Im Stall in Bethlehem geboren? In die Krippe gelegt? Alles Unsinn, sagen Forscher, und bleiben Jesus aus Nazareth und seinen Brüdern auf der Fährte. Eine Spurensuche.

Oxford hat Weihnachten kurzerhand abgeschafft. Um andere Religionsgemeinschaften nicht zu verletzen, hat das Stadtparlament jetzt beschlossen, am 25. Dezember anstelle von Weihnachten ein winterliches "Lichterfest" zu feiern. Das Wort "Christmas" werde aus dem dortigen Weihnachtsfestival getilgt, heißt es. Ein "Winterlicht-Festival" schließe nämlich alle Menschen ein. Gleich, welcher Religion. Die Behördenwillkür hatte, welch Wunder, laute Proteste zur Folge. Nicht nur Christen, auch Juden und Muslime kritisierten den Beschluss heftig. Sie freuten sich schließlich ebenfalls auf Weihnachten, ließ ein Sprecher des Muslimischen Rates von Oxford wissen.

Weihnachten abschaffen? Um Gottes willen. Mehr als zwei Milliarden Menschen feiern auf der ganzen Welt auch in diesem Jahr wieder die Geburt von Jesus. Sie tun das seit nunmehr fast 2000 Jahren. Sie beten und singen, gehen in die Kirchen und beschenken sich fröhlich. Sie zünden die Kerzen am Tannenbaum an und hören die Weihnachtsgeschichte vom Christuskind in der Krippe. Dieser Jesus von Nazareth, von dem viele glauben, er sei Gottes Sohn, hat ja nicht nur unsere Zeitrechnung begründet. Das Kind im Stall hat den damals herrschenden mächtigen Kaiser Augustus von Rom zu einer Randfigur der Weltgeschichte gemacht. Der Wanderprediger aus Galiläa, der nichts Schriftliches hinterlassen hat und dennoch allüberall Künstler zu großartigen Werken in Architektur, Musik und darstellender Kunst animierte, hat über zwei Jahrtausende hinweg nichts von seiner Faszination eingebüßt. Er wurde zum bekanntesten Menschen auf dem Globus. Und dennoch zerbrechen sich unzählige Forscher den Kopf über die Frage: Wer war dieser Jesus wirklich? Spurensuche in Heidelberg. Das Arbeitszimmer von Gerd Theißen trägt seinen Namen ganz offensichtlich zu Recht. Drei Wände bis unter die Decke voller Bücher, der große Schreibtisch des Professors für Neues Testament an der Universität Heidelberg macht einen zerstreuten Eindruck. Der 65-Jährige hat sich vor 22 Jahren einmal kurz von der historischen Jesusforschung gelöst und einen spannenden sowie gleichzeitig lehrreichen Roman geschrieben. "Der Schatten des Galiläers", mittlerweile mehr als 100 000 mal verkauft und in 15 Sprachen übersetzt, handelt von dem jungen Juden Andreas, der vom römischen Statthalter Pilatus dazu erpresst wird, belastendes Material über neue religiöse Bewegungen in Palästina zu sammeln. Dabei stößt er schnell auf Jesus und reist ihm hinterher. "Nie bin ich Jesus begegnet. Überall fand ich nur Spuren von ihm: Anekdoten und Erzählungen, Überlieferungen und Gerüchte", lässt Theißen den Juden Andreas sagen. Und an anderer Stelle: "Was war das für ein Mensch? Ein Asket? Ein Prophet wie der Täufer? Ein Spinner? Ein Terrorist?"

Natürlich hat auch Theißen keine eindeutige Antwort. Der evangelische Theologe ist ja selbst seit mehr als 40 Jahren, seit er 1968 mit Untersuchungen zum Hebräerbrief promovierte, auf der Suche. Mit welchem Ergebnis? Macht sich nicht jeder Forscher, je nach eigenem Standpunkt, ein Bild von Jesus und stellt ihn dann wahlweise als Juden, Revolutionär, Dichter, Lehrer, Superstar, Wunderheiler oder auch Gottessohn dar? Theißen spricht davon, dass es "eine Pluralität der Bilder bei jeder beeindruckenden Person" gegeben habe. Aus vorhandenen Texten werde in ihrer Wirkungsgeschichte "immer auch etwas Neues", sie seien "Sinnpotenziale", weil der Leser selbst auch "kreativ" ist und nicht nur "passiver Empfänger". Der "moderne Mensch schwankt nicht selten bei seinen Deutungen zwischen Extremen", es gibt "eindeutige wissenschaftliche Grenzen bei der Interpretation, aber immer auch einen Spielraum".

