fuhren los ohne viel Gepäck oder auch nur einen Gedanken daran, wo wir übernachten und was wir essen wollten. Das wäre ja spießig gewesen. Schließlich wollten wir etwas erleben. Schlafen und essen zählten nicht dazu. Hinten auf der Ladefläche zwischen uns war ein Fass Bier, das einer mitgebracht hatte, der Geschwister hatte, die schon über 21 waren. Genug zu rauchen war auch da. Und kleine Glücksbringer in Pillenform. Was wollte man mehr?

Wir fuhren am Nachmittag des 15. August los. Natürlich wussten wir nicht, dass schon am 14. August 25 000 Menschen in Woodstock campierten, dort Kinderspielplätze und Souvenirstände mit handgewebten Gürteln oder Stirnbändern aufgebaut waren. Und dass sich an diesem Tag bereits zehn Meilen vor Woodstock ein Stau gebildet hatte. Dass schon da so viele Menschen auf das Gelände stürmten und von Kassenhäuschen weit und breit nichts zu sehen war. Ursprünglich war Woodstock als kommerzielles Unternehmen geplant. Der 25-jährige Musikproduzent und Konzertveranstalter Michael Lang wollte damit unter anderem sein Aufnahmestudio finanzieren. Sechs Dollar hatten die Karten im Vorverkauf gekostet, später acht. Aber wer keine Karte hatte, kam eben auch rein. So viel zum kommerziellen Unternehmen.

Die Musik begann in Woodstock am 15. August um 17:06 Uhr, und sie endete am Morgen des 18. August. Aber auch das sollten wir alle erst viel später erfahren.

Kaum waren wir an diesem Freitag eine Stunde gefahren, standen wir im Stau. Machte ja nix. Dank der Rauchutensilien war die Stimmung hinten auf dem Pick-up bereits deutlich vorangeschritten. Es vergingen Stunden, in denen wir mehr standen als fuhren. Von hinten drängten Tausende von Autos nach. Klar wollten wir weiter zum Konzert. Wer damals nicht die Chance hätte nutzen wollen, Jimi Hendrix, Janis Joplin oder Santana live zu hören, musste einer anderen Generation angehören. Aber hier auf dem Highway mit lauter Gleichgesinnten, die so aussahen wie wir - lange Haare, Walle-Klamotten, braungebrannt und barfuß - war's eigentlich auch ganz lustig. Man stieg aus, setzte sich zu den anderen ins Gras, teilte, was man hatte, trank, rauchte und aß irgendetwas und fühlte sich großartig. Eigentlich schon angekommen. Da machte es auch nichts, dass wir Richie Havens in Woodstock schon versäumt hatten. Die wirklich aufregenden Bands und Interpreten sollten mit Sly and the Familiy Stone, The Who und Jefferson Airplane sowieso erst am zweiten und mit Joe Cocker, Ten Years After und Crosby, Stills, Nash and Young am dritten Tag kommen.

Irgendwann wollten wir weiter. Da aber nie alle Autos gleichzeitig besetzt waren, ging es nur im Schritttempo vorwärts. Nachdem wir sechs Stunden auf der Autobahn gewesen waren (gefühlte zwei Tage) und der eine oder andere die Auswirkungen des zuvor Konsumierten heftig spürte (gefühlte vier Joints oder 18 Bier oder 2 Pillen), schlug jemand vor, wir sollten umdrehen. "Bist Du verrückt", war die Antwort. Stunden später versuchten wir dann auf dem Grünstreifen des überfüllten Highway zu wenden. Wie viele andere auch. Irgendwann am frühen Samstagmorgen waren wir wieder zu Hause. Auf dem Pick-up Truck stehen konnte schon lange keiner mehr. Die Haare waren zu einem stacheligen Knäuel zerzaust und der Fahrtwind hatte das Gesicht in eine Fläche verwandelt, die sich nach Sandgebläse anfühlte. Wir legten uns noch bis zum Vormittag anden Strand, um dann völlig übernächtigt nach Hause zu gehen, mit irgend einer Entschuldigung wie : "Die Mutter der Freundin hat uns rausgeschmissen. Wegen einer Familienfeier."

Tage später hörten wir, wie es in Woodstock gewesen war. Dass viel zu viele dort gewesen seien. Zu viele für das wenige Essen, das man kaufen konnte, die wenigen Toiletten, Duschen oder Zelte. Und dass es überall nach Müll gestunken hatte. Dass man keine Band hätte sehen können, dass es pausenlos geregnet habe, und deshalb alles dreckig und im Matsch versunken war. Zwei Tote soll es gegeben haben. Und zwei Geburten. Und Jimi Hendrix hatte bis Montag früh um zehn gespielt.

Ein Jahr später erschien dann der dreieinhalbstündige "Woodstock"-Film, an dem 20 Kameraleute mitgewirkt haben. Da konnte man alles sehen, was keiner, der dort gewesen ist, gesehen hat. Er ist ein großartiges Dokument über das Lebensgefühl einer Generation, die heute noch lange Haare mag und Musik. Und, na ja, alles andere, was da so dazugehört.

Obwohl ich nicht in Woodstock war, fühlte ich mich trotzdem, als wäre ich dabei gewesen.

Armgard Seegers Literaturtipp für alle, die nicht dabei waren. Eine Chronik mit großen Bildern: Mike Evans, "Woodstock", Collection Rolf Heyne, 288 S., 39,90 Euro