Jedes Wochenende steigen Zehntausende Menschen in Mecklenburg-Vorpommern in die Bahn, die sie zu ihrer Arbeit bringt: Pendler, die in Hamburg und Umgebung einen Job haben. Erlebnisse aus dem Regionalexpress.

Meine Damen und Herren, auf Gleis sieben fährt ein der Regionalexpress eins von Hamburg Hauptbahnhof. Dieser Zug fährt als Regionalexpress eins zurück nach Hamburg Hauptbahnhof, Abfahrt 17 Uhr sieben. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt."

Ein Ruck geht durch die Menschenmenge, kaum, dass die Lautsprecherstimme den Bahnsteig beschallt. Alle greifen hastig nach Koffern und Taschen. Die Massen schieben sich nach vorn bis an den Rand des Bahnsteigs. Kein Schubsen, nur ein gemächliches Schieben. Und doch scheint es reiner Zufall, dass keiner im Gleisbett landet. Bloß niemanden vorbeilassen!

Hunderte Augenpaare starren auf den roten Punkt in der Ferne. Je näher er kommt, desto spürbarer wird die Unruhe. Die Wartenden rücken noch näher nach vorn, ungeduldig und angespannt. Wer wird einen Sitzplatz bekommen? Der Zug fährt ein. Die Menge teilt sich, bildet pulsierende Trauben vor den Türen. Nur eine schmale Gasse bleibt den Aussteigenden. Gerade so breit, dass sich keiner der Wartenden vordrängeln kann.

Der Zug kommt zum Stehen, Lisa Wünsch steht direkt vor einer Tür. "Ein richtiges Glücksgefühl", sagt die Rostockerin, die seit einem Jahr in Hamburg eine Ausbildung zur Kauffrau im Gesundheitswesen macht. Sie ist Fernpendlerin. So werden jene Erwerbstätigen bezeichnet, die mehr als 50 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt arbeiten.

Jedes zweite Wochenende fährt sie nach Hause zu ihren Eltern. Jetzt geht es wieder zurück, gen Westen. Dorthin, wo die Arbeit ist.

In der ersten Zeit, als sie im neuen Umfeld noch fremdelte, kam sie sogar jedes Wochenende nach Hause. Mittlerweile, sagt sie, habe sie sich aber in Hamburg eingelebt und neue Freundschaften geschlossen. Sie ist froh, eine gute Ausbildungsstelle bekommen zu haben. 30 Bewerbungen hatte sie geschrieben, bis es endlich geklappt hat. In Rostock hatte die 20-Jährige keine Chance auf Arbeit. Damit hatte sie auch nicht gerechnet. Aber wenigstens im Norden wollte sie bleiben. Hamburg ist eine gute Alternative, wenn man schon seine Heimat verlassen muss. Viele junge Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern zieht es zum Arbeiten in die Hansestadt an der Elbe. Wie viele es wirklich sind, wird von keiner Statistik erfasst. Doch es müssen Zehntausende sein. Und es scheint, als träfen sie alle sich am Sonntagabend auf dem Rostocker Hauptbahnhof, um im überfüllten Regionalexpress nach Hamburg zu fahren.

Lisa Wünsch hat noch mal Glück. Sie kann einen Vierersitz besetzen, für sich und zwei andere junge Frauen, mit denen sie sich das Mecklenburg-Vorpommern-Ticket teilt. Ihre Reisetasche, nicht allzu groß, muss sie unter ihren Sitz schieben. Auf der Ablage über ihr wäre gerade mal Platz für einen Aktenkoffer. Und so stehen viele schwere Koffer und Rucksäcke in den Abteilen im Weg und blockieren die Gänge.

Die Fahrkarte kostet 26 Euro, fünf Leute können damit fahren. Auf dem Vierer gegenüber haben zwei weitere Pendlerinnen Platz genommen. 5,20 Euro für jeden - ein guter Preis. "Schade, dass der Regionalexpress nur alle zwei Stunden fährt und deswegen immer sehr voll ist", sagt Lisa Wünsch. Wer Pech hat, muss die komplette Fahrtzeit, gemäß Fahrplan zwei Stunden und 17 Minuten, stehen bleiben oder bestenfalls auf dem Boden hocken. Verspätungen nicht mitgerechnet. Und die sind bei der Deutschen Bahn beinah planmäßig.

Mit dem Intercity ginge es natürlich schneller ans Ziel. 27 Minuten früher würden die Frauen ihr Ziel erreichen. Diese Fahrkarte aber kostet 40 Euro - zu viel für ein schmales Ausbildungsgehalt. Da nehmen sie lieber 18 Stopps in beinahe jedem Dorf und das Gerangel um die Sitzplätze in Kauf. Und dass das Wochenende sehr kurz geworden ist.

"Der Sonntag war früher ein Tag, an dem ich mich entspannen konnte", sagt Lisa Wünsch. Heute ist er nur noch der Tag der Abreise. Ein Tag, an dem sie sich nichts mehr vornehmen kann, keine Pläne mehr hat. Der Sonntag fühlt sich nicht mehr an wie Wochenende.

Viele Eltern bringen ihre Töchter und Söhne sonntags zum Bahnhof und holen sie Freitagabend wieder ab. Auch Lisas Eltern. Das fällt ihnen nicht leicht. Aber sie gewöhnen sich daran. Wenigstens sind noch nicht alle Kinder aus dem Haus. Die beiden Jüngeren gehen noch zur Schule. Das Pendeln bleibt ihnen noch ein paar Jahre erspart. "So schlimm ist das gar nicht", sagt die junge Frau. In einem Bundesland, in dem nach einer Statistik fast jeder vierte Einwohner unterhalb der Armutsschwelle lebt, ist die Fahrerei nicht das größte Übel. Lisa will nicht zu den 14,1 Prozent Arbeitslosen ihres Landes gehören. "Außerdem ist Hamburg eine tolle Stadt. Der Job macht Spaß, und die Kollegen sind nett", sagt die Frau mit dem blonden langen Haaren und den strahlend blauen Augen. Und die Zugverbindung sei ja eigentlich auch ganz gut.

Anja Waterstradt und Jacqueline Hacker können diese Einschätzung bestätigen. Die drei haben sich vor Monaten auf dem Bahnsteig kennengelernt. Seitdem fahren sie gemeinsam nach Westen und zurück. Telefonnummern haben sie noch nicht ausgetauscht. Nicht nötig. Es ist sowieso klar: gleiche Zeit, gleicher Ort. Wer da ist, fährt mit.

Anja Waterstradt kommt jedes Wochenende nach Hause. Ihr Zuhause ist Rostock. Obwohl sie schon ein Jahr in Kaltenkirchen im Kreis Segeberg wohnt, weil sie dort eine Stelle als Technische Zeichnerin gefunden hat. Aber es ist schwierig, in einer Kleinstadt Kontakte zu knüpfen. Viel unternehmen könne sie da nicht. Kaltenkirchen ist eben nicht Hamburg. Das bekommt sie sonntags oft zu spüren. Immer dann, wenn sie mal wieder ihren planmäßigen Anschlusszug der Eisenbahn Altona-Kaltenkirchen-Neumünster (AKN) verpasst hat, weil der Regionalexpress Verspätung hatte. Auf die nächste AKN muss sie dann 40 Minuten warten. Und ist erst um halb zehn angekommen.

"In einem Jahr habe ich meine Anschlussbahn zehnmal pünktlich bekommen", resümiert die 21-Jährige und lacht. Erholsam ist so ein Wochenende längst nicht mehr. Freitagabend ist sie zu geschafft, um noch Verabredungen treffen zu können. Freunde trifft sie nur noch sonnabends. Und am Sonntag schläft Anja Waterstradt aus, isst zu Mittag, hat noch ein paar Stunden mit ihrer Familie, bevor sie wieder zum Bahnhof muss. Eine karge Routine. Ihre gute Laune hat sie sich trotzdem bewahrt.

Mobilität erzeugt Stress. Zu diesem Ergebnis ist Norbert Schneider gekommen. Der Mainzer Soziologe hat Fernpendler und Wochenendheimfahrer befragt und fand heraus: Wer weite Strecken zur Arbeit zurücklegen muss, wird in seiner Gesundheit, seinem Wohlbefinden und seinem Familienleben eingeschränkt. Das gilt auch für wöchentliche Pendler.

Und doch ist die stundenlange Fahrt zur Arbeit für viele zum Normalfall geworden. "Ich kenne es nicht anders", sagt Anja Waterstradt. "Mein Vater arbeitet vier Wochen am Stück in Norwegen, immer auf verschiedenen Baustellen. Dann ist er eine Woche zu Hause." Das macht er seit fünf Jahren. Hauptsache Arbeit. Das findet auch Anja Waterstradt. Wenn ihre Kollegen auch noch freundlich sind und ihr der Job Spaß macht, empfindet sie das als Bonus. "Wenn es auch noch in Rostock wäre, wäre es perfekt", sagt sie.

Aus der Studie des Soziologischen Instituts der Universität Mainz geht auch hervor, dass Deutsche im Vergleich zu anderen Europäern mobiler sind, wenn es der Job erfordert. Allerdings bedeute Mobilität heute nicht mehr den Aufstieg auf der Karriereleiter, wie noch vor einigen Jahren. Die Flexibilität diene vielmehr dazu, den sozialen Abstieg zu verhindern. Frauen sind mobiler als Männer, vorausgesetzt sie haben keine Kinder. Besonders junge Frauen aus dem Osten zieht es zum Arbeiten in die alten Bundesländer.

"Wenn du aus einer Kleinstadt wie Tribsees kommst, hast du die Wahl: Entweder du arbeitest bei Aldi oder im Lidl", beschreibt Dörte Klabunde die Lage in ihrem Heimatstädtchen. Wer mehr aus seinem Leben machen möchte, muss eben gehen. Das hat die 23-jährige Mecklenburgerin getan. Vor sechs Jahren wechselte sie nach Hamburg, um sich zur Pharmazeutisch-kaufmännischen Angestellten ausbilden zu lassen. Mittlerweile macht sie noch eine zweite Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin.

Etwas Vernünftiges lernen, um eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu haben, das will auch Jacqueline Hacker. Sie hätte ihr Praktikum durchaus in Rostock machen können, wo sie die schulische Ausbildung absolviert. Aber die angehende Medizinische Dokumentarin hat sich anders entschieden. Sie geht nicht den leichten Weg, sondern sucht die berufliche Herausforderung. Die hat sie an einem Hamburger Forschungsinstitut gefunden. Und dafür pendelt sie gern. Schon seit einem halben Jahr. "Freunde und Familie müssen da eben zurückstecken", sagt die 19-Jährige und blickt aus dem Zugfenster. Man muss Prioritäten setzen.

Der Zug hat mittlerweile den Schweriner Hauptbahnhof erreicht. Draußen stehen viele Menschen. Sehr viele Menschen, mehr als an anderen Sonntagen. Die meisten sind zur Buga, der Bundesgartenschau, in die Landeshauptstadt gekommen und wollen nun wieder nach Hause. Sie heben den Altersdurchschnitt der Passagiere im Regionalexpress erheblich. Bis hierher waren es überwiegend jüngere Frauen, die aus beruflichen Gründen die weite Reise nach Hamburg auf sich nehmen. Vor allem junge, qualifizierte Frauen, zwischen 18 und 29 Jahre alt.

Und wer dachte, der Zug sei bereits überfüllt, wird nun eines Besseren belehrt. An ein Durchkommen ist nicht mehr zu denken. Jeder muss da stehen bleiben, wo er eingestiegen ist. Auf einem Bildschirm leuchtet die Werbung für das Länderticket auf: "Raus aus dem Alltag - rein ins Erlebnis". Netter Scherz. Aber tatsächlich erlebt der Fahrgast bei der Deutschen Bahn hier noch etwas. Ob er will oder nicht. Vom Bahnpersonal ist allerdings nichts zu sehen, die Karten werden nicht kontrolliert. Es scheint, dass die Zugbegleiter Erlebnisse in dem Gedränge scheuen.

Ella Podgayets und ihr Mann Vsevolog Zharikov konnten noch einen Sitzplatz auf der Treppe ergattern. Kaum angemessen für 75-Jährige. Aber niemand steht auf, um ihnen einen Platz anzubieten. Das Ehepaar, das aus der Ukraine nach Hamburg gezogen ist, war auf der Buga. Da die beiden auf Sozialhilfe angewiesen sind, können sie sich den IC nicht leisten. Der Ausflug habe ihnen trotzdem sehr gefallen, sagt Ella Podgayets. Ihr Mann verbiegt sich noch einmal zur Seite, um einer jungen Frau Platz zu machen, die aussteigen will. Wer das schon vor Hamburg vorhat, sollte frühzeitig aufstehen und sich in Richtung Ausgang durchkämpfen.

Die Reisenden stehen mit leeren Gesichtern in den Gängen, krallen sich irgendwo fest und hoffen darauf, dass die Fahrt schnell vorübergeht. Einige lenken sich mit einem Buch ab oder lassen sich von ihrem iPod berieseln. Es ist heiß, die Luft ist verbraucht. Die Klimaanlage arbeitet nur in den Abteilen, nicht in den Räumen dazwischen. Kaum jemand unterhält sich. Die meisten haben sich mit der Situation abgefunden. Zu oft haben sie das erlebt, als dass sie sich darüber noch aufregen könnten.

Martin Wolter erzählt, er habe es schon erlebt, dass Leute auf dem Bahnsteig zurückbleiben mussten, weil der Zug überfüllt war. "Warum hängt die Bahn nicht einfach einen Waggon an?", fragt der 22-jährige Bundeswehr-Zeitsoldat. Er ist in Hagenow Land zugestiegen und muss in Büchen wieder aussteigen, um über Lübeck an seinen Standort Oldenburg in Holstein zu kommen.

Auf seine Frage ist das Unternehmen vorbereitet. "Kein Zug soll länger sein als der kürzeste Bahnsteig auf der gesamten Strecke, damit Reisende in Kleinbahnhöfen nicht auf dem Schotter aussteigen", heißt es auf der Internetseite der Bahn. Und weiter: "Fernzüge auf viel genutzten Strecken haben meist ohnehin schon maximale Länge. Dann helfen nur Entlastungszüge. Zum einen ist die Anzahl dieser Züge begrenzt. Zum anderen lassen die Kapazitäten von Strecken und Bahnhöfen solche Züge oft nicht zu. Das Netz der Bahn ist das am dichtesten befahrene der Welt. Auf manchen Strecken sind die Verbindungen schon so eng vertaktet, dass gar kein weiterer Zug mehr zusätzlich fahren kann." Klingt technokratisch, aber plausibel. Und doch macht es die Fahrt im RE 33014 nicht erträglicher.

Immerhin hat die Bahn auf sogenannte Fans, die gern mal grölend und angetrunken zu Fußballspielen fahren, reagiert und die Meute kurzerhand in die letzten beiden Wagen verbannt. Das schont die Nerven der anderen Fahrgäste. Noch hat die Bundesliga Sommerpause, andere Massenveranstaltungen stehen an diesem Wochenende auch nicht an. Großveranstaltungen bedeuten Lärm, Aggressionen und Stress. Das wissen auch Lisa Wünsch, Anja Waterstradt und Jacqueline Hacker. Am nächsten Wochenende ist die "Force Attack" angesetzt, eine Punkerparty. "Da bleiben wir in Hamburg", beschließen die drei.

Dann steigen sie aus. Der Regionalexpress eins hat den Hamburger Hauptbahnhof erreicht, zuverlässige 20 Minuten zu spät.