Natürlich gebe es "grobe Verzerrungen", sagt Theißen und nennt die Zeit zwischen 1933 und 1945, als Theologen in Deutschland "einen arischen Jesus, der nicht jüdisch war", schufen. Heute dagegen sei es Konsens, dass "Jesus ins Judentum gehört". Sicher habe jeder seine Brille, aber zum einen lässt einen "eine Brille, die man aufhat, manchmal schärfer sehen". Und zum anderen "sollte man nicht über die Brille diskutieren, sondern darüber, was die Leute damit sehen". Seine Sicht der Dinge hat Theißen zusammen mit Annette Merz in dem Lehrbuch "Der historische Jesus" aufgeschrieben. Und schickt zur Einordnung vorweg: "Wissenschaft sagt nicht: So war es. Sondern: So könnte es aufgrund der Quellen gewesen sein." Für Theißen sind das - neben den vier Evangelisten Markus, Matthäus, Lukas und Johannes - vor allem auch die nicht-christlichen Quellen, die eindeutig Zeugnis ablegten von der Existenz Jesu. Das sei überraschend "bei einer Gestalt, die zu ihrer Zeit völlig am Rand des Weltinteresses stand und erst durch die Wirkungsgeschichte zu dem wurde, was sie heute ist". Theißen nennt den jüdischen Historiker Josephus, der etwa 37/38 nach Christus geboren wurde, in Palästina gelebt hat und Jesus in seiner um 93 n. Chr. erschienenen Weltgeschichte des jüdischen Volkes zweimal erwähnt. Und dabei an der einen Stelle von Jakobus als "Bruder Jesu, der Christus genannt wird" berichtet - eine Stelle, die auch von denen als echt angesehen wird, die bei der anderen Stelle mit einer christlichen Überarbeitung des Josephustextes rechnen. Weiterhin gebe es drei kurze Erwähnungen Christi in den Werken der römischen Schriftsteller Plinius, Tacitus und Sueton. Umstritten ist eine Erwähnung bei dem stoischen Philosophen Serapion, die aber echt sein könnte.

Dazu kämen die Paulus-Briefe, von denen man annimmt, dass "mindestens sieben von ihnen echt sind". Und dann eben auch die vier Evangelisten, bei denen es "historisch wertvolle Widersprüche gibt, sodass nicht einer vom anderen abgeschrieben haben kann". Aber auch nicht so viele Widersprüche, "dass man zu dem Schluss kommen kann, da hat jemand seiner Fantasie völlig freien Lauf gelassen". Theißens Fazit: "Wir haben es bei der Suche nach dem historischen Jesus mit der günstigsten Lage für Historiker zu tun, die man sich vorstellen kann. Nämlich mehrere Quellen, die so wenig miteinander übereinstimmen, dass wir den Verdacht haben, sie sind unabhängig voneinander."

Gelebt hat dieser Jesus also. Das bezweifeln ernsthaft nur wenige Außenseiter wie Georg Albert Wells, der in mehreren Büchern die Meinung vertritt, die ganze Geschichte Jesu hätten Christen erst nach 70 n. Chr. erfunden. Außerchristliche Belege und Evangelien seien keine historisch verlässlichen Quellen, weil sie zu spät entstanden sind. Und die Paulusbriefe seien zwar frühe christliche Zeugnisse, schweigen aber zu Jesu Leben, seinen Wundern und den näheren Umständen seines Todes. Theißen findet, dass man schon "gewaltsam eine ganze Menge Fakten zurechtbiegen muss", um die These vom Jesusmythos zu vertreten. Zum Beispiel sage Paulus ja, dass er den Bruder von Jesus gekannt habe. Dann müsse man "Bruder hier im übertragenden Sinn verstehen".

Nein, da wagt sich Theißen in seinem Buch lieber an eine Kurzbiografie über das Leben von Jesus, eine "Zusammenfassung mit großem Zögern". Danach wurde Jesus kurz vor Ende der Regierungszeit Herodes I. (37-4 v. Chr.) als Sohn des Holz- und Steinarbeiters Joseph und seiner Frau Maria in Nazareth geboren. Er hatte mehrere Brüder und Schwestern. Er muss eine elementare jüdische Bildung besessen haben, lehrte in Synagogen und wurde in der Zeit seines öffentlichen Wirkens "Rabbi" genannt. Als heimatloser Wanderprediger zog er durch Palästina und wählte aus dem einfachen Volk, aus Fischern und Bauern, zwölf Jünger mit Petrus an der Spitze. Gott war für ihn Vater und König. Ein Gott der Güte und eine "ungeheure ethische Energie, die bald zur Rettung der Armen, Schwachen und Kranken die Welt verwandeln werde". Ins Zentrum seiner Ethik rückte Jesus das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, radikalisierte es jedoch zur Verpflichtung, auch die Feinde zu lieben. Unter seinen Worten beeindruckten vor allem die Gleichnisse, kleine poetische Erzählungen, die auch einfachen Menschen zugänglich waren, in denen er ihnen jedoch ein "aristokratisches" Selbstbewusstsein einschärfte. Was ihm schließlich zum Verhängnis wurde.

In seinem Jesus-Roman lässt Theißen Andreas sagen: "Mein Auftrag war es, herauszufinden, ob Jesus ein Sicherheitsrisiko war. Hier gab es keinen Zweifel: Er war ein Risiko. Jeder, der eher seinem Gewissen folgt als Vorschriften und Gesetzen, jeder, der die bestehende Verteilung von Macht und Besitz nicht für endgültig hält, jeder, der kleinen Leuten das Selbstbewusstsein von Fürsten verleiht, ist ein Sicherheitsrisiko."

Jesus ein Sicherheitsrisiko? Für Norbert Scholl, von 1969 bis zur Emeritierung 1996 Professor für katholische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, passt das ins (Jesus-)Bild. In seinem Haus mitten im Wald in Wilhelmsfeld, nördlich von Heidelberg und 500 Meter über dem Neckar gelegen, gibt es Kaffee und "Weihnachtsgebäck aus Schlesien". Der 77-Jährige ist ein kritischer Katholik und die Frage, wie nahe er Jesus im Laufe seines Lebens denn nun gekommen ist, teilt er in zwei Antworten. "Teils ferner, teils näher." Dem offiziellen, päpstlichen Jesus ferner, dem "Jesus von unten" näher. Und in dem Maße, "in dem der eine kleiner geworden ist, habe der andere an Sympathie gewonnen". Der andere, das ist der "unbekannte Mensch aus dem Nest Nazareth, ein Handwerker, der vielleicht anderthalb, höchstens drei Jahre öffentlich gewirkt habe und auf die Menschen in seiner Umgebung eine ungeheuere Faszination ausgeübt haben muss". Warum? "Weil er seine Lehre und seine Person zur Deckung gebracht hat", sagt Scholl. Jesus habe eben nicht etwas gelehrt und dann etwas ganz anderes gelebt. Von wegen Wasser predigen und Wein trinken. Jesus habe "mit letzter Konsequenz seine Lebensbotschaft durchgezogen", er sei "als politischer Aufwiegler zum Tode verurteilt worden". Er wusste, "was ihm blüht und dass die Römer kurzen Prozess machen würden".

Für Scholl, der in den 80er-Jahren auch Texte für Bibel-Comcis ("Der Messias") verfasst hat, ist Jesus "ein Mann voller Lauterkeit, unbestechlicher Wahrhaftigkeit, von gewinnender Güte und einladender Freundlichkeit". Ein Mensch, "bereit zu Versöhnung, zu Frieden und Gewaltlosigkeit". Freund der "Kleinen und Schwachen, der Ohnmächtigen und Benachteiligten". Ein "Befreier, der schonungslos ungerechte Strukturen aufdeckte". Und "kein finsterer Asket", sondern einer "der gelegentlich gut und reichlich gegessen und getrunken hat".

Das passt zum Fest. Auch im Hause Theißen wird so gefeiert wie bei Millionen anderen in Deutschland. "Wir haben zwar die Geschenke abgeschafft, aber bei vier Enkelkindern geht das natürlich nicht." Heiligabend geht es mit der Familie in die Kirche, und natürlich kann er auch "Zu Bethlehem geboren" mitsingen, obwohl das seiner eigenen lebenslangen Forschungsarbeit widerspricht. Und erzählt die Geschichte seines Schwagers, eines Lehrers und Politikers, der ihm vor Jahren zu Weihnachten vorwarf: "Mensch Gerd, ich dachte immer, Jesus ist in Bethlehem geboren worden. Und jetzt lese ich bei dir, das stimmt gar nicht. Du hast mir das ganze Weihnachten verdorben."

Auch Norbert Scholl kann "Ich steh an deiner Krippe hier" wieder "hemmungslos" mitsingen. In den Liedern und Geschichten zu Weihnachten werde nämlich "etwas in Bildern ausgedrückt, was man in großen theologischen Aufsätzen nicht ausdrücken kann". Vor lauter deutscher Weihnachtstümelei übersehe man oft den "Tiefsinn und die Symbolik dieser Menschheitsgeschichte". Theißen spricht davon, dass Jesu Geburt "von Legenden umrankt wird - wie die Geburt von anderen bedeutenden Menschen in der Antike". Aber sie spiele sich "nicht in der oberen Etage ab, sondern bei den Hirten und den Verfolgten, die fliehen müssen, um ihr Leben zu retten". Für ihn lauten die wichtigsten Botschaften, die von Jesus' Geburt ausgingen: "Jeder Mensch hat eine königliche Würde. Konfliktfreie Lösungen sind möglich. Und da, wo Gott erfahren wird, bleiben die Dinge nicht beim Alten."

Für Scholl liegt die Bedeutung des Weihnachtsfestes darin, "dass da einer kam, der gesagt hat, wo es langgeht". Aber die Menschen "haben sich leider nur sehr wenig daran gehalten". Vielleicht sind "die Ziele auch zu hoch gesteckt und schier unerreichbar." Nächstenliebe, Feindesliebe - wo geschieht das denn heutzutage wirklich? "Da müssen wir uns alle sagen, dass wir weit hinter den Ansprüchen zurückbleiben." Und wenn Jesus heute auf die Welt käme? "Dann würde das sicher irgendwo in den Plattenbauten von Berlin-Marzahn passieren", sagt Scholl. "Oder unter den Brücken von Paris." Und dort würde er "großen Zulauf von den Outlaws" kriegen und "sicher sehr bald die Aufmerksamkeit besonders frommer Leute auf sich ziehen. Und sich dann für sein Tun und seine Taten rechtfertigen müssen